, 15. August 2024
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Zum Abschluss ein Fest

Die Zwischennutzung Gärtnerei in Altstätten ist bald Geschichte. Sechs Jahre lang wurde hier gelebt, gearbeitet, gegärtnert, kreativ gewirkt und gefeiert. Das soziokulturelle Experiment erhielt schweizweit Aufmerksamkeit und endet dieses Wochenende mit einer grossen Sause.

Containerbauten und viel Grün: Die Zwischennutzung Gärtnerei Altstätten ermöglicht Wohnen, Arbeiten und kreatives Wirken in nachhaltigem Umfeld. (Bilder: pd)

Der Vergleich der Drohnenbilder zeigt, was seit 2019 auf diesem Areal mitten in Altstätten entstanden und gewachsen ist. Zu Beginn lag die ehemalige Baumschule der Gärtnerei Müller brach, heute sind die angelieferten und meist eigenhändig ausgebauten Tiny-House-Container teils wieder üppig überwuchert mit kultivierten Schlingpflanzen und anderem Grün. In einer Ecke versuchte man ein Biotop einzurichten, doch der Untergrund schien dazu nicht geeignet. Leben eingekehrt ist auf dem Gelände dennoch.

Ein paar Schleichwege haben sich als festgetrampelte Durchgangswege etabliert. Besonders der Steg hinüber zum angrenzenden Coop hat sich bewährt. Der Grossverteiler hat hierfür während der ganzen Zwischennutzung einen seiner Parkplätze freigehalten.

Da ging was: Das Gärtnereiareal 2018 vor der Zwischennutzung …

… und 2022 im praktisch vollausgebauten Zustand. (Drohnenbilder: pd/Michael Fenk)

Wir treffen uns mit den Initiant:innen zum Gespräch im Gartencafé unter einer grosszügigen Holzpergola – oder eher: Holzhalle, die die letzten Jahre als zentraler Treffpunkt, Ess-, Trink- und Grillstelle und auch als Freiluft-Znüniraum für Berufsschüler:innen und Arbeiter:innen von ausserhalb des Projekts fungierte. Ein paar Hühner picken um uns herum nach Futter.

Temporärquartier

«Es hat eine gewisse Quartierbildung stattgefunden», freut sich Architekt Roger Graf, einer der Initianten des Projekts. «Die Leute vom Staatssekretariat für Migration kommen manchmal hierher zum Zmittag. Und es hat sich so etwas wie eine Nachbarschaft entwickelt.» Inklusive diesem einen Anwohner, der immer etwas zu reklamieren hat und den es wohl in jedem Quartier in der Schweiz gibt.

Angrenzend ans Areal, wo 2019 noch Kühe grasten, stehen heute Wohnblocks. Ein Bub aus der Nachbarschaft hat auf dem Gelände in einem ausrangierten Bus seinen eigenen Flohmarkt eingerichtet, immer mittwochs und samstags, dann, wenn auch mehr Leute zum Käfelen in die alte Gärtnerei kommen.

Bei denen, die nicht regelmässig herkamen und das Projekt schon immer beargwöhnten oder belächelten, hielt sich hartnäckig das Vorurteil einer arbeitsscheuen Kiffer-Kommune. Dagegen liess sich kaum etwas machen, da blieb das Rheintal Rheintal. Wer aber genauer hinschaute, sich hintraute, erlebte eine kreative und tatkräftige Gemeinschaft.

Auf dem Gelände stehen – noch bis spätestens Ende Oktober – nicht nur Wohncontainer. Im alten Lagerschuppen ist eine Velowerkstatt eingerichtet, in Containern eine Schreinerei, eine Keramik-Töpferei, ein Massagestudio, ein kleines Kulturbüro. Und Manuela Oesch Olowu hat hier ihr Leder- und Nähatelier eingerichtet und vor allem Taschen und Rucksäcke repariert.

«Viele Ressourcen und Kompetenzen haben sich hier auf dem Gelände versammelt», sagt sie. Es sei immer ein Miteinander gewesen, man hat sich gegenseitig unterstützt und beraten. 15 Personen haben hier bis vor kurzem gelebt, einige sind bereits weitergezogen. Es war eine grosse WG auf Zeit. Das ist jetzt vorbei. Manuela wird ihren Container bald auf dem Grundstück ihres Elternhauses in Rebstein aufstellen.

Von links: Roger Graf, Thomas Oesch, Manuela Oesch Olowu und Fiona Tobler (Bild: hrt)

Auch für Mitinitiantin Fiona Tobler wird es ein Abschied. Seit sechs Jahre lebt sie auf dem Areal. Die Farbe, mit denen sie den RUAG-Schriftzug auf ihren eineinhalb gestapelten Schiffscontainern übermalt hat, hat der Regen wieder fortgewaschen. Sie findet es schade, dass dieses soziokulturelle Experiment beendet ist, doch sie kann sich auch gut damit abfinden. Seit klar war, dass auf dem Gelände keine weitere Verlängerung der Zwischennutzung möglich wird, ist auch die Energie im Vorstand etwas verpufft, hier weiter in die Zukunft zu planen.

Gärti-Fest – Grande Finale: krönender Abschluss der Zwischennutzung Gärtnerei Altstätten mit Bar, Essensständen, Räumungsverkauf, Vintage-Velos und vor allem viel Musik u.a. von Junipa Gold, Stella & Sebastian und Worries And Other Plants: 16. und 17. August, Zwischennutzung Gärtnerei Altstätten

zwischennutzung-gaertnerei.ch

Am Engagement im Hier und Jetzt ändert dies selbstredend nichts. Die Vorbereitungen aufs letzte grosse Gärti-Fest dieses Wochenende laufen auf Hochtouren und auch die Räumung des Geländes ist aufgegleist. Dieses wird im November der Besitzerfamilie zurückgegeben. Die Projektverantwortlichen finden nur positive Worte über die Eigentümer sowie die Behörden, welche die Zwischennutzung mit Entgegenkommen und dem Ausreizen regulatorischer Vorgaben erst ermöglicht haben. So konnten trotz vielfältigster und kreativer Nutzung des Gebiets die Gesetze stets eingehalten werden.

«In einer anderen Gemeinde der Region wäre so ein Projekt vermutlich nicht möglich gewesen», sagt Thomas Oesch, ebenfalls Mitinitiant der Zwischennutzung. «Eigentümerfamilie und Behörden haben uns immer grosses Wohlwollen entgegengebracht. Ohne sie wäre die Zwischennutzung Gärtnerei nicht denkbar gewesen.» Die anderen pflichten Thomas bei.

Die Natur kehrt zurück

Nachhaltigkeit wird in der Zwischennutzung nach wie vor gross geschrieben. Ein Grossteil der Bauten wurden mit wiederverwertetem Material erstellt. Die Unterstände der drei fixstehenden Campingbusse sind aus den Überresten eines abgerissenen Stalls aus der Region zusammengezimmert. So wurde etwa aus dem alten Scheunen- ein Garagentor mit Vintage-Flair. Und vieles vom verbauten Material soll auch nach Abbruch in irgendeiner Form wiederverwendet werden. So gut wie eingetütet ist die Übernahme des rollstuhlgängig ausgebauten Toilettencontainers durch das Areal Bach in St.Gallen-St.Fiden.

Die ungewöhnliche Mischnutzung des Areals – Wohnen, Arbeiten, Kultur – hat wesentlich zur Ausstrahlung des Altstätter Projekts über die Region hinaus beigetragen. FM1 und Sat1 waren zu Besuch. Das «Zeitpunkt»-Magazin schrieb in einem Beitrag über Kleinwohnformen vom «aktuell interessantesten Projekt der Schweiz». SRF hat eine «Ding Dong»-Folge bei einer Gärti-Bewohnerin gedreht. Eine Studentin der Uni Bern hat das Projekt in ihrer Untersuchung zur Tiny-House-Bewegung kulturhistorisch eingeordnet, und auch eine Maturaarbeit wurde verfasst.

Jetzt wird gemunkelt, dass ein reich illustriertes Buch zum Projekt entstehen soll. Bis dieses Publikationsreife erlangt, wird hier aber längst wieder Ruhe eingekehrt sein. Die domestizierten Hunde, Hühner und Enten werden das Gelände wieder ihren wilden Freunden überlassen. Und der Marderhund, der hier von Anfang an für Gesprächsstoff sorgte, jedoch nur selten gesichtet und zuletzt kaum noch gehört wurde, ist allem Anschein nach wieder hierher zurückgekehrt. Der Gärti-Kreis schliesst sich.

 

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