, 12. Juli 2022
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Wie es war und wieder werden soll

Die Kuratorinnen Kateryna Voropay und Kateryna Radchenko entwerfen mit der Ausstellung «Um so stärker schlägt mein Herz» ein persönliches Bild einer modernen Ukraine. Bilder, Fotos, Videos und Installationen im Kunstraum Kreuzlingen stellen eine Nähe her, die Liebe und Hoffnung dem Krieg zum Trotz spüren lässt. Von Judith Schuck

Zeitgenössische Kunst aus der Ukraine im Kunstraum Kreuzlingen. (Bilder: pd)

Die ukrainische Journalistin Kateryna Voropay floh im März 2022 mit ihren fast 90-jährigen Grosseltern in die Schweiz. Voropay arbeitet in letzter Zeit vor allem an verschiedensten Kampagnen für NGOs mit. Als sie in Zürich ankam, war ihr schnell klar, dass sie etwas tun wollte für ihr Land, aber auch den Menschen in ihrer neuen Heimat Schweiz zeigen, woher sie und die vielen anderen Geflüchteten kommen und warum sie kämpfen.

«Umso stärker schlägt mein Herz»: Ukrainische Gegenwartskunst im Kunstraum Kreuzlingen, Ausstellung bis 14. August.

kunstraum-kreuzligen.ch

In einer ukrainisch-schweizerischen Kollaboration kuratierte sie gemeinsam mit Kateryna Radchenko, Gründungsmitglied des Fotofestivals Photo Days Odesa, eine Ausstellung von zeitgenössichen ukrainischen Künstler:innen. Über Freunde in Zürich, die ihr den Kontakt zu einem Sozialarbeiter vermittelten, kam sie nach Kreuzlingen, wo sich Voropay auf die Suche nach einem Ort für ihr Vorhaben machte.

Sie stiess auf den Kunstraum. Statt in die Sommerpause zu gehen, übergab ihr Kunstraumkurator Richard Tisserand seine Bühne. Der Titel der so entstandenen Ausstellung lautet «Um so stärker schlägt mein Herz», ein Zitat aus dem Gedicht Contra spem spero – entgegen der Hoffnung hoffe ich der ukrainischen Dichterin und Feministin Lesya Ukrainka.

«Die Ukraine, die ich liebe»

Im Hauptsaal im Erdgeschoss sind seit dem 9. Juli Werke junger Künstler:innen zu sehen, die im Zeitraum von vor zehn Jahren bis kurz vor Kriegsausbruch entstanden. «Mein Anliegen ist es, meine moderne Ukraine zu zeigen, als Gegenpol zu den Bildern aus den Nachrichten. Es ist die Urkaine, die ich liebe.»

Von Andrii Boiko sind Fotografien ausgestellt, die zwischen 2014 und 2021 entstanden und das berühmte Nachtleben der Hauptstadt Kiew zeigen. Die Reihe Empfindsamkeiten nimmt dabei nicht nur die tobende Horde bei einem Punkkonzert auf, sondern auch die Verbindungen, die aus einer Party entstehen können und die Einsamkeit, die am Tag nach einer durchzechten Nacht auf die Seele drücken kann.

Dass es sich um eine Ausstellung mit Künstler:innen einer postsowjetischen Kultur handelt, wird bei den bunten Illustrationen von Anna Sarvira klar. Die Kinderbuchillustratorin ist mit Arbeitsfreier Tag und Sucht vetreten. Viele der Gegenstände sehe man in jedem Haushalt, sagt Kateryna Voropoay. «Sie gehören zum post-sowjetischen Erbe.» Aus ostdeutschen Städten wie Dresden, Leipzig, Berlin kennen wir einige dieser «ostalgischen» Elemente. Der bunte Fisch veziert beispielsweise Emaille-Schüsseln oder die rote Teekanne mit weissen Tupfen ist allgegenwärtig.

Die ukrainische Journalistin Kateryna Volopay vor dem Werk von Dmytro Kupriian.

Die Serie Omas am Rande des Paradieses von Olena Subach verbindet die Liebe zur Generation ihrer Grosseltern mit Ironie. Vor Kriegsausbruch hätten vielleicht nur wenige spontan gewusst, in welchen Farben die ukrainische Flagge weht. Heute ist uns sofort klar, dass diese aufgeblitzten Fotos, die von Blau- und Gelbtönen dominiert sind – ob in Form von Sand, der durch die Risse einer aufgeplatzten blauen Plastikplane dringt oder der älteren Damen in blauem Kleid mit güldenen Pantoffeln – mit Traditionen der ukrainischen Kultur spielen.

Adaption einer modischen Feldstudie

Auch Roman Pashkowskij arbeitet mit dem Gestern im Heute. Für Fotoatelier beobachtete er zunächst auf der Strasse, was die Bevölkerung trägtt und durchstöberte anschliessend Second-Hand-Läden. Er kleidete sich als typischer, durschnittlicher Ukrainer und liess sich im Fotostudio ablichten. Die Idee entstammt dem britischen Künstler Martin Parr.

Daria Balova ist eine Künstlerin aus der Ost-Ukraine. Der Krieg, der dort schon seit Jahren wütet, vertrieb sie aus ihrem Haus. Als sie Jahre später zurückkam, machte sie makroskopische Aufnahmen von ihren Topfpflanzen, die während ihrer Abwesenheit vetrocknet waren. Verwurzelt im Donbass von 2014 erinnert ironischerweise als grosses Wandgemälde an die typische flache Landschaft mit einzelnen Hügeln im Donbass.

Gegenstück ist Alevtyna Kakhidzes Garten ist Politik. Hier ruft die Aktivistin und Künstlerin dazu auf, ihre Pflanzen zu giessen, damit sie nicht sterben, solange sie weg ist. Dies können Ausstellungsbesucher:innen auch tatsächlich tun, denn neben den Grünpflanzen steht eine gefüllte Giesskanne bereit.

Einige der im Kunstraum vertretenen Künstler:innen finden sich im Tiefparterre wieder: Roman Pashkowskij sitzt dieses Mal nicht auf einem kitschigen Sessel im Fotostudio. Mann im Sessel enstand im März 2022 und zeigt ihn inmitten eines zerbombten Wohngebiets sitzend. Im Hintergrund suchen Soldat:innen und ehemalige Bewohner:innen der Wohnblocks nach Überresten.

Die Illustratorin Anna Sarvira stellt im Comic Der Plan, datiert auf den 12. Februar 2022, die Frage: «Will I be fast enough to reach the Bomb-Shelter?»

Tasha Levytska zeichnete in Objekte sind näher als sie scheinen in ein gelbes Getreidefeld vor blauem Himmel. Die darin einschlagenden Raketen reflektieren sich in einem Autorückspiegel.

So klingt der Krieg

Während im Erdgeschoss die Ausstellung von einer Playlist begleitet wird, die den Sound der Ukraine auf den Strassen und in Bars nachempfindet, hören wir im Tiefparterre Explosionen, Pfeifen, Krieg. Der spanische Künstler Albert Lores nahm in einem Video, das zwischen März und Juni 2022 entstand, das Gesicht und den Sound des Kriegs auf. Ausgebombte Gebäude, Menschen in U-Bahnschächten, erschöpfte Feuerwehrleute, eine Frau, die mit ihrer Katze im Arm vor einem ausgebrannten Autowrack steht.

In ihrer Einführungsrede ermahnt Kateryna Voropay die Gäste, nach dem Besuch des Tiefparterres unbedingt zurück nach oben zu kommen. Die 31-Jährige werde nicht gerne gefragt, wie sie sich jetzt fühle. «Mit der Ausstellung möchte ich zeigen, wie ich und viele Ukrainer:innen sich fühlen.» Es sei zu schmerzhaft, um darüber zu sprechen, aber die Werke im Keller zeigten eine Reflexion der Gefühle. Was sie den Menschen aber zeigen möchte, sind weniger die Bilder im Tiefparterre, «sondern das hier oben, die Ukraine, wie sie vor dem Krieg war, wie wir sie wieder haben wollen, und wofür wir kämpfen.»

«Um so stärker schlägt mein Herz» ist eine Liebeserklärung an ein Land, dessen Bevölkerung gerade um seine Existenz kämpft. Die breite Auswahl der Werke lässt uns teilhaben an der Kultur einer modernen, post-sowjetischen Nation, und an der Fassungslosigkeit, mit der die Zerstörung um sich greift und die Freiheitlichkeit bedroht.

Kiewer Nachtleben wie es sein sollte: Fotografien von Andrii Boiko.

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