Was zeigt dir dein Algorithmus? Blumen, Katzen, Sonnenuntergänge? Ein Papst-Deepfake? Oder doch eher Memes, «Cursed Images», paranormale Low-Res-Videos? Das sagt dir alles gar nichts? Die Ausstellung «The Lure of the Image – Wie Bilder im Netz verlocken», seit dem 17. Mai im frisch wiedereröffneten Fotomuseum Winterthur zu sehen, packt dich vermutlich trotzdem. Denn schon das Museum selbst wirkt wie ein Versprechen: warme Brauntöne, viel Glas, ein verspiegeltes Vordach, eine Rampe, die niemanden ausschliesst.
In der ersten Ausstellung nach dem Umbau geht es um eine Welt, die wir alle bereits kennen: den digitalen Raum. Wir wischen, scrollen, schauen. Und merken kaum mehr, was wir da eigentlich sehen und tun. Oder warum. Oder was davon überhaupt echt ist. Gezeigt werden 14 künstlerische Positionen, spielerisch, aber zugänglich inszeniert. Keine QR-Codes, keine App. Das Smartphone darf in der Tasche bleiben. Was hier auf den Wänden hängt oder flimmert, ist ohnehin etwa das, was wir täglich auf dem Display sehen. Nur jetzt ist es eben Kunst – oder die Reflexion eines kulturellen Kontrollverlustes.
Ernsthafte Emojis
Mittendrin im Ausstellungsthema ist man aber schon von Anfang an: In Sara Cwynars Videoessay Scroll 1 flackern Bilder aus Werbung, Kunst, Trash, Nachrichten in Endlosschlaufe. Der Effekt ist hypnotisch. Und verstörend. Irgendwann weiss man nicht mehr, was man sieht, nur, dass man nicht aufhören kann zu schauen. Das kennt man vielleicht. Vom eigenen Bildschirm. Die Arbeit von Viktoria Binschtok Digital Semiotics dagegen ist ein serielles Stillleben: Emojis fotografisch umgesetzt.
Auf den ersten Blick scheint das fast banal. Doch Binschtok nimmt die bunten Motive ernst und verdeutlicht, dass diese Einfachheit täuscht. Die Bedeutung selbst entsteht nicht im Motiv, sondern erst durch die Lesart. Und die ist kulturell geprägt, politisch und vor allem eines: persönlich. Manche Emojis bedeuten Solidarität, andere Kritik, wieder andere umgehen Zensur. Was bedeutet das Wassermelonen-Emoji? Was die Traube? Wer weiss, versteht. Wer nicht, bleibt draussen.
Während die Emojis beinahe verspielt daherkommen, wird es bei Jon Rafman düster. In seiner dreiteiligen Videoinstallation Egregore I, II, III gleitet man hinab in eine albtraumhafte Welt aus «cursed images». Das sind jene Bilder, die sich dem halbwegs gesunden Menschenverstand entziehen. Bilder von verzerrten Körpern, verstörten Tieren, digitale Glitches und all dem, was man irgendwie halt doch sehen will.
Um dieses Phänomen zu beschreiben, greift Rafmann auf den Begriff «Egregor» zurück. Gemeint ist damit eine Art Kollektivbewusstsein, das aus Ängsten und Obsessionen geformt wird. Rafmans Egregor ist das Internet. Und das ist hier definitiv kein schöner Ort. Trotzdem kann man nicht wegschauen, ist abgestossen und gleichzeitig fasziniert. Schämt sich ein bisschen, weil man das eine oder andere Bild bereits kennt.
Sonnenuntergangsbilder
Den Abschluss der Ausstellung macht Zoé Aubrys Arbeit #Ingrid. Still. Schmerzhaft. Zu sehen sind schöne Bilder: Blumen, Katzen, Sonnenuntergänge. Doch sie erzählen von Gewalt. 2020 wurde die Mexikanerin Ingrid Escamilla von ihrem Partner brutal ermordet. Ein Femizid. Die Medien zeigten voyeuristisch ihren verstümmelten Körper auf Titelseiten, schrieben von einem «Mord aus Leidenschaft».

Bilder, die sich unter dem #IngridEscamillaVargas versammeln ((Bild: pd/Fotomuseum Winterthur)
Dagegen formierte sich digitaler Protest: Unter dem Hashtag «IngridEscamillaVargas» posteten Menschen schöne Bilder. Nicht, um die Tat zu verdrängen, sondern um eine visuelle Gegenöffentlichkeit zu erschaffen, die eben nicht das Opfer zeigt, sondern dessen Würde verteidigt. Aubry hat diese Bilder gesammelt und daraus eine Installation gemacht. Sie fragt: Wer hat die Macht, zu zeigen? Und was wird gezeigt?
Wie unser eigener digitaler Raum aussieht, weiss niemand ausser uns. Was uns lockt, bleibt normalerweise in der scheinbar vertraulichen Beziehung zwischen uns und dem Smartphone. Die Ausstellung «The Lure of the Image – Wie Bilder im Netz verlocken» bricht mit dieser Intimität. Hier sind wir nicht mehr allein.
Die anderen sehen, was wir sehen, und mit ihrer Gegenwart kommt das Unbehagen. Unser Blick ist nicht mehr privat, sondern öffentlich. Die Blase platzt. Im Ausstellungsraum entsteht eine Art kollektives Innehalten. Ein Korrektiv, das in der vermeintlichen Anonymität des Netzes fehlt. Die Ausstellung ist entlarvend: Dem «Lure of Image» verfallen wir nicht nur wegen digitalen Filtern und Algorithmen, es passiert auch real, im Fotomuseum Winterthur.
«The Lure of the Image – Wie Bilder im Netz verlocken», bis 12. Oktober, dienstags bis freitags 11 bis 20 Uhr, samstags und sonntags 11 bis 18 Uhr, Fotomuseum Winterthur.
Mit Arbeiten von: Zoé Aubry, Sara Bezovšek, Viktoria Binschtok, Sara Cwynar, Éamonn Freel x Lynski, Dina Kelberman, Michael Mandiberg, Joiri Minaya, Simone C Niquille, Jon Rafman, Jenny Rova, Hito Steyerl, Noura Tafeche und Ellie Wyatt.