, 10. Januar 2023
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Wo Recht zu Unrecht wird

Dieser Tage wird auf Lesbos 24 Senotretter:innen der Prozess gemacht, weil sie Menschenleben gerettet haben. Arno Tanner hat einen von ihnen, Seán Binder, getroffen.

Seán Binder 2021 vor dem Camp auf Lesbos (Bild: Nazanin Foroghi, ReFocus MediaLabs)

Wir schreiben den 21. August 2018. Sara Mardini befindet sich gemeinsam mit ihrer guten Freundin Claudia auf dem Weg zum Flughafen auf Lesbos. Nach mehreren Monaten der humanitären Arbeit reist Sara zurück nach Berlin, um ihr Studium fortzusetzen.

Doch Sara wird nie in Berlin ankommen. Noch bevor sie den Flughafen von Lesbos betritt, kommen zwei Zivilpolizisten auf sie zu und nehmen sie fest. Die Vorwürfe: Beihilfe zu Menschenschmuggel, Geldwäsche, Spionage und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. Was wie der Start eines Films klingt, ist der Auftakt für einen weiteren Prozess zur Kriminalisierung von humanitärer Arbeit.

Einige Stunden später will Seán Binder seine Kollegin Sara auf dem Polizeirevier von Mytilini besuchen und wird sogleich auch inhaftiert. 106 Tage sitzen Sara Mardini, Seán Binder und Nassos Karakitsos in griechischer Untersuchungshaft.

Seán Binder und Sara Mardini 2018 auf Lesbos (Bild: zVg. freehumanitarians.org)

Seán ist in Irland aufgewachsen und ausgebildeter Rettungsschwimmer. Nachdem er gehört hatte, dass Menschen an den Aussengrenzen Europas ertrinken, sah er sich in der Verantwortung, etwas dagegen zu unternehmen. Diese Verantwortung brachte Seán nach Lesbos.

Ich lernte Seán Binder kürzlich auf Lesbos kennen und hatte die Möglichkeit, mit ihm über den Prozess zu sprechen.

Saiten: Seán, gemeinsam mit Sara, Nassos und 21 weiteren Personen bist du angeklagt für das Retten von Menschenleben. Nach mehr als vier Jahren der Unsicherheit findet nun am 10. Januar der nächste Prozesstag statt. Was erwartest du von diesem Tag?

Seán: Wir alle erwarten, dass sich diesmal das griechische Gericht als kompetent erweist, diesen Prozess durchzuführen. Wir sind seit August 2018 bereit, uns vor Gericht zu stellen. Wir wissen, dass wir unschuldig sind, und sind bereit, diesen Fall abzuweisen. Wir hoffen, dass die Staatsanwaltschaft diesmal ihren Verfahrenspflichten nachgekommen ist und sich nicht wiederholt, was wir letztes Jahr erlebt haben. Da musste unser Prozess am 18. November 2021 wegen schwerwiegender Verfahrensfehler vertagt werden.

Was für Verfahrensfehler waren das?

Anklageerhebung nur gegen einige Angeklagte, mit fehlenden Seiten oder ohne klar anzugeben, welcher Straftaten Einzelpersonen angeklagt wurden. Oder die Herausgabe von nicht übersetzten Anklagen. Ausserdem war nicht allen Angeklagten die Anwesenheit bei ihrem eigenen Verfahren gestattet.

Um gleich mal über den letzten Punkt deiner Auflistung zu sprechen: Im vergangenen November wurde Sara die Einreise nach Griechenland verweigert. Als sie in Untersuchungshaft sass, wollten die griechischen Behörden sie jedoch nicht ausreisen lassen, da sie sonst nicht zu ihrem Prozess zurückkehren würde. Wie könnt ihr noch von einem fairen Verfahren ausgehen, wenn solche Taktiken angewendet werden?

Wir bleiben zuversichtlich, dass sich die Misserfolge und die Fehler des letzten Jahres nicht wiederholen werden. Von der Justiz eines EU-Mitgliedstaates müssen wir einfach mehr erwarten. Wenn unser Verhandlungstermin am 10. Januar weitere Versäumnisse und Fehler in grundlegenden Verfahrenspflichten bringt, müssen wir ernsthaft in Frage stellen, ob die griechische Justiz glaubt, dass dieser Fall überhaupt Substanz hat. Sie sollte zeigen, ob sie die ehrliche Absicht hat, uns strafrechtlich zu verfolgen, oder ob sie einfach nur versucht, die Kriminalisierung ohne das Recht auf ein faires Verfahren zu systematisieren.  Darüber hinaus haben wir das Gericht auf Lesbos über seine Pflichten und unsere Rechte in diesem Fall informiert, einschliesslich der Bereitstellung von Übersetzer:innen. Wir haben auch Saras Einreiseverbot in den Wochen vor dem Prozess angefochten. Unser Antrag wurde aber sieben Mal abgelehnt.

Das klingt nach Willkür.

Man könnte argumentieren, dass die Strafverfolgung so lange hinausgezögert wurde, dass sie selbst eine Form der Verfolgung darstellt. Wenn man aber einen Schritt zurückgeht, ist es nicht nur eine Frage des fairen Verfahrens. Wir dürfen nicht vergessen, dass Prozesse wie diese auch Lärm erzeugen. Dieser Lärm lenkt uns von der Tatsache ab, dass es ein Grundrecht ist, Asyl zu beantragen und zu leben. Die Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, ist ebenso ein Gesetz für Such- und Rettungsmissionen. Was wir getan haben, war einfach, diesem Gesetz zu folgen. Die Staatsanwaltschaft sollte sicherlich dasselbe tun.

Der Ausgang dieses Prozesses könnte zu einem Präzedenzfall in der humanitären Arbeit in Griechenland werden. Gehst du davon aus, dass das Urteil weiter verschoben wird, um das zu verhindern?

Leider ist dieser Fall bereits ein Präzedenzfall für Organisationen, die in Griechenland in der Seenotrettung tätig sind. Seit 2019 sind keine Such- und Rettungsorganisationen mehr in der Ägäis präsent. Wenn der Prozess erneut verschoben würde, wäre es schwierig, ihn anders zu interpretieren als einen Fall, der auf politischen Vorurteilen aufbaut. Es wäre klar, dass der Prozess darauf abzielt, Such- und Rettungsmissionen in Griechenland zu verhindern, und nicht darauf, Personen zu verfolgen, von denen die Ermittler:innen behaupten, schwere Verbrechen begangen zu haben.

Euch drohen nun bis zu 20 Jahre Gefängnis. War es das wert?

Was würdest du tun, wenn nach einem Unfall jemand am Strassenrand liegt? Was würdest du zuerst prüfen: den Puls oder den Pass? Wenn du, wie ich, zuerst den Puls prüfst, hast du genau das gleiche Verbrechen begangen, das ich angeblich begangen habe. Natürlich würde ich es wieder tun. Die meisten Leute würden Hilfe anbieten. Mir wird oft gesagt, dass ich durch die Hilfe für Nichteuropäer:innen eine Bedrohung nach Europa lasse. Eine, die unsere «europäischen Werte» von Frieden und Gerechtigkeit bedroht. Aber wenn wir Menschen in unseren Meeren ertrinken lassen, dann haben wir unsere Werte von Frieden und Gerechtigkeit längst verloren.

 

Arno Tanner, 1995, war von August bis Dezember 2022 zum dritten Mal als humanitärer Helfer für Europe Cares e.V. und Paréa Lesbos auf Lesbos. Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.

freehumanitarians.org

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