Ich flieg durchs Aug des Augenblicks – so lautet der Titel des Lyrikbandes von Andrea Berlinger, und bleiben wir doch gleich einen Moment hier, bei diesen Worten, die so vielen weiteren voranstehen. Sie sind ein Flug durch viele Momente, Ereignisse und Situationen des Lebens, ein wilder Ritt vom Kleinsten ins Universelle, vom Innersten in die Welt dort draussen und wieder zurück. Gespeist aus Beobachtungen und Reflexionen – es geht tief hinein, in die Mitte, in das Auge des Wirbelsturms, der uns Tag für Tag und ein Leben lang umgibt; in dem es vielleicht manchmal schwer ist, die Ruhe zu finden und sie zu bewahren.
Und genau dafür ist die Poesie ein mächtiges Tool, denn um sie zu begreifen, müssen wir innehalten, die Welt im Aussen still werden lassen und in uns hineinhorchen. Dann können die Worte eines Gedichtes uns berühren, Bilder aufwecken und uns staunen lassen. Aber das gelingt natürlich nicht im Vorübereilen. Für einen Lyrikband braucht man Zeit. Erfahrungsgemäss legt man ihn an einen gut greifbaren Ort, zum Sofa, auf den Nachttisch, oder trägt ihn in einer Tasche mit sich herum, um immer einmal wieder darin zu versinken.
Zwischen Klarheit und Pathos
Bei Berlinger finden wir zumeist Einwortverse, die einzelnen Worte also aufeinandergestapelt, untereinander gereiht,jedes für sich erhält die Bedeutung eines ganzen Verses und lädt damit ein, in die Langsamkeit zu gehen und Wort für Wort wirken zu lassen. Damit erhalten die einzelnen Gedichte eine schon fast sakrale Bedeutung, eine Erhabenheit, sie schwingen nach und sinken tief. Und das passt gut zu den Inhalten, denn es geht viel um Veränderung undTransformation. Um Selbstfindung und Im-Moment-Sein. Die Verse sind wie kleine Lebensratgeber – zumindest laden sie dazu ein, sich selbst zu hinterfragen und zu beleuchten.
Berlinger bedient sich in ihrer Wortwahl vieler klassisch anmutender Naturmetaphern. Es geht um zarte Bäume,Lichterhüllen und all die Frequenzen des Universums. Es zeigen sich wilde Gänse, kampfbereite Adler, gedrosselte Hähne und verfressene Spatzen. Zeitweise verlassen wir die Welt und reisen mit den Planeten durchs Universum – es wird also ätherisch, nicht mehr greifbar, spirituell, dann wieder ganz bodenständig. Dazwischen mischen sich erfrischend ungewohnte Worte und Bilder von Colabrausepulver, Yep-Momenten und Künstlicher Intelligenz.
Stilistisch bewegt sich der Lyrikband zwischen Klarheit und Pathos. Die einzelnen Gedichte changieren zwischen nüchternen Beobachtungen und bildhaften Ausschmückungen. Hier zeigt sich die Suche nach einer Sprache, die Rationalität und Gefühl, Pragmatik und Fantasie verbindet – nach einem ganzheitlichen Ausdruck. Und hierfür ist die Poesie eine willkommene Spielwiese, denn es gibt zwar Regeln, aber diese können gebrochen werden und auch dadurch kommt wieder etwas zum Ausdruck. Und so spielt Berlinger auf eine abwechslungsreiche Art mit Reimen und Verkürzungen, mit lockeren Versmassen und enger Taktung.
Eine Hommage an das Leben
In ihrem Vorwort fragt sich die Autorin selbst: «Warum dieser Gedichtband?» Und sie eröffnet damit eine Erklärung. Andrea Berlinger ist Unternehmerin und gleichzeitig auch Poetin. Geht das? Es geht. Und es zeigt uns einmal wieder, wie facettenreich wir alle doch sind, und es ist eine Ermutigung für uns alle, dies zu zeigen. Berlinger ist zudem zweifache Mutter, und auch diese Qualität ist Thema einiger Gedichte, die mit als Highlight dieser Sammlung angesehen werden können. In dieser persönlichen Verwurzelung wird deutlich: Der Gedichtband dient als Netz von Beziehungen, Erfahrungen und Momenten. Die Sprache ist dabei das Werkzeug der Verbindung: zwischen Schreibender und Leser:in, zwischen Rationalität und Intuition, zwischen Alltag und Kunst. Die Poesie ist kein Gegenentwurf zum (unternehmerischen und familiären) Alltag, sondern ein erweiternder Resonanzraum.
Dieser Gedichtband, mit zarten Illustrationen von Marie Jahn, ist also eine Hommage an das Leben, ein Manifest des Frau-Seins, in all seinen Möglichkeiten und Gleichzeitigkeiten, in all seinen Tiefen und Erkenntnissen. Die Autorin endet mit den Worten: «Und so schreib ich weiter. Auch so. Trotz allem.» Und man möchte, während man die Klappen des Buches schliesst, gerne erwidern: «Yes! Please …»
Andrea Berlinger: Ich flieg durchs Aug des Augenblicks. Orte Verlag, Schwellbrunn 2025.
Das Buch erscheint am 1. November.
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