, 1. April 2020
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«Wenn du deinen Text bei YouTube hochlädst, gibt es keinen Rappen»

Was sind wir ohne die Bühne? Der Thurgauer Kabarettist und Slam Poet Jan Rutishauser hat mit seinen Ostschweizer Kolleginnen und Kollegen über die aktuelle Coronasituation gesprochen.

Bild: slamgallen.ch

«Bevor ich auf Instagram Videos poste, fange ich lieber an das Leben zu geniessen», sagt die Winterthurer Slam Poetin Martina Hügi im Gespräch über den Notstand. Ich lache laut auf, obwohl wir beide zurzeit nicht viel zu lachen haben. Erst wurden die diesjährigen Poetry Slam Schweizermeisterschaften abgesagt, kurz darauf… alles.

Martina Hügi, 1985, ist im Thurgau aufgewachsen und lebt in Winterthur. Wenn sie nicht als Solokünstlerin unterwegs ist, bildet sie zusammen mit Lara Stoll das «Trio Loghorrö» und mit Jan Rutishauser das Team «laut&stark». (Bild: Mira Andres)

Am schlimmsten für Martina Hügi war das Canceln der Thuner Künstlerbörse – laut Hügi «die OLMA für KünstlerInnen, und ich die Kuh, eine möglichst hübsche». Ein Auftritt dort bedeutet die Möglichkeit, sich vor etwa 800 Schweizer Kleinkunstveranstaltern gleichzeitig zu präsentieren. Wer da eine gute Show hinlegt, hat erstmal für eine Weile ausgesorgt. Die Plätze sind dementsprechend begehrt und Hügi hätte dort einen Auftritt gehabt. Hätte.

«Statt in Thun aufzutreten, sitze ich nun zu Hause und es fühlt sich so an wie Eile mit Weile alleine zu spielen. Und das einzige, was dir im Weg steht, bist du selber», sagt Hügi. «Die erste Woche verbrachte ich damit, einfach mit der Situation klar zu kommen. Was mir am meisten fehlt, ist der Austausch. Mit meinen Freunden, aber auch mit dem Publikum. Und das Social Distancing macht, dass ich aufpassen muss, mich nicht auch innerlich zu distanzieren.»

«Streamen hat auch seinen Charme»

Mir selber geht es ähnlich. Ich muss schauen, dass ich emotional nicht ganz abschalte. Denn die Quarantäne bewirkt, dass ich als Künstler noch mehr als sonst auf mich selber zurückgeworfen werde: Was mache ich bloss ohne Publikum? Was bin ich ohne Publikum?

Jusef Selman, 2000, ist «arabischer Poetry-Slammer aus der Schweiz und Sultan des Thurgaus». (Bild: Christian Hirschmann)

«Ich mache am Sonntag einen Livestream», sagt Jusef Selman, U20 Vize-Schweizermeister im Poetry Slam. Der Frauenfelder tritt seit drei Jahren auf und bereitet sich derzeit auf den Numerus Clausus vor. «Natürlich vermisse ich auch das Auftreten vor Livepublikum. Aber Streamen hat seinen Charme.»

Jusef Selman ist mit 20 um einiges jünger als Martina und ich. Es ist vielleicht seinem Alter zuzuschreiben, dass ihm der Sprung in die Sozialen Medien leichter fällt. Oder aber es ist für ihn leichter, weil er im Gegensatz zu uns durch die abgesagten Shows nicht einen grossen Teil seiner Einkünfte verliert.

Bei ihm sind es Erfahrungen, die verloren gehen: zum ersten Mal einen Poetry Slam Workshop geben, den ersten abendfüllenden Auftritt meistern. «Erfahrungen, die mir dabei geholfen hätten, zu verstehen, was ich in Zukunft künstlerisch machen möchte», sagt Selman.

Post-Corona-Partymeile

Ich frage auch Etrit Hasler, ob die aktuelle Situation seiner Meinung nach auch was Positives habe. «Hast du die Partyszene aus Matrix 2 im Kopf?», fragt der Slam Poet und SP-Politiker zurück. «Wenn das alles vorbei ist, wird die Zürcher Langstrasse eine Woche lang so aussehen.»

Etrit Hasler, 1977, ist in St.Gallen geboren als Sohn einer Schweizerin und eines Kosovaren. Er gehört zu den Pionieren der Schweizer Slam Poetry, ist Vorstandsmitglied des AdS (Verband der Autorinnen und Autoren der Schweiz) und freier Journalist. (Bild: dreh&angel)

Hasler prägt seit fast zwanzig Jahren die Slamszene. Und er ist Geschäftsführer des Vereins Suisseculture Social, der vom Bundesrat den Auftrag erhalten hat, die Nothilfe an Kulturschaffende auszubezahlen – was für ihn im Moment elf Stunden Arbeit pro Tag bedeutet, sechs Tage die Woche.

«Ansonsten hat das Coronavirus für uns Bühnenkünstler nichts Schönes» sagt Hasler. «Die Hälfte unserer Haupterwerbssaison ist schon weggefallen, wie es mit dem Herbst aussieht, kann niemand einschätzen. Ich hoffe, dass – wenn der ganze Spuk vorbei ist – eine ernsthafte Diskussion geführt wird über die tausenden von Kulturschaffenden, die in der Schweiz in prekären Verhältnissen arbeiten und überleben.»

Ein Horrorszenario wäre für Hasler die permanente Verschiebung des Kulturkonsums ins Internet. «Es gibt in der Schweiz immer noch keine Abgeltung der künstlerischen Arbeit im Netz. Wenn du deinen Text bei YouTube hochlädst, gibt es keinen Rappen.»

Hoffentlich wird es diese Verschiebung nicht geben, denke ich nach unserem Gespräch. Aber immerhin erkennen immer mehr Menschen gerade durch die Quarantäne, wie wichtig Kunst und Kultur für das soziale Leben sind.

Man spielt über das Netz Brettspiele, man schaut per Videotelefonie zusammen Netflix und es werden Bücher- und Musiklisten geteilt, welche die Isolation erleichtern sollen. Alles erst möglich durch – meist unterbezahlte – Künstlerinnen und Künstler.

Zwar fehlt uns jetzt das Zusammenkommen in der Bar. Aber man stelle sich die Bar mal ohne Musik vor. Und meine persönliche Hoffnung ist, dass man alle, denen die Partyszene aus Matrix 2 noch nie zugesagt hat, dann im Publikum des Poetry Slams um die Ecke antreffen wird.

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