, 29. April 2019
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Wider das Shareholder-Prinzip

«En guerre» von Stéphane Brizé erzählt von einem Streik und den inneren Kämpfen der Streikenden. Ein mitreissendes Stück Klassenkampf, in dem Unruhe zum Programm gehört. Einen Tag nach dem «Tag der Arbeit» ist Filmstart.

Die Autofabrik Perrin Industrie im französischen Agen wird geschlossen, 1100 Angestellte verlieren ihren Job. Der Betrieb sei nicht mehr wettbewerbsfähig, heisst es. Alle fühlen sich verraten, weil der Vorstand zwei Jahre zuvor in einer Vereinbarung mit der Belegschaft versprochen hatte, den Betrieb aufrechtzuerhalten – mithilfe von empfindlichen Einschnitten: Sämtliche Boni für die Belegschaft wurden gestrichen und die 40-Stunden-Woche eingeführt. Im Gegenzug hat der Konzern staatliche Unterstützung erhalten.

Der Deutsche Dimke-Konzern, dem die Fabrik gehört, hat im vergangenen Jahr trotzdem 17 Millionen Gewinn eingefahren, die Dividenden der Dimke-Aktionäre haben sich um 25 Prozent erhöht. «Und was wird aus uns?», fragt die wütende Belegschaft – und macht von ihrem Streikrecht Gebrauch. Zudem gelangt sie an die französische Justiz: Mithilfe der Gewerkschaften reichen die Angestellten eine Anfechtungsklage gegen die Schliessung der Fabrik wegen Verletzung der Vereinbarung ein. Sie wird abgewiesen.

Bevor Sie den Fall jetzt googeln: Er ist fiktiv. Es gibt keine Massenentlassung und keinen Streik im französischen Südwesten und es existiert auch kein deutscher Konzern namens Dimke. «Echt» ist die Geschichte, die Wut der Streikenden, trotzdem, denn so oder ähnlich passiert es immer wieder. Ein paar Beispiele: OVS hat 2018 fast 1200 Stellen gestrichen – ohne Sozialplan, die Swisscom will demnächst 1000 Stellen einsparen, und General Motors hat im November angekündigt, die Zahl seiner Angestellten in Nordamerika bis 2020 um 15 Prozent zu reduzieren.

Blick in die Sperrzone

Stéphane Brizés neuer Film En guerre kommt dokumentarisch daher, ist aber ein Spielfilm. Das Thema hätte auch als Dokfilm abgehandelt werden können, doch die Wirklichkeit ist wohl noch um einiges hässlicher als die Szenen im Film. Und man hätte auch niemals so hautnah mit am Verhandlungstisch sitzen können. Dieser dokumentarische Kniff macht En guerre so stark: Brizé zeigt fiktiv, was sich real abspielt, aber kaum dokumentiert werden kann. Oder nur schwerlich.

En guerre: ab 2. Mai im Kinok St.Gallen

kinok.ch

Zum Beispiel die internen Kämpfe unter den Gewerkschaften: Die einen sind besorgt um das Bild der Streikenden in der Öffentlichkeit, zu dem die Medien das ihrige beitragen. Es sind dieselben, die plötzlich doch über eine Abfindung verhandeln mit der Geschäftsleitung – weil sie so wenigstens nicht ganz leer ausgehen. Das andere Lager ist empört ob diesem Vertrauensbruch und fragt: Wofür kämpfen wir hier denn? Um einen Job auf lange Sicht – im Umkreis von 50 Kilometern hat es kaum Arbeitsplätze – oder um eine lächerliche Abfindung?

Lagerbildung: Genau darauf hoffen die Konzernchefs bei Dimke. Der Zusammenhalt bröckelt. In diesen Momenten entwickelt der Film einen ungeheuren Sog. Man leidet mit, schimpft mit, hofft mit. Ruhige Szenen gibt es wenig im Film, ständig wird gebrüllt, gestikuliert und geschubst. Die Kontroversen, die Endlosdiskussionen und ruppigen Massenszenen sind hervorragend umgesetzt und gespielt.

Die Hauptrolle spielt Vincent Lindon, der bereits mehrfach mit Brizé zusammengearbeitet hat (Mademoiselle Chambon, 2009 und La loi du marché, 2015). Er verkörpert den Gewerkschafter Laurent Amédéo, den verschaukelten Arbeitnehmer, den respektierten Anführer, den geschiedenen Vater und Grossvater in spe. Amédéo gehört zu jener Gewerkschaftsseite, die sich nicht mit einer Abfindung abspeisen lassen, sondern die Fabrik erhalten will. Ihm geht es ums Prinzip, um die Zukunft der Arbeit in der Region und um die unmenschlichen Auswüchse des globalen Shareholder-Systems. «Les Allemands à la table!», fordert er immer und immer wieder.

«Die da oben halten immer zusammen»

Den Deutschen kommt es freilich nicht im Traum in den Sinn, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Monsieur Hauser, der Dimke-Chef, ist nur bereit, «eine Lösung in Betracht zu ziehen», wenn Agen seine Arbeit wieder aufnimmt. Alle Gesprächsversuche scheitern, dabei kommt es immer wieder zu grotesken Szenen. Wenn zum Beispiel der Sozialberater des Präsidenten den Streikenden verzweifelt zu erklären versucht, dass der Staat halt auch nicht überall eingreifen könne. Ohnehin kommt der französische Staat ziemlich schlecht weg. Oder wenn der Dimke-Finanzchef seinen streikenden Widersachern tiefernst versichert: «Wir schlafen alle schlecht.»

Szene mit Valérie Lamond, Anwältin im Film wie in der Realität.

«Wer die Realität auf diesem Markt nicht wahrhaben will, verlangt eigentlich, in einer anderen Welt zu leben», sagt einmal jemand vom Dimke-Konzern. Das ist der Kern des Konflikts: Der Konzern verteidigt sein Aktionärssystem, betreibt Shareholder-Appeasement, die Arbeiterinnen und Arbeiter wollen nicht für unsichtbare Aktionäre arbeiten, sondern für sich, die Firma und die Region. En guerre ist ein Stück Klassenkampf.

Die Erkenntnisse nach knapp zwei Stunden sind bitter. Eine nimmt Laurent Amédéo bereits vorweg: «Die da oben halten immer zusammen, im Gegensatz zu uns.» Wie effizient «die da oben» waren, muss er schliesslich am eigenen Leib erfahren. Zweitens: Der Kampf gegen die Übermacht der globalen Konzerne ist entbehrungsreich und nahezu aussichtslos. Ausser vielleicht – drittens: Man schafft eine Öffentlichkeit.

 

 

 

 

 

 

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