, 21. April 2016
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Wo der Löwe fliegen kann

Seit 14 Jahren gibt es die Kleine Kunstschule St.Gallen. Doch insgesamt hinkt die Schweiz bei der künstlerischen Frühforderung hinterher. Das soll sich ändern: unter anderem dank einer Tagung und einer Ausstellung an der Gewerbeschule.

Gibt es in Finnland seit Jahren: Ein weit verzweigtes Netz von Jugendkunstschulen (Bilder: Kleine Kunstschule)

So soll das sein: Das älteste Kind der Runde – kinnlanger Wuschelkopf und Strickpulli – macht sich mit gefördertem Selbstbewusstsein ans Werk. Keine Sekunde Zögern, bevor er sich das passende Holzbrett zurechtgelegt hat, eine kleine Holzplatte darauf anpasst und mit zwei, drei Schlägen Nägel durch das Holz jagt. Etwas angeödet beantwortet er die Frage, wo er das so gut gelernt habe. Schliesslich hat er zu tun: Ein Nachtischchen soll es werden – und zwar nicht irgendeines, sondern eine Deluxe-Version mit integriertem Comicständer. Den schenke er einem Freund zum Geburtstag. Und nein, das Werken habe er nicht erst hier gelernt. «Das kann ich schon lange.»

Weniger aktivistisch: der kleine Bruder. Verträumt mischt er an einem grossen Tisch Farben zusammen. In der Hand ein gekleistertes Tier: Schwanz, Flügel, runder Kopf. Ein Vogel? «Nein, das ist ein Löwe – der fliegen kann», korrigiert der Bub. Um sich dann an seinen grossen Bruder zu wenden: «Gibt es überhaupt Nachttischchen mit Comicständer?».

Kleine Schule für Kleine und Grosse

Mittwochnachmittag, eben hat es noch «geräbelt» in der kleinen Kunstschule. Nun ist die ruhigere Kindergruppe eingetroffen: Vier Kinder bloss, die alle konzentriert an ihren Werken sitzen. «Wenn er einen Comicständer mit Nachttischen baut, dann gibt es das doch nachher», beantwortet Kursleiterin Aurelia dem Buben mit dem gefiederten Löwen seine Frage. «Das ist doch wie mit deinem Fabeltier hier.»

Lucia Andermatt beobachtet die Szene mit einem zufriedenen Lächeln. 14 Jahre ist es her, dass sie – ausgebildete Werklehrerin und vierfache Mutter – die Kleine Kunstschule mitbegründet hat. Inzwischen ist sie die einzige aus dem Gründungsteam, die noch aktiv im Vorstand dabei ist: «Ich kann irgendwie nicht loslassen. Das ist wohl eine meiner Schwächen.»

Es ist eine Schwäche, die viel bewirkt hat. Die Kleine Kunstschule ist so geworden, wie sich Lucia Andermatt das damals vorgestellt hatte: ein Studiohäuschen mitten im alten Garten eines alten Linsebühler Herrenhauses. Von den Decken hängen abgesägte Äste, an den Wänden Bilder und Werkzeuge. Kursleiterinnen wie Aurelia Hostettler, die an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) Vermittlung von Kunst und Design studiert, unterrichten hier Kinder von der Unterstufe bis zur Vorbereitungsklasse für gestalterische Aufnahmeprüfungen.

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Fünf oder sechs der Kunstschul-Kinder, blickt Andermatt zurück, hätten bislang an die Talentschule für Gestaltung gewechselt – oder aber die Aufnahmeprüfung des Vorkurses für Gestaltung an der Gewerbeschule bestanden. Doch das nur am Rande: «Es geht ja hier nicht primär um Leistung, sondern um eine Förderung ohne schulischen Druck. Die Kinder sollen sich ausprobieren können und lernen, produktiv zu werden – ohne dass man sie ständig anleitet.»

Finnland als Vorbild

Die Idee für die Kleine Kunstschule St.Gallen kam Andermatt, als sie noch in ihrer Ausbildung an der Zürcher Schule für Gestaltung steckte. Eine Referentin aus Finnland erzählte davon, wie Kunst in ihrer Heimat gefördert werde. Andermatt war begeistert. In Finnland gab es schon damals ein weit verzweigtes Netz von sogenannten Jugendkunstschulen. Heute ist das Netz im hohen Norden flächendeckend – und die Einrichtungen werden von der öffentlichen Hand getragen.

Auch in Deutschland, den Niederlanden und Belgien gibt es mittlerweile ein weit verzweigtes Netz an Jugendkunstschulen. In der Schweiz hingegen ist man von solchen Dimensionen weit entfernt: Neben St.Gallen gibt es zwar in vielen anderen Städten grössere und kleinere Projekte, doch es fehlt an einer gemeinsamen Strategie und einheitlichen Standards.

Ein Zusammenschluss aus Fachpersonen will dies nun ändern: Letzten Herbst haben Vertreter verschiedener Kunstschulen die «Konferenz Bildschulen Schweiz» gegründet. Inoffiziell treffen sich die Fachleute schon länger, um gemeinsam Strategien und Ziele zu entwickeln.

Lucia Andermatt nimmt seit zwei Jahren an den Treffen teil. «Für uns als kleine Bildschule ist das eine grosse Herausforderung», sagt sie. «Wir wollen uns einerseits stark machen dafür, dass mehr Schulen nach unserem Vorbild entstehen.» Andererseits fürchte man auch etwas um die eigene Identität, «wenn die nötige Diskussion um gemeinsame Standards und Professionalisierung geführt wird».

Die Kleine Kunstschule St.Gallen finanziert sich vollumfänglich privat und durch Stiftungsbeiträge – während etwa in Bern und Basel längst der Kanton involviert ist. Das K-Werk in Basel ist nebst der Kleinen Kunstschule St.Gallen die älteste «Bildschule» der Schweiz, der kantonalen Schule für Gestaltung angeschlossen – und am besten aufgestellt.

Aus Basel kommt denn auch die Initiative für die Wanderausstellung «Bauplatz Kreativität», die vom 30. April bis am 20. Mai an der Gewerblichen Berufsschule St.Gallen zu sehen ist – samt Symposium am Eröffnungstag.

Die Gerechtigkeitsfrage stellen

Die Ausstellung will Fragen aufwerfen: nicht nur danach, wie Kreativität am besten vermittelt wird. Sondern auch danach, wer diese Aufgabe übernehmen soll. «Das Ziel wäre, dass es irgendwann in allen Kantonen Bildschulen gibt», sagt Andermatt. «Vielleicht mit unter- schiedlichen Finanzierungsmodellen, aber die Angebote müssen zugänglicher werden. Derzeit ist es leider so, dass wir trotz vieler Bemühungen eher Schüler erreichen, die in einem privilegierten Umfeld aufwachsen, mit Eltern, die sie entsprechend fördern wollen. Aus diesem Grund haben wir die Kurskosten um 30 Prozent gesenkt und einen Pool für einkommensschwache Familien gegründet.»

Brigitte Wiederkehr, stellvertretende Leiterin des kantonalen Amtes für Volksschulen, sieht das ähnlich: «Es ist eine Frage, was die öffentliche Schule leisten muss. Bei ausserschulischen An- geboten muss man darüber hinaus die Gerechtigkeitsfrage stellen: Zugängliche und finanzierbare Angebote gibt es im Sport- und Bewegungsbereich derzeit weit mehr als im gestalterischen Bereich.»

Ausstellung Bauplatz Kreativität:
30. April (Vernissage) bis 20. Mai, GBS St.Gallen

Symposium: 30. April, 10 bis 17 Uhr, u.a. mit Max Fuchs, Thomas und Martin Poschauko
Infos und Anmeldung (bis 23. April): kleinekunstschule.ch, gbssg.ch

Matinée und Fest: 1. Mai, 10 bis 15.30 Uhr, u.a. World Café mit Brigitte Wiederkehr, Mirjam Schegg, Markus Buschor, Anna Beck Wörner, Thomas Lüchinger, Hans Guggenheim, Regula Pöhl, Cyrill Stadler, Alfreid Liechtensteiger, Christoph Meili, Hans Reckhaus, Ruedi Preisig, Lilian Geiger-Heim.

 

 

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