Saiten: Die Musikfestwochen wurden 1976 in der Winterthurer Africana-Bar als Gegenmodell zu den als elitär empfundenen Luzerner Musikfestwochen gegründet. Nun feiert ihr das 50-jährige Bestehen des Festivals. Welche Bedeutung hat es heute für Winterthur?
Matthias Schlemmermeyer: Eine enorm grosse. Es ist kultureller Kitt. Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, Einkommensverhältnissen, kulturellen Hintergründen und musikalischen Vorlieben kommen hier zusammen. Das Festival hat auf die Gesellschaft eine prägende Wirkung. Es sind rund 1100 Helfende, davon etwa 800 aus Winterthur. Das sind alles Multiplikator:innen.
Lotta Widmer: Und es hilft sicher auch, dass wir schon 50 werden. Mittlerweile gibt es in dieser Stadt so viele Menschen, die irgendwann in ihrer Lebensgeschichte Kontakt hatten mit den Musikfestwochen – das sieht man gut an den vielen Helfer:innen-Shirts, die in Winti unterwegs sind. Da sind lauter persönliche Geschichten dabei, die diese Stadt tragen. Unser Image und der Rückhalt in der Stadt sind unglaublich gut, weil so viele Menschen und Firmen eine Verbindung zum Festival haben und es mittragen.
MS: Winterthur könnte sich vermutlich weniger enthusiastisch Kulturstadt nennen, wenn es die Musikfestwochen nicht mehr gäbe.
Und umgekehrt, welche Rolle spielen die Stadt und die Partnerschaft mit lokalen Institutionen für das Festival?
LW: Einerseits sind wir direkt von der Stadt abhängig, weil wir ohne Bewilligung natürlich gar nichts veranstalten können. Gleichzeitig geben wir ihr viel zurück: Wir beleben die Altstadt, schaffen Begegnung und stärken das kulturelle Profil. Gerade deswegen findet der Dialog auf Augenhöhe statt. Stadt und Kanton fördern uns – zu 90 Prozent sind wir jedoch eigenfinanziert. Ausserdem machen über 100 lokale Partner:innen – vom Salzhaus bis zum Coucou, vom Gewerbemuseum bis zur reformierten Kirche – das Festival mit uns möglich. Wir sind tief in der Stadt verankert.
MS: Wir sind aber auch mitten in der Altstadt zu Gast. Das ist ein grosses Privileg, aber auch eine Herausforderung. Deshalb ist uns der Dialog mit der Bevölkerung, dem Gewerbe und der Stadt besonders wichtig. Vor ungefähr fünf Jahren haben wir begonnen, diesen Austausch noch gezielter zu pflegen. Seither ist die Zusammenarbeit mit allen Beteiligten deutlich gewachsen. Ich glaube, es wird sehr geschätzt, dass wir frühzeitig informieren, aufmerksam zuhören und gemeinsam nach Lösungen suchen. Das schafft Vertrauen und trägt zu einer positiven Festivalstimmung bei.
Beteiligung ist ein gutes Stichwort, denn davon lebt ihr ja auch: Wie findet ihr Freiwillige und wie gelingt die Koordination von über 1100 Helfenden?
MS: Vor einiger Zeit haben wir festgestellt, dass wir in die Helfer:innenbetreuung investieren müssen. Nicht nur Geld, sondern vor allem auch Ideen, Zeit und Herzblut. Die Helfenden müssen eine wirklich gute Zeit haben, sonst kommen sie nicht wieder. Wir haben also beispielsweise die Verpflegung ausgebaut – rund 300 Mahlzeiten werden im Helfer:innenbereich pro Abend von anderen Helfer:innen gekocht. Das ist einer von vielen Bausteinen, durch die sie sich hier zuhause fühlen. Dadurch hat sich ihre Bindung zum Festival deutlich erhöht.
LW: Wir konnten den gesamten Helfenden-Bereich über die letzten Jahre professionalisieren. Wir haben eigene Ressorts geschaffen, wie den «Helfer:innen-Desk» als Anlaufstelle oder den «Helfer:innen-Plausch», wo Aktivitäten organisiert werden, damit sich die Helfenden ressortübergreifend kennenlernen können und die Gemeinschaft gestärkt wird. Es soll einfach ein gutes Erlebnis sein, bei uns zu helfen. Umfragen unter den Helfenden zeigen klar, dass die Mehrheit mithilft, weil sie die MFW toll finden, nicht wegen Goodies wie Getränkejetons oder Konzerttickets.
Man hört überall von den Schwierigkeiten der Festivals, die Finanzierung zu sichern, Tickets zu verkaufen und die Gagen zu zahlen. Wie sieht das bei euch aus?
MS: Wir stehen auf sicheren Beinen und haben gute Jahre hinter uns. Aber wir sind stark abhängig vom Wetter. Wenn es neun Tage regnet während des kostenlosen Programms, schreiben wir sicher ein Minus.
LW: Unsere grösste Einnahmequelle ist die Gastronomie. Schlechtes Wetter hat einen direkten Einfluss auf den Umsatz. An zweiter und dritter Stelle sind dann schon die Tickets und Partnerschaften. Was allerdings oft vergessen geht: Unser grösstes Kapital sind die rund 1100 freiwilligen Helfer:innen. Sie leisten jedes Jahr über 28’000 Stunden – das entspricht, das entspricht, wenn man es mit 30 Franken pro Stunde hochrechnet, einem Wert von rund 840'000 Franken. Ohne dieses Engagement wäre ein Festival in dieser Form gar nicht möglich.
MS: Dass die Gagen steigen, merken wir natürlich auch, auch deshalb setzen wir auf das «Perlentauchen» als Strategie, auf Newcomer:innen, die in zwei Jahren dann deutlich grösser sind. Beim Gerangel um die grössten Acts können und müssen wir auch nicht mitmachen. Für uns ist nicht der Name oder der Marktwert entscheidend, sondern dass der Act, der auf der Bühne steht, live überzeugt und eine bestimmte Qualität hat.

Seit 1987 findet das Festival in der Winterthurer Altstadt statt. (Bild: pd/Robyne Dubief)

2024 besuchten rund 60'000 Personen die Musikfestwochen. (Bild: pd/Andrin Fretz)
Wie funktioniert das Perlentauchen? Oder anders gefragt: Wie erkennt und bucht ihr Newcomer-Acts international?
MS: Viele Konzerte besuchen, viel Musik hören und vor allem Offenheit. Ein gutes Beispiel ist der irische Singer-Songwriter Aaron Rowe, der dieses Jahr bei uns spielt. Als ich ihn gebucht habe, hatte er noch keinen einzigen offiziellen Song veröffentlicht – nur ein Demo. Das war so stark, dass ich wusste: Den müssen wir holen. Klar, sowas ist immer auch ein Risiko. Ich bin mir aber sicher, dass es super funktionieren wird. Mittlerweile ist er mit Ed Sheeran und Lewis Capaldi auf Tour – das scheint sich also gut zu entwickeln.
Das war aber nicht immer so: Bei euch standen in 50 Jahren ja schon Radiohead oder AC/DC auf der Bühne …
MS: Radiohead waren damals noch nicht der Act, der sie heute sind. Beim Perlentauchen geht es zwar auch darum, dass wir uns beim kostenlosen Programm nicht übernehmen, aber eben auch darum, ein Image des Vertrauens aufzubauen. Es soll heissen: Kommt vorbei, hier entdeckt ihr Musik, die euch überrascht und begeistert – egal, ob ihr den Namen schon kennt oder nicht.
LW: Damit positionieren wir uns in der Festivalbranche. Die Mischung aus sorgfältig kuratiertem kostenlosem Programm und grösseren Namen bei den kostenpflichtigen Konzerten, zeichnet uns aus – bis weit über Winterthur hinaus.
MS: Die grösseren Acts bringen Geld ein, zwar weniger, seit die Gagen gestiegen sind und wir uns in einer weltweiten Konkurrenzsituation befinden. So spielen Aurora und Idles beide weltweit, bringen nicht nur Publikum, sondern auch Sichtbarkeit und Glaubwürdigkeit. Und das wirkt sich wiederum auf die Bands im kostenlosen Programm aus. So steht jemand, der auf der Startrampe spielt, auf demselben Plakat wie Aurora.
Apropos Startrampe: Damit prägt und fördert das Festival ja seit 2016 Nachwuchskünstler:innen in der Region.
MS: Genau, wir haben neun Slots für Bands aus der Ostschweiz zu vergeben und hatten dieses Jahr ungefähr 99 Bewerbungen. Ich höre mir dann alle an, bei manchen weiss ich nach drei Sekunden, ob das was wird, bei anderen dauert es etwas länger. Ich achte auch darauf, dass der Act zu den restlichen Bands des Abends passt und eine gewisse Diversität erfüllt ist. Insgesamt herrscht ein Überangebot an Acts, für die Startrampe sowie für die Hauptbühne. Das Sortieren ist die grösste Herausforderung. Man läuft Gefahr, auf die Falschen zu setzten.
LW: Neben der Startrampe spielen auf unserer kleinsten Bühne, der «Strassenmusik», auch noch Bands, die von einem eigenen OK-Ressort gebucht werden. Und wir haben den Band-it-Final oder die Winti-Night, wo nur lokale Bands spielen. Aus all den Formaten ergeben sich schöne Geschichten, wie sich eine Band entwickelt und uns erhalten bleibt. Hermanos Gutierrez haben beispielsweise mal auf der Startrampe gespielt und wurden später für die Hauptbühne gebucht. Oder Faber, der vor vielen Jahren den Band-it-Final gewann und später mehrmals im Hauptprogramm gespielt hat.

Auch neben den Bühnen treten Künstler:innen auf. (Bild: pd/Robyne Dubief)

Auf der Startrampe spielen Nachwuchskünstler:innen aus der Region. (Bild: pd/Ben Flumm)
Welchen Einfluss hat die Nachwuchsförderung auf das Publikum?
MS: Es sensibilisiert. Man gibt Acts, die man noch nicht kennt, eine Chance. Später macht es die Leute stolz, wenn sie sagen können: «Hey, diese Band habe ich schon an den MFW gesehen, da waren die noch unbekannt.». Das ist ja auch wieder eine Identifizierung mit uns. Auch innerhalb der Branche haben wir mittlerweile ein bestimmtes Standing, weil viele Musiker:innen gute Erfahrungen gemacht haben.
LW: Dieses Vertrauen wollen wir auch nach aussen vermitteln. So machen wir auf unserer Website beispielsweise keinen Unterschied: Die Acts der Startrampe werden genauso prominent dargestellt wie jene auf der Hauptbühne. Einigen Zuschauer:innen ist es dann tatsächlich nicht bewusst, dass da ein:e Newcomer:in oder eine Nachwuchsband auf der Bühne steht. Das ist ein integraler Bestandteil unseres Festivalkonzepts.
Gab es in der Festivalgeschichte einen besonders schwierigen Moment, an dem das Festival auf der Kippe stand?
MS: Eine echte Herausforderung – nicht nur bei uns, sondern generell in der Kultur – ist die Fluktuation in kleinen Teams. Wenn bei uns im siebenköpfigen Kernteam zwei Leute gleichzeitig gehen, bringt das das Festival mindestens genauso ins Wanken wie eine kurzfristige Headliner-Absage, wie letztes Jahr bei The Smile. Es ist nicht leicht, Leute zu finden, die ins Team passen, die zu den gegebenen Bedingungen arbeiten wollen und das dann auch noch gut machen.
LW: Es gab Phasen, in denen sich das Festival finanziell etwas übernommen hat – unter anderem durch sehr grosse Buchungen, die nicht aufgegangen sind, wie beispielsweise AC/DC. Allerdings hat das wiederum zu einer Bewegung im Verein geführt, dass man auf kleinere Formate gesetzt hat, auf ein Rahmenprogramm. So entstand beispielsweise auch das «Roulotte», mit dem wir mittels Lesungen, Zirkus oder Theater ein breiteres Publikum abholen können.
Was hat sich in den letzten 50 Jahren verändert, was ist geblieben?
LW: Die Zusammenarbeit mit der Stadt, die heute so gut funktioniert – etwa bei Subventionen oder Bewilligungen –, war nicht immer selbstverständlich. Das mussten wir uns mit der Zeit erarbeiten. Heute können wir auf dieser Vertrauensbasis aufbauen. Und auch die beiden Hauptaspekte sind geblieben: Musik und Menschen. Die Musik als zentrales Element, das die Menschen zusammenbringt, und die Menschen, ohne deren Herzblut es die MFW und die Musik nicht gäbe. Und das ist unglaublich beindruckend – jedes Jahr.
MS: Beibehalten haben wir auch den Standort in der Altstadt. Nur selten mussten wir ausweichen – 2021 zum Beispiel, pandemiebedingt. Aber es war auch da schön zu sehen, wie die Leute zu uns hielten und trotzdem kamen. Wir haben damals in drei Parks ausserhalb der Altstadt veranstaltet. Auch das zeigt: Der Fokus auf die Musik und das Miteinander der Menschen, die das Ganze auf ehrenamtlicher Basis möglich machen, sind Pfeiler, die immer erhalten bleiben.
Wie sehen die MFW in Zukunft aus?
LW: Das ist genau die Frage, die wir uns in unserem Jubiläumsjahr stellen. Aus diesem Jahr möchten wir Erkenntnisse gewinnen, die langfristige Wirkungen für den Verein haben. Deshalb veranstalten wir ein Zukunftslabor mit dem Think-and-Do-Tank Dezentrum. Wir wollen überlegen, wie ein Festival in Zukunft aussehen kann, wie sich vielleicht das Hörverhalten verändert, was die Ansprüche und Bedürfnisse der kommenden Generation sind. So können wir unsere Weichen heute schon stellen, um auch in 50 Jahren noch relevant und zukunftsfähig zu sein.
MS: Es geht nicht darum, ein konkretes Bild zu zeichnen, sondern vielmehr darum, verschiedene Einflussfaktoren und deren Entwicklung wie Klima, Politik oder Gesellschaft im Auge zu behalten und zu schauen, wie man damit arbeiten oder dem entgegenwirken kann. Es geht um Mindset und Sensibilität, nicht darum, die Hoffnung u haben, es gäbe eine fixfertige Lösung.
Kommt daher auch das Motto «Haltung statt Hüpfburg»?
LW: Ja. Hüpfburg wäre ja einfach: Wir stellen supergrosse Acts an, vergrössern unser Gelände ums dreifache, stellen dann eine Konfettikanone auf und zünden am Ende Feuerwerke. Das wäre die Erwartung bei einem Jubiläum. Aber der Fokus auf die Haltung führt uns zurück zu unseren Werten, zur Essenz unserer Arbeit. Wir möchten überlegen, wie wir diese beibehalten können.
MS: Eine riesige Show im Stadion mag kurzfristig beeindrucken – aber was bleibt davon? Die Leute kommen, schauen zu und gehen wieder, ohne echte Verbindung zum Festival. Für uns ist es viel wertvoller, tief in der Stadtgesellschaft verankert zu sein. Wenn Menschen immer wiederkommen, sich einbringen, mitdenken oder mithelfen, entsteht eine echte Beziehung. Haltung und Werte sichern unsere Zukunft – nicht Konfetti und Feuerwerk.
LW: Ein weiteres, explizites Ziel dieses Jahr ist auch den ganzen Ermöglicher:innen Danke zu sagen. Damit sind heutige, aber auch ehemalige Helfer:innen gemeint, die vor 30 Jahren schon gearbeitet und mitgedacht haben. Auch Partner:innen, Politiker:innen und Gönner:innen, die uns über all die Jahre begleitet und unterstützt haben, gehören dazu. Wir wollen wertschätzen, was alles schon investiert wurde. Denn nur dadurch stehen wir heute an dem Punkt, an dem wir heute sind.
Also feiert ihr auch ein bisschen?
LW: Ja genau, aber wir wollen eben die Leute feiern, die das Ganze möglich machen und keine Selbstbeweihräucherung betreiben.
Und gibt es ein Highlight in diesem Jahr, worauf ihr euch besonders freut?
MS: Meistens merkt man die Highlights ja erst nach dem Festival. Für mich sind die schönsten Momente eigentlich immer, wenn ein Act noch besser funktioniert, als man gehofft hat – wenn es im Publikum «klick» macht und alle merken: Das war gerade etwas ganz Besonderes. Aber wenn ich in diesem Jahr einen Act herauspicken müsste, wäre das sicher Zaho de Sagazan, die ein Weltstar wird. Es ist schon sehr besonders, dass sie dieses Jahr bei uns spielt.
LW: Ich freue mich besonders auf die neuen Formate wie das Zukunftslabor oder das Musikfestkarussell, wo wir für den Samstagnachmittag einen Spaziergang durch die Altstadt konzipiert haben und alte sowie neue Bühnen entdecken.
Matthias Schlemmermeyer, 1980, aufgewachsen und studiert im grossen Kanton, radelt gerne und nach Etappenankünften im Kula Konstanz, Gare de Lion Wil und KiFF Aarau seit 2013 verantwortlich für das Booking der Winterthurer Musikfestwochen.
Lotta Widmer ist unterwegs: Bei den Musikfestwochen als Co-Geschäftsleiterin (seit 2019), im Nationalvorstand von PETZI und dem Salzhaus Winterthur als Vorständin und sonst gerne in den Bergen.