Wie viele Schichten hat die Erinnerung?

Ruth Erats Roman Wintersee ist ein literarisches Echo der Erinnerung, ein still vibrierender Text zwischen Erinnerungsfragmenten, Kindheitsträumen und politischem Bewusstsein. Heute Abend feiert der Roman Premiere im Raum für Literatur in St.Gallen.

Die Autorin Ruth Erat (Bild: pd)

Was ist das Ers­te, das man tun wür­de, wenn der Bo­den­see zu­friert? Man geht nicht gleich drauf. Man war­tet. Horcht lei­se. Er­spürt vor­sich­tig mit der Schuh­spit­ze die fra­gi­le Eis­flä­che. So fühlt sich Ruth Erats Ro­man an. Man tas­tet sich ran. An das Me­lan­cho­li­sche. Ans Un­ge­wis­se, ans Ris­kan­te. Ein wun­der­schö­ner Ro­man, der sich nicht auf­drängt, aber lan­ge nach­wirkt. Der nicht nach Auf­lö­sung sucht, son­dern nach At­mo­sphä­re. Denn es gibt Din­ge, die un­be­greif­lich blei­ben: «Die Kind­heit. Der See. Die Er­war­tung.» 

Schon im Ti­tel liegt die zen­tra­le Me­ta­pher des Ro­mans ver­bor­gen: Der «Win­ter­see» ist kein ein­fa­cher Schau­platz, son­dern ein Er­in­ne­rungs­raum, ein kol­lek­ti­ves und zu­gleich per­sön­li­ches Ar­chiv. Ein See, der im Win­ter still da­liegt, ver­eist viel­leicht, glän­zend in mil­chi­gem Blau, an man­chen Stel­len so dun­kel, dass man hin­ein­stür­zen möch­te, nur um zu se­hen, ob es wirk­lich kei­nen Grund gibt. Die St.Gal­ler Au­torin und Künst­le­rin ver­bin­det im Ro­man Re­fle­xio­nen über Angst, Ge­schwin­dig­keit, Ver­ant­wor­tung und Tod, the­ma­ti­siert die ak­tu­el­le Welt­la­ge, struk­tu­rel­le Wi­der­sprü­che, streift den Zwei­ten Welt­krieg eben­so wie den Kli­ma­wan­del oder die Pan­de­mie und ent­larvt mo­der­ne Ma­ni­pu­la­ti­ons­mus­ter. 

Die Kunst des Zu­rech­terzäh­lens

Der Ro­man be­ginnt lei­se und bleibt lei­se. Da ist das Kind auf dem Eis, ein Mäd­chen viel­leicht, oder ein Bub, das Mensch­li­che je­den­falls, das Ver­gäng­li­che. Es re­det sich die Welt zu­recht – so, wie wir al­le es tun. Doch was auf der Ober­flä­che wie ein me­lan­cho­li­scher Rück­blick wirkt, ent­puppt sich als mehr­schich­ti­ge Er­zäh­lung über das Er­in­nern und das all­mäh­li­che Ver­ges­sen. Ein Ver­such, sich durch Er­in­ne­run­gen hin­durch­zu­er­zäh­len – oder viel­mehr ein «Zu­rech­terzäh­len» –, wis­send, dass Er­in­ne­rung selbst et­was Kon­stru­ier­tes ist. Und im Ro­man nicht theo­re­tisch her­ge­lei­tet, son­dern emo­tio­nal und kör­per­lich er­fahr­bar: «Zei­chen für Zei­chen. Haut für Haut. Schicht für Schicht. Ei­ne Zwie­bel.»

Der See ge­friert – sinn­bild­lich wie re­al – und wird zur am­bi­va­len­ten Pro­jek­ti­ons­flä­che für die Prot­ago­nis­tin, de­ren Stim­me sich zwi­schen Ich-Er­in­ne­rung, Ana­ly­se und träu­me­ri­scher Über­hö­hung be­wegt. Mal zart und poe­tisch, mal ana­ly­tisch, fast un­ter­kühlt. Die «Seegfrör­ni», das voll­stän­di­ge Zu­frie­ren des Sees, dient als Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt der Ge­schich­te.

Die Ich-Er­zäh­le­rin kehrt nach Jahr­zehn­ten zu­rück, of­fi­zi­ell we­gen ei­nes Auf­trags, in­of­fi­zi­ell we­gen ei­ner in­ne­ren Un­ru­he. Er­in­ne­run­gen fla­ckern auf: die Ju­gend­lie­be Pierre, das zu­frie­ren­de Was­ser, das wag­hal­si­ge Eis­lau­fen, der Ge­ruch von Kind­heit. Auch Pierre wird zur Pro­jek­ti­ons­fi­gur: für das Ver­lo­re­ne. Doch das Wie­der­se­hen bleibt leer, höf­lich, fast mu­se­al. In den Dia­lo­gen zwi­schen bei­den of­fen­bart sich nicht nur die Mü­dig­keit zwei­er Le­ben, son­dern auch die Er­kennt­nis, dass Ge­schich­ten sich selbst schrei­ben kön­nen, un­ab­hän­gig von Fak­ten, der Wahr­heit. Die Er­zäh­le­rin weiss, dass das, was sie er­zählt, viel­leicht gar nicht stimmt. Aber sie er­zählt wei­ter. Weil man sonst un­ter­geht: «So­lan­ge ich er­zäh­le, ist die Ge­schich­te nicht an ihr En­de ge­kom­men.»

Wer zö­gert, stürzt

Erats Ro­man ist in der be­schleu­nig­ten Ge­gen­wart der Reiz­über­flu­tung von So­cial-Me­dia-Feeds und dem per­for­ma­ti­ven Pop­kul­tur-Framing ein in­tel­lek­tu­el­les Ent­schleu­ni­gen. Lei­se, flies­send, nicht im­mer so­fort er­klär­bar, kein ober­fläch­li­ches En­ter­tain­ment, son­dern be­wusst in der Spra­che ver­an­kert. Die Spra­che ist lei­se, fein, rhyth­misch und von poe­ti­scher In­tel­li­genz. Ih­re Sät­ze tra­gen die Struk­tur von in­ne­ren Mo­no­lo­gen, durch­setzt mit Rück­blen­den, Es­say­frag­men­ten und ge­le­gent­lich traum­ar­ti­gen Se­quen­zen. Sie ar­bei­tet mit Re­pe­ti­ti­on, Ver­lang­sa­mung, mit Auf­zäh­lun­gen, Spie­ge­lun­gen, Fra­gen und ver­webt da­mit ver­schie­de­ne Text­sor­ten. 

Es ist ein Buch zwar mit Ka­pi­teln, aber nicht im her­kömm­li­chen Sinn, viel­mehr ei­ne lo­se ge­ord­ne­te Fol­ge von Re­fle­xio­nen, Er­zähl­split­tern und Ver­dich­tun­gen. Die­se Form spie­gelt sich in der Haupt­the­ma­tik: Er­in­ne­rung ver­läuft nicht li­ne­ar. Erats Ro­man ist nicht nur per­sön­lich. Er ist auch po­li­tisch. Der See wird zur Gren­ze, zur Trenn­li­nie zwi­schen Län­dern, zwi­schen Sys­te­men, zwi­schen Ge­schich­te und Ge­gen­wart. Ein Spie­gel ei­ner Ge­sell­schaft, die sich mit dem kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis schwer­tut. Das Ver­ges­sen ist kein Un­fall, son­dern ein Sys­tem. Doch wer er­in­nert, wird zum Er­zäh­len­den.

Ruth Erat: Win­ter­see, Ca­ra­col Ver­lag, Warth 2025. 
Au­torin­nen­le­sun­gen: 27. Mai, 19.30 Uhr, Raum für Li­te­ra­tur (Haupt­post), St.Gal­len; 3. Ju­li, 19 Uhr, Es­tEs­tEst, Rhein­eck; 17. Au­gust, 11 Uhr, Haus Max Burk­hardt, Ar­bon; 25. Sep­tem­ber, 19.30 Uhr, Li­te­ra­tur­haus Thur­gau/Bod­man­haus, Gott­lie­ben. 
ru­the­rat.ch