Die Manege ist in warmes Licht gehüllt. Dort, wo das Publikum sitzen müsste, herrscht Dunkelheit. Mystische Musik erklingt, als ein Reiter im roten Überwurf in die Manege prescht. In seiner Hand hält er ein langes, gelbes Tuch, das in der Luft flattert, wie eine Fahne.
Im vollen Galopp senkt er sich ab und legt das Tuch auf den Boden. Kurz darauf jagen vier weitere Reiter in die Manege. Einer von ihnen greift mit einer eleganten Bewegung nach dem Tuch. Dann beginnt die spielerische Hatz.
In der Show geht es laut Moderator um die Heimkehr mongolischer Krieger aus «siegreichen» Schlachten. Der Reiter mit dem roten Überwurf ist Saina. Und es ist seine Geschichte, die die chinesische Regisseurin Xiaoxuan Jiang in ihrem Spielfilmdebüt To Kill a Mongolian Horse erzählt.
Über Sainas Leben greift Jiang grosse Themen auf. Es geht um Klimawandel, Rohstoffindustrie und Landflucht. Dabei wirkt der am Filmfestival in Venedig für das beste Drehbuch und die beste Regie ausgezeichnete Film beeindruckend unaufgeregt.
Festhalten, bevor es verschwindet
Aufgewachsen in den Steppen der Inneren Mongolei, einer Autonomen Region in China, steht der geschiedene Saina zwischen Tradition und Moderne. Er hadert mit beidem und vor allem mit sich selbst. Tagsüber kümmert er sich um den Schafsbetrieb seiner Familie. Trotzdem reicht das Geld nicht aus. Deshalb arbeitet er abends als Showreiter in der Stadt, in der auch seine Ex-Frau mit seinem Sohn lebt.
Die Regisseurin, selbst in der Inneren Mongolei aufgewachsen, adaptierte für ihren ersten Spielfilm das Leben des realen Hirten Saina. Ihn lernte sie bei den Dreharbeiten für ihren Kurzfilm Graveyard of Horses (2022) kennen und seine Geschichte liess sie nicht mehr los. «Ich spürte etwas sehr Vergängliches in ihm», schreibt sie im Pressedossier und dieses Gefühl zieht sich durch den gesamten Film. Jiang will keine Heldengeschichte erzählen, sondern versucht etwas festzuhalten, das im Begriff ist zu verschwinden.
Es blieb dabei nicht nur bei der Inspiration: Jiang besetzte die Rolle des Protagonisten gleich mit dem echten Saina. Auch die übrigen Schauspieler:innen sind Laien. Das mindert die Qualität des Film nicht. Im Gegenteil: Gerade Saina hat eine kraftvolle Präsenz auf der Leinwand – vielleicht deshalb, weil er sich ein Stück weit selbst spielt.
Zwischen Mythos und Realität
Die Ästhetik von To Kill a Mongolian Horse wechselt zwischen beobachtender Zurückhaltung und sinnlicher Verdichtung. Mit kräftigem Blau- und Rotlicht erzeugt Jiang in den wiederkehrenden Showszenen eine mythische Atmosphäre. Diese wird durch das unsichtbare Publikum und die scheinbar endlose Manege noch verstärkt. Die beeindruckenden Aufnahmen der Reitakrobatik machen die Illusion perfekt: Man fühlt sich in eine Zeit der Legenden und Mythen versetzt, in der es vermeintlich noch echte Helden gab.

Eine Fahrt durch die Steppe (Bild: pd/Filmstil)
Diese sinnliche Inszenierung der Reitshow steht in starkem Gegensatz zur sonst eher nüchternen Bildsprache, mit der Jiang Sainas Alltag erzählt. Denn hier verzichtet die Regisseurin mehrheitlich auf Effekte, arbeitet mit offenen Einstellungen und einer reduzierten Dramaturgie. Hin und wieder verleiht sie einer Szene durch Aufnahmen in der Totalen einen Hauch von Western, allerdings ohne in Pathos zu verfallen.
Der weibliche Blick
Sainas Leben als traditioneller Schafhirte ist unmittelbar vom Klimawandel bedroht, der immer längere Dürreperioden mit sich bringt. Die wachsende Rohstoffindustrie verschmutzt Luft und Boden und verdrängt nach und nach die kleinen Landwirtschaftsbetriebe. Die Stadt scheint bald die einzige Chance auf ein halbwegs gesichertes Leben. Für Saina bedeutet das Verschwinden seiner traditionellen Lebensweise nicht nur den Verlust der wirtschaftlichen Lebensgrundlage, sondern auch seiner kulturellen Identität.
Mit Distanz richtet die Regisseurin einen female gaze auf das männlich geprägte Umfeld von Saina. Auf dem Hof seiner Familie ist kein Platz für Rücksicht oder Zuneigung. Die Beziehung zum Vater ist unterkühlt und abweisend. Auch in der Show geht es vor allem darum, stark zu sein: Eine Schulterverletzung hält Saina nicht davon ab, Kunststücke auf einem Pferd zu vollführen.
Durch die geradlinige Narration gelingt es Jiang, diese stereotypen Verhaltensmuster offenzulegen. Sie verzichtet auf dramatische Wendungen und eine Verklärung des Protagonisten. Stattdessen lässt sie immer wieder seine inneren Konflikte und seine Verletzlichkeit durchscheinen. Saina ringt mit seinen Ansprüchen an sich selbst, aber auch mit dem Verschwinden seiner traditionellen Lebensweise. Und es ist gerade das Showreiten, das diesen Zerfall besonders deutlich macht, denn dort sind die Traditionen längst zur Tourismusattraktion verkommen.
To Kill a Mongolian Horse: 30. Juli, 18.30 Uhr, Kinok, St.Gallen. Weitere Vorstellungen bis Ende August.
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