, 5. Dezember 2018
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«Wir sind hier»

Partizipativ, demokratisch und weit weg von Theorie: Der Verein Kulturkosmonauten stellt mit jungen Menschen innert neun Tagen eine künstlerische Produktion auf die Beine. von Andri Bösch

Probearbeit im Flon. (Bilder: pd)

Spannung liegt in der Luft. Ein Donnerstagabend Anfang November und die Jugendbeiz Talhof in St.Gallen ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Immer mehr Leute strömen in den Saal, neue Stühle werden herangeschafft. Ein Klang aus Gemurmel, Gesprächsfetzen und Lachen. Die Kulturkosmonauten haben zur Vorstellung ihres Theaterstücks eingeladen. Knapp 80 Leute sind gekommen, der Saal platzt aus allen Nähten.

Kulturkosmonauten – das ist ein Gefäss für Jugendliche, in welchem während eines neuntägigen Workshops eine künstlerische Darbietung unter der Leitung zweier Kunstschaffender erarbeitet und der Öffentlichkeit präsentiert wird.

«Ich finde es schwierig zu sagen, was genau am Ende rauskommen soll», sagt Pamela Dürr, die künstlerische Leiterin der Kosmonauten. «Diese Workshops haben vor allem eine gesellschaftliche Relevanz. Es geht darum, dass junge Menschen durch die künstlerische Arbeit lernen, sich einzubringen und als selbstwirksam zu erfahren», sagt die 48-jährige Schauspielerin und Autorin von Hörspielen und Theaterstücken. Nachdem Dürr sich in ihrem Schaffen seit 2004 vor allem der Arbeit für und mit Jugendlichen widmete, hat sie 2016 dieses Format in der Ostschweiz entwickelt.

Mehr als Integration

Mittlerweile deklarierte das Bundesamt für Kultur BAK
 die Kulturkosmonauten als Projekt mit Modellcharakter und sprach für dieses und zwei weitere Jahre die Maximalförderung. «Diese Art des kulturellen Angebots ist sehr niederschwellig und hat viel mit partizipativer Kultur zu tun», sagt Dürr. «Das BAK bemerkte, dass man gewisse Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Migrantinnen und Migranten überhaupt nicht erreicht und sah in unserer Arbeit offenbar Potential.» Die Workshops finden im Zusammenspiel mit Partnerinstitutionen wie Lehrbetrieben oder sozialen Einrichtungen statt.

Im Talhof wird es dunkel. Taschenlampenlichter fliegen suchend durch den Raum, die Schauspielerinnen und Schauspieler treten auf die Bühne. Die Jugendlichen des Integrationsförderkurses der GBS St.Gallen führen das Theaterstück Der kleine Prinz auf, modifiziert mit eigenen Ideen und Dialogen. Am Ende des Abends: Standing Ovations und glückliche Gesichter.

«Jeder Workshop und jede Aufführung ist verschieden. Wir arbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern aus allen Sparten zusammen, welche dann die Jugendlichen begleiten», sagt Dürr beim Gespräch an der Bar. Sie sei dafür zuständig, herauszufinden, welche Kursleitung für die jeweilige Institution passe, neben der künstlerischen Professionalität müsse auch eine hohe Sozialkompetenz vorhanden sein.

«Die Arbeit innerhalb der Kulturkosmonauten ist sowieso auch Integrationsarbeit, aber in einem viel weiteren Sinne als 
nur Integration von Geflüchteten oder Migrantinnen und Migranten», erklärt Dürr. Klar hätten Workshops in Zusammenhang mit klassischer Integration – will heissen in Zusammenhang mit ausländischen Menschen, auf welche der Begriff im heutigen Diskurs radikal eingeschränkt wurde – auch andere Schwerpunkte, insbesondere den sprachlichen. «Aber es geht einfach auch um vieles mehr. Das abgedeckte Spektrum reicht von Kultur- über Sozialbildung bis hin zu Persönlichkeitsentwicklung. Diese Ziele sind auch in unserer Arbeit mit Lernenden oder Studierenden dieselben und für diese auch genauso herausfordernd.»

«Wir fliegen weg»

Eine Woche später im Jugendkulturraum Flon an der Davidstrasse. Bereits befinden sich die nächsten Kulturkosmonautinnen und -kosmonauten mitten in den Proben. Ich werde sofort eingebunden, soll mitmachen bei der Einwärmübung. Der Theaterworkshop besteht aus 16 Jugendlichen im Alter von 15 bis 20 Jahren, zusammengemischt aus zwei Integrationsklassen der GBS sowie Ann Katrin Cooper und Tobias Spori, welche für die Leitung zuständig sind.

Ann Katrin Cooper (2. von links) und die aktuellen Kosmonaten beim Proben im Flon.

«Wir fliegen weg, denn wir leben hoch!», schreit die Gruppe sich gegenseitig im Kreis zu, so synchron wie möglich. Eine schöne Metapher, alle sind sie aus ihren einstigen Heimatländern weggeflogen und jetzt hier in St.Gallen. Die Stimmung im Flon scheint dynamisch und familiär. «Wir sassen einmal zusammen zuhause auf dem Sofa und sagten uns: Das ist wohl das anstrengendste Projekt, was wir je gemacht haben. Aber irgendwie auch das beste», sagen Cooper und Spori. Und auch beim Herumfragen unter den Jugendlichen herrscht Einigkeit: der Workshop sei genial.

Nächste Präsentation der Kulturkosmonatuen:
6. Dezember, Palace St.Gallen
kulturkosmonauten.ch

«Man kann hier sehr vieles über den Umgang mit Menschen lernen und auch über das Theaterspielen. Ich habe bisher noch nie gespielt und es macht mir sehr viel Spass», sagt der 20-jährige Mirza. Und die 16-jährige Julia meint: «Ich bin es nicht gewohnt, auf einer Bühne zu stehen und mag es eigentlich auch nicht. Aber hier mit diesen Leuten geht es.»

Am Nachmittag wird vorgespielt. Die Bühne ist leer. Eine nach dem anderen schreiten die Jugendlichen hinauf und stellen sich in Dreiecksformation auf. Still stehen sie da, Blick in jene Richtung, wo bald schon Publikum sitzen wird. Kein einziger Ton und doch schreit dieses stolze Bild: «Wir sind hier!»

Dieser Beitrag erschien im Dezemberheft von Saiten.

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