, 27. November 2018
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Was zum Teufel war in diesem Eierlikör?!

Tim Kramer, ehemaliger Schauspieldirektor am Theater St.Gallen, inszeniert in Konstanz das Stück «Ewig Jung». Rock’n’Roll im Altersheim: Was klingt wie die Showeinlage an einem bunten Abend ist dermassen auf die Spitze getrieben, dass es schon wieder gut ist. Selten so gelacht im Theater!

Das Theater wird zum Seniorenheim und die Bühne ist der Gemeinschaftsraum. (Bilder: Bjørn Jansen, Theater Konstanz)

Im Zuschauerraum drängen sich die Theatergäste durch die Sitzreihen, auf der Suche nach ihren Platz. Ein Ehepaar mittleren Alters setzt sich neben mich, dezent elegant gekleidet. Unbeeindruckt von dem Geraschel und Geraune beginnt Schwester Lydia (Lydia Roscher) auf der Bühne mit ihren Vorkehrungen. Sie enthüllt eine wild zusammengewürfelte Sitzgruppe von Sofas und Sesseln aus den letzten fünf Jahrzehnten, wedelt Staub von den in Gold gerahmten Intendantenportraits und befreit auch die Band, die wie das Inventar unter weissen Tüchern eingehüllt ist.

Die Zuschauer tuscheln: Wer ist das jetzt auf diesen Bildern? Die Intendanten? Und wer ist das mit der gelben Brille? Ach, ja, die Neue! Wann fängt sie nochmal an und wie hiess sie noch gleich? «Karin Becker, sie beginnt 2020», informiert mein Sitznachbar dezent genervt und bittet im gleichen Atemzug um Ruhe. Die Vorstellung beginnt.

Schwester Lydia begleitet ihre Patienten auf die Bühne: Anne Simmering, Katrin Huke, André Rohde, Thomas Fritz Jung und Ingo Biermann. Sie spielen sich selbst in 50 Jahren, im Altersheim. Klingt nach einer Showeinlage für einen bunten Abend einer mittelständischen Betriebsfeier. Das denkt sich vermutlich auch mein Sitznachbar: «Ich weiss nicht, ob ich das zwei Stunden durchhalte», flüstert er seiner Frau zu, doch da stimmt die Band schon das erste Lied an, I love Rock’n’Roll. Die dazugehörige Showeinlage erinnert an tanzende YouTube-Omas und ist tatsächlich witzig.

Anne Simmering die Witwe in Schwarz, Katrin Huke die schrille Oma in Türkis, André Rohde im Königsmantel, Thomas Fritz Jung ist der Hippieopa und Ingo Biermann trägt Anzug.

Die Schauspieler inszenieren sich selbst in verschiedenen Facetten des Alters. Frau Simmering ist die schwarze Witwe, in Pelz und mit Alterstourette. «Arschloch», blökt sie Herrn Rohde entgegen, der im Königsmantel mit Plüschhausschuhen auf die Bühne schlapft und loriothafte Halbsätze von sich gibt. Frau Huke adrett im Kostümchen, mit lila Locken und Papageien-Makeup. Sie ist die Gattin von Herrn Biermann, ebenfalls elegant im Anzug, nur leider hinkt das Bein. Und auch Herr Jung ist nicht mehr das, was sein Name verspricht, sondern ein Alt-Hippie, der aussieht, als hätte er noch ein wenig Ei vom Frühstück im Bart (Ausstattung: Gernot Sommerfeld).

Born to be wild, Forever young, Bouna Sera

Immer wenn Schwester Lydia die Bühne verlässt, ist Schluss mit infantilen Klatschliedchen. Dann wird gerockt. Musikalisch geht es dabei von Peter Maffay über Santana kreuz und quer durch die Liste bekannter Evergreens. Dem Quintett gelingt es dabei, den Texten der Lieder einen ganz neuen Sinn zuzuweisen, was unfassbar komisch ist.

«Wenn ich geh, dann geht nur ein Teil von mir» bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn Herr Biermann versucht, sein gelähmtes Bein im Takt zu schwingen. Und die Zeile «Life in plastic, it’s fantastic» aus Barbie-Girl erhält ebenfalls eine Wende, wenn sich Frau Simmering die Prothese dazu festschraubt. Im Minutentakt gibt es immer wieder neue Gags, die teilweise richtig blöd sind, aber eben so blöd, dass es dann doch wieder gut ist.

Ewig Jung:
bis 23. Januar, Theater Konstanz
theaterkonstanz.de

Während ich mich frage, wie man auf so einen bunten Blumenstrauss an Lachnummern kommen kann, wird auf der Bühne Eierlikör serviert und prompt fällt mir einer meiner Lieblingsfilme ein: Montana Sacra – Der Heilige Berg von Alejandro Jodorowsky aus dem Jahr 1973. Der chilenische Regisseur setzte sich selbst und seine Schauspieler vor Drehbeginn mehrere Wochen lang unter Drogen, was als Ideengrundlage des Films genutzt wurde.

Nach LSD sieht es in Ewig Jung nicht aus. Das Stück ist die Weiterentwicklung von Thalia Vista Social Club, das aus der Feder des schwedisch-schweizerischen Theateraustors Erik Gedeon stammt. Aber irgendwas ist in diesem Eierlikör. Und davon will ich auch!

Loriot, Tom und Jerry und Shakespeare

Spätestens wenn sich die Schauspielerinnen und Schauspieler in einer Tom-und-Jerry-Szene jagen oder zu Zombies mutieren, bleibt kein Auge mehr trocken. Und alle erhalten im Lauf des Abends ihren persönlichen Augenblick. Hier erleben wir die Schauspieler neu: eine Frau Huke, die bezauberndste Möwe von allen, eine raue und wilde Frau Simmering, einen strippenden Herrn Biermann (wow!) und einen Herrn Jung, der wieder und wieder versucht, ein bisschen Peace zu verbreiten. Sie demonstrieren Stimmgewalt – nicht zuletzt Schwester Lydia mit ihrer opernhaften Todesarie – und dazu zeigen sie Einfühlungsvermögen.

So sehr das Thema «Altern» hier humoristisch verzerrt wird, es bleibt doch klar, was es alles bedeuten kann: Einsamkeit, Vergesslichkeit, Zorn, Komik, Verrücktheit, Rührung, Liebe, Ernsthaftigkeit, Verzweiflung, Gleichgültigkeit. Als Zuschauer wird man zwischen den vielen Lachern ständig wieder darauf gestossen. Und wer sich über fehlende Theaterdialoge beschweren will, dem wird geholfen: In einem wilden Ritt durch die Dramengeschichte wird auch in diesem Bereich demonstriert, was möglich ist. Hamlet mal ganz anders… Ein Kompliment an Regisseur Tim Kramer, dem der Drahtseilakt zwischen Tragik und Komik gekonnt gelingt, so dass beide Teile ihren angemessenen Raum finden.

Auch musikalisch gibt es einige Überraschungen. Unter der Leitung von Tobias Schwencke zeigt die Band bestehend aus Wolfgang Kehle, Stefan Gansewig, Frank Denzinger, Rudolf Hartmann und Arpi Ketterl ihr Können: Scarborough Fair als Reggae-Version zum Beispiel. Aber auch in allen anderen Genres sind die Musiker des Theaters bestens aufgestellt und erschweren, wie schon in vergangenen Spielzeiten in den Johnny Cash- und Neil Young-Stücken, das Stillsitzen.

Am Ende rekapituliert Herr Rohde noch einmal die Message des Stücks in einem Plädoyer an das Leben und entlässt das Publikum beschwingt in die Nacht. Ach ja, und mein Sitznachbar? Der hat 19 Mal laut gelacht. Ich habe Strichliste geführt. Beim Schlusslied hat er mit gesummt und im Anschluss gab es sicherlich noch ein Gläschen an der Bar. Das empfehle ich allen Theatergängerinnen und Theatergängern bereits vorab, damit es sich gleich ab Beginn auf der Eierlikörwelle mit schweben lässt! Zum Beispiel am Silvesterabend?

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