«Wir wollen die Welt besser machen»

Am Freitag spielt die deutsche Indie-Rock-Band Kettcar am Grabenpark-Festival im St.Galler Stadtpark. Im Interview spricht Sänger Marcus Wiebusch über die Hilflosigkeit vor dem Weltgeschehen, die Kraft der Musik und seine persönliche Krise.
Von  David Gadze

Mittelmeer, Massengrab, so traurig hier, zynisch da
First-defense-konferenzen, Zäune bauen, hoch die Grenzen
Kleingeister verachten, Bilder abgestumpft betrachten
Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot
Die Höhlen verlassen, die Hütten gebaut
Das Feuer gezähmt, den Keulen vertraut
Und dann kam das Rad, dann kamen Kirche und Staat
Und jetzt schreien sie Absaufen in Dresden
Am helllichten Tag

Die ersten Zeilen des neuen Kettcar-Albums Gute Laune ungerecht verteilt zeigen bereits: Hier geht es um die grossen Fragen der heutigen Zeit. Die pointierten Texten der Hamburger Indie-Rock-Band handeln von der Überforderung mit dem Alltag, von Solidarität und Chancengleichheit, von Cancel Culture und viel mehr. Sänger Marcus Wiebusch spricht im Interview darüber, wie er mit den täglichen Herausforderungen umgeht und welche Rolle Musik dabei spielt.

 

Euer neues Album beginnt mit dem Song Auch für mich 6. Stunde, einem Lied über die Überforderung der Menschen mit dem Leben, die Erschöpfung vor lauter Herausforderungen im Alltag, die Ohnmacht vor dem Weltgeschehen. Geht es dir auch so?

Marcus Wiebusch: Nun, wir sind in den letzten paar Jahren vermehrt mit Zumutungen konfrontiert, die es einem schwer machen daran zu glauben, dass sich die Welt in die richtige Richtung bewegt und zu einem besseren Ort wird. Das ist sehr fordernd – auch ich empfinde das so. Und sollte im November in den USA dieser Idiot zum Präsidenten gewählt werden, dann wirds heftig. Ich sehe das nicht entspannt, und ich kann mich diesbezüglich auch nicht entspannen. Auch darum geht es in diesem Song.

 

Wie schützt du dich vor dieser Überforderung?

Es ist ja nicht so, dass ich Tag und Nacht über die Welt sinniere und mir überlege, welchen deprimierten Song ich noch schreiben soll. Ich nehme mir meine Auszeiten und halte mich an Kleinigkeiten fest. Und ich unternehme Dinge, die das Leben lebenswert machen – mich mit Freunden treffen, zum Fussball gehen, Konzerte besuchen, feiern. Aber es ist uns wichtig, in unseren Songs nicht in einen übertriebenen Eskapismus zu verfallen.

Und ein Symbol der Hoffnung zu geben wie den «Bengalo in der Nacht»?  

Man kann das pathetisch finden, aber es muss für uns immer Hoffnung geben. Einen negativen Zustand zu beschreiben und dann am Ende zu sagen, es hat doch alles eh keinen Zweck, oder bloss Liebeslieder zu schreiben – das ist für uns keine Alternative. Wir sind in diese Welt geworfen worden und wir wollen sie besser machen.

Glaubst du daran, dass Musik – eure Musik – etwas zum Besseren wenden kann? Es gibt ja so viele Künstler:innen und Bands, die sich beispielsweise klar gegen rechts positionieren, und trotzdem wird es immer schlimmer.

Musik kann nicht Revolutionen und Umstürze herbeiführen. Aber sie kann Menschen zusammenbringen, die dieselben Wertvorstellungen teilen. Ich habe selber als kleiner Punkrocker Konzerte besucht, und die Ideen und Werte, die mir die Bands da präsentiert haben, ergaben für mich auch deshalb so viel Sinn, weil ich sie mit den Menschen um mich herum teilte. Egal ob 30, 100 oder 500 Leute: Wenn mir die Band aus der Seele spricht, und alle um mich herum fühlen dasselbe, dann macht das was mit einem. Man kann jetzt sagen, das ist nicht viel, es wird keine Veränderungen in der Welt bewirken. Es ist aber auch nicht nichts. Es wird auf jeden Fall dafür sorgen, dass Leute nicht aufgeben.

Ist es euch deshalb so wichtig, in euren Texten Position zu beziehen und Haltung zu zeigen?

Genau. Wenn ich beispielsweise Der Tag wird kommen [ein Song gegen Homophobie im Fussball von Wiebuschs Soloalbum Konfetti, d. Red.] live spiele und sehe, was das beim Publikum auslöst, dann ist das genau so ein Moment, der für mich als Musiker so wichtig und berührend ist – wenn mehrere hundert Leute die Werte teilen, die ich im Song versuche rüberzubringen. Das schafft keine Lesung, das schafft kein Ballett. Das schafft nur Musik.

Apropos Werte teilen mit mehreren hundert Leuten: Euer Song München, in dem ihr über Alltagsrassismus und rechte Gewalt singt, wurde zum Soundtrack der deutschlandweiten Antirechtsdemonstrationen von Anfang Jahr. Hat dir das gezeigt, wie wichtig es ist, da zu sein?

Ja. Der Song ist aber weit vor den Demonstrationen entstanden. Es war Zufall.

 

Du bist Vater von zwei Söhnen im Teenageralter. Machen dir die politischen Entwicklungen Angst?

Ein kleines Beispiel: Klimawandel, Energiewende, CO₂-Ziele – das ist für uns in Deutschland wichtig. Wir haben eine Regierung gewählt, die den Auftrag hat, das umzusetzen. Und jetzt streiten wir wegen Kleinigkeiten wie Wärmepumpen und Tempolimits auf Autobahnen. Aber machen wir uns doch nichts vor: Wenn am 5. November Donald Trump zum Präsidenten gewählt wird, werden die USA am 6. November aus dem Pariser Klimaabkommen austreten. Das wäre der Todesstoss für unseren Versuch, die Energiewende hinzukriegen. Ich finde das besorgniserregend. Die Klimaziele zu erreichen, ist für mich vorrangig, gerade auch als Familienvater.

Fühlst du dich manchmal desillusioniert?

Ich bin Realist genug um zu wissen, dass die Menschen schwierig sind, um es vorsichtig zu formulieren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Weltlage mal schlimmer gewesen wäre. Nichtsdestotrotz habe ich immer noch Hoffnung. Desillusionierung ist für mich eine Form von Aufgabe. Und das ist der alles entscheidende Punkt: Gibt man auf oder kämpft man weiter?

Viele geben auf. Ich habe zumindest den Eindruck, dass mit der angesprochenen Überforderung eine Abstumpfung einhergeht, auch Gleichgültigkeit. Dass man sich gar nicht mehr darum kümmern mag, was in der Welt passiert, weil man mit sich selbst genug zu tun hat. War aufgeben nie eine Option?

Für mich nicht. Aber wie gesagt, ich kann auch Leute verstehen, die sich eskapistisch in andere Bereiche flüchten. Wer bin ich, sie dafür zu kritisieren? Ich will anderen Leuten nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben und was sie denken sollen. Ich versuche nur, meine Werte und Ideen in Songs zu packen. Ich finde es wichtig, Gegennarrative anzubieten, gerade wenn es um rechte Strömungen geht.

Ist Musikmachen dann auch eine Art von Verarbeitung all der Dinge, die passieren?

Verarbeitung klingt so … wie eine Psychoanalyse, bei der man seine Probleme bewältigt. Ich habe das Privileg, dank meinem Talent als Texter Schwingungen einzufangen, die ich in der Gesellschaft feststelle, und Sachen auch für mich selber auf den Punkt zu bringen. Aber das ist keine Verarbeitung, sondern … es macht was Gutes.

Früher ging es euch weniger um Gegennarrative.

Wir haben mit Kettcar verschiedene Phasen durchlaufen. Unser erstes Album von 2002 war bei weitem nicht so politisch, sondern von einem Blick aufs Innere geprägt. Inzwischen sind wir in einer Phase, in der ich so etwas nicht mehr machen kann und will. Sondern ich will Songs schreiben, die auf das Zeitgeschehen reagieren. Das habe ich der Band gesagt und alle fanden das super.

Die «Politisierung» eurer Musik hat schon auf der letzten Platte Ich vs. Wir angefangen. Für dich ist es gewissermassen back to the roots: Du hattest schon bei …But Alive sehr politische Songs geschrieben.

Genau. Unsere politischsten Lieder kann man durchaus in der Tradition sehen von …But Alive. Aber ich glaube, dass ich heute reflektierter bin und, wenn ich das sagen darf, mehr Skills habe, um gute Songs zu schreiben.

Du hattest vor ein paar Jahren eine persönliche Krise, die dich blockiert hat – im Interview mit dem «Rolling Stone» hast du gesagt, du seist «jahrelang lost» gewesen. War Musikmachen in dieser Zeit eine Art Therapie oder eher eine Belastung? Oder anders gefragt: Konntest du während dieser Krise Kraft aus dem Musikmachen schöpfen oder hat es dich umgekehrt viel Kraft gekostet, an diesen Punkt zu kommen, wo ihr wieder Musikmachen konntet?

Songwriting bedeutet für mich, dass ich mich sich sehr schnell sehr hart fokussiere, wenn eine Idee einschlägt. Als diese Krise anfing, war es mir fast nicht mehr möglich, Songs zu schreiben, obwohl ich es wollte. Es lag gewissermassen eine Decke über allem, über jedem Gedanken und kreativen Impuls. Jede Krise geht aber irgendwann vorbei. Doch als es so weit war, hatten wir die Pandemie. Das war doppelt und dreifach bitter.

Inwiefern hatte das einen Einfluss auf das Songwriting?

Musikmachen ist ein Privileg, und es ist eine tolle Möglichkeit, mit Menschen zu kommunizieren. In dem Moment, in dem ich mich mit der Akustikgitarre auf die Bettkante setze, entwickle ich das Gefühl, dass dieser kreative Funken in ein paar Monaten zu einem Song wird, den ich mit den Leuten teilen kann, und sie werden dazu tanzen und darüber nachdenken. Das wurde uns durch die Lockdowns genommen. Als dann das Schlimmste überwunden und die Band wieder voll am Start war, war Musikmachen ein toller Weg, wieder was Sinnhaftes und Geiles zu tun.

 

Dann sind Songs für dich harte Arbeit und nicht etwas, das du aus dem Ärmel schüttelst?

Wir sind keine Mozarts. Früher entstanden unsere Songs wie aus einem Guss. Balkon gegenüber habe ich an einem Nachmittag geschrieben. Das ist heute undenkbar. Ich grüble sehr viel, vor und zurück. Das muss nicht schlecht sein, denn dabei kommt oft etwas heraus. Trotzdem wünsche ich mir manchmal, dass es so leicht und easy wie damals gehen würde. Ich frage mich dann, wie ich es damals geschafft habe, in so kurzer Zeit einen solchen Song zu schreiben. Heute fehlt vielleicht ein bisschen die Leichtigkeit von damals, dafür werden die Songs unter dem Strich besser. Und die Leute in meinem Freundeskreis, die auch schon so lange Musik machen, bestätigen mir, dass es mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird, schnell Ergebnisse zu erzielen.

Weil die Gefahr der Wiederholung lauert?

Nicht nur deswegen. Sondern weil man immer noch etwas findet, was den Song noch besser machen könnte. Dabei ist es ab einem gewissen Punkt eigentlich egal.

Hat sich also die Art, wie ihr als Band arbeitet und komponiert, über all die Jahre stark verändert?

Auf jeden Fall. Wir sind heute eine ganz andere Band als 2001, als wir gestartet haben. Die grosse Zäsur war sicherlich 2014 mein Soloalbum.

Inwiefern?

Ich fand unsere Arbeitsweise damals nicht mehr gut und zielführend. Deswegen nahm ich dann auch das Soloalbum auf. Danach haben wir uns zusammengesetzt und überlegt, wie wir beim nächsten Kettcar-Album arbeiten wollen und diese Sprachlosigkeit, die damals in der Band herrschte und mich zum Soloalbum führte, überwinden können. Und dann haben wir verschiedene Sachen geändert, die bis heute Bestand haben.

Zum Beispiel?

Zum einen tauschen uns Reimer [Bustoff, Bassist und Mitgründer von Kettcar, d. Red.] und ich in der harten kreativen Phase sehr intensiv aus über die Themen in den Texten. Zum anderen treffen wir uns während des Schreibprozesses oft mit der gesamten Band und reden dann einfach über das Leben, hören Musik und versuchen herauszufinden, was in uns noch schlummert, das wir gemeinsam ans Tageslicht bringen könnten. Und: Wir reden darüber! Das war eine Zeitlang nicht mehr so. Für mich als Songwriter ist es aber sehr inspirierend, wenn mir einer der anderen eine Idee zeigt.

Dich störte also, dass ihr gar nicht gesprochen habt über eure Musik?

Genau. In den Anfangsjahren von Kettcar brachte ich viel mehr Ideen in die Band als heute. Ich bin mit fast fertigen Songs in den Proberaum gekommen, und die anderen fanden sie in der Regel gut. Reimer steuerte auch ein, zwei Songs bei, und dann nahmen wir sie auf. Heute ist es eher so, dass ich mit einem ersten Demo ankomme, das auch eine textliche Idee enthält, und dann reden wir sehr viel darüber. Ich bin nicht der eitle Zampano, der erwartet, dass die Songs genau so bleiben, wie ich sie mir ausgedacht habe.

Ist es für dich wichtig, seit ein paar Jahren mit Reimer einen Sparringpartner zu haben, der ebenfalls Texte und Musik schreibt?

Ja, total. Jemanden in der Band zu haben, der selber kreativ ist und Songs schreibt, die wir sogar als Singles veröffentlichen können wie im Fall von München, ist unglaublich entlastend. Und es tut der Musik gut. Das ist wie bei Lennon und McCartney: Es sind sich wohl alle einig, dass erst die beiden zusammen die Beatles ermöglicht haben. Jeder für sich war auch ein super Songwriter, aber die eigentliche Magie entstand durch das Gemeinsame. Du siehst, das ist die Referenzgrösse, an der wir uns messen (lacht).

 

Kettcar live: 30. September, 20 Uhr, Stadtpark St.Gallen (Grabenpark-Festival zum 40-Jahr-Jubiläum der Grabenhalle)
ebenfalls dabei: Pyrit, EDB, Leila, Damiana Malie