, 8. November 2018
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Wünschelrute und Trüffelhund

Was bringt Artist-in-Residence-Förderung? Auf die Frage gibt es in St.Gallen gleich zweimal Antwort. In der «alten» Vadiana dokumentiert Künstler Peter Kamm seinen Rom-Aufenthalt in der Auseinandersetzung mit dem Kulturhistoriker Aby Warburg. Und im Nextex sind die Paris-Stipendien der visarte Thema.

Ein göttlicher Lockenkopf steht auf dem Fensterbrett, durch die Scheibe glänzt ein Auto. Der Gott ist ein billiges, auf einem Flohmarkt in Rom erworbenes Duplikat der berühmten Darstellung des Laokoon im Todeskampf – jener Skulpturengruppe, die in der Renaissance das Interesse an der Antike befeuert hatte wie 400 Jahre später auch den Renaissance-Forscher Aby Warburg.

Die Antike drinnen und die Gegenwart draussen im Dialog – das passt bestens zur Ausstellung «Lift-Off» in der Vadiana.

Der Lift ist dabei wörtlich zu nehmen: Der schwarze eingekleidete, baustellenartige Kubus in der Saalmitte simuliert den wirklichen Lift, der zur Atelierwohnung in der Via dei Latini 18 in Rom führt. Peter Kamm hat ihn in jenem Atelier-Sommer 2016 benutzt und phasenweise zum Warburg’schen «Bilder-Fahrzeug» umfunktioniert.

Hier in der Ausstellung ist der Lift tatsächlich «off» – dafür gefüllt mit Bildzitaten, Zeichnungen und Collagen des «Funky Bunch», jener Gruppe von Künstler-Kolleginnen und -Kollegen, die sich wie Kamm die Erforschung und Neu-Inszenierung des Werks von Aby Warburg zum Ziel gesetzt haben.

Der Ausstellungsraum in der Vadiana (Bild: Ilija Lazarević)

Aby Warburg (1866 – 1929) war ein begnadeter Bildersammler und -Entzifferer. Als Hamburger Bankierssohn hatte er die Mittel dazu, als Kunstgeschichtler mit interdisziplinärer Neugier wurde er zu einem der Begründer der Kulturwissenschaften. Warburgs Mnemosyne, sein überquellender und zu gewaltigen Bildtafeln zusammengesetzter Bilder-Atlas von der Antike bis zur Renaissance, war bereits zweimal in St.Gallen zu sehen: 2013 und 2016 im inzwischen nicht mehr existierenden Kulturraum am Klosterplatz.

«Lift-Off»: Ausstellungssaal der Vadiana, Notkerstrasse 22, bis 10. November, Do/Fr 9-11 Uhr, Sa 11-16 Uhr, mit Arbeiten von Robert Ohrt, Aneta Corović, Anna Gröger, Marcel Hüppauff, Christian Rothmaler, Felix Boekamp und Ilija Lazarević. Katalog im Harpune Verlag Wien

Fragmente und Collagen

Fragmentarisch wie der Atlas selber (bedingt durch Warburgs frühen Tod) sind jetzt auch die Bilder, Installationen und Vitrinen im Ausstellungssaal der Kantonsbibliothek. Sie bündeln sich zu Themenkreisen, etwa «Schlangen» oder «Masken», die Warburg beschäftigt hatten. Felix Boekamp und Ilija Lazarević denken in akkurat geklebten Collagen Warburgs assoziatives Motivdenken weiter. Von Roberto Ohrt, dem Kopf der Warburg-Rekonstruktionsforschung des Hamburger Salons 8, gibt es Postkarten zu sehen, von Peter Kamm selber Maskensteine und Zeichnungen.

Vertiefung bietet die im Harpune-Verlag erschienene Publikation. Ihr Cover trägt einen Aufkleber «occupato» – es lässt sich aber wie Lifttüren öffnen und gibt den Blick auf zwei Broschüren frei. Die eine versammelt Fotografien des Lifts, die andere gibt unter dem Titel «Mit Kamm in Rom» Auskunft über die Recherchen des Künstlers im Rahmen seines Rom-Aufenthalts.

Warburg, der 1928/29 in Rom gelebt und für seinen Bilderatlas geforscht hatte, diente Kamm und seinen Freunden dabei als «Wünschelrute und Trüffelhund», schreibt Ursula Badrutt im Begleittext zur Publikation. Die Wege führen in Roms Museen, in den Vatikan, in Parks, zu Strassen und Plätzen, wo die antiken Fundstücke allgegenwärtig sind. Dazwischen mischen sich fotografische Schnappschüsse des urbanen Alltags.

Rom streichen, Rom retten…

Peter Kamm hat von seinem Rom-Aufenthalt reiche «Bilder-Fahrzeuge» nach Hause gebracht, wie die nur noch diese Woche zu sehende Ausstellung und das Buch belegen. Dabei war das Stipendium noch vor kurzem auf der Kippe gestanden.

2013 hatte der Kantonsrat die Beiträge an die Wohnung im Rahmen eines umfassenden Sparprogramms gestrichen. Daraufhin gründeten drei Kulturliebhaber den Verein «Freunde Kulturwohnung Rom» und übernahmen vorübergehend die Mietkosten. Diese private Zwischenfinanzierung läuft Ende 2018 aus. Das Amt für Kultur musste daher eine neue Lösung suchen und fand sie in einer überkantonalen Kooperation. Die Wohnung im Römer San Lorenzo-Quartier wird in einem zweijährigen Turnus gemeinsam mit Graubünden und dem Fürstentum Liechtenstein ausgeschrieben; im Gegenzug können sich St.Gallerinnen und St.Galler neu auch für ein von Liechtenstein finanziertes Berlin-Stipendium bewerben, mehr dazu hier.

«Suisse Orientale 1431»: Ausstellung zum Paris-Stipendium der visarte, bis 23. November, Nextex St.Gallen. Podiumsdiskussion: Do 8. November 19.30 Uhr

Wie andere Kunstschaffende von ihrem Auslandaufenthalt profitieren – nicht von Rom oder Berlin, aber von Paris -, zeigt zufällig zeitgleich der Ausstellungraum Nextex im Kulturkonsulat. Dort findet heute abend zudem eine Diskussion über Wert und Nutzen solcher Artist-in-Residence-Förderung statt.

 

 

 

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