Zwischen Lichterhüllen und Colabrausepulver

Andrea Berlinger veröffentlicht einen Gedichtband, der so facettenreich ist wie das Leben. Ihre Gedichte laden ein, das eigene Dasein in Stille zu durchdenken und zu beleuchten.

Viola Poli, 1992, zeigt im «Bücherherbst» Abdrücke von Wildsalbeiblättern auf mit Bienenwachs getränkten Stoffen sowie Biokunststoffe aus Asche und Holzkohle. Damit möchte sie ökologische Fragen thematisieren und eine Perspektive fernab der menschlichen einnehmen.

Ich flieg durchs Aug des Au­gen­blicks – so lau­tet der Ti­tel des Ly­rik­ban­des von An­drea Ber­lin­ger, und blei­ben wir doch gleich ei­nen Mo­ment hier, bei die­sen Wor­ten, die so vie­len wei­te­ren vor­an­ste­hen. Sie sind ein Flug durch vie­le Mo­men­te, Er­eig­nis­se und Si­tua­tio­nen des Le­bens, ein wil­der Ritt vom Kleins­ten ins Uni­ver­sel­le, vom In­ners­ten in die Welt dort draus­sen und wie­der zu­rück. Ge­speist aus Be­ob­ach­tun­gen und Re­fle­xio­nen – es geht tief hin­ein, in die Mit­te, in das Au­ge des Wir­bel­sturms, der uns Tag für Tag und ein Le­ben lang um­gibt; in dem es viel­leicht manch­mal schwer ist, die Ru­he zu fin­den und sie zu be­wah­ren.

Und ge­nau da­für ist die Poe­sie ein mäch­ti­ges Tool, denn um sie zu be­grei­fen, müs­sen wir in­ne­hal­ten, die Welt im Aus­sen still wer­den las­sen und in uns hin­ein­hor­chen. Dann kön­nen die Wor­te ei­nes Ge­dich­tes uns be­rüh­ren, Bil­der auf­we­cken und uns stau­nen las­sen. Aber das ge­lingt na­tür­lich nicht im Vor­über­ei­len. Für ei­nen Ly­rik­band braucht man Zeit. Er­fah­rungs­ge­mäss legt man ihn an ei­nen gut greif­ba­ren Ort, zum So­fa, auf den Nacht­tisch, oder trägt ihn in ei­ner Ta­sche mit sich her­um, um im­mer ein­mal wie­der dar­in zu ver­sin­ken.

Zwi­schen Klar­heit und Pa­thos

Bei Ber­lin­ger fin­den wir zu­meist Ein­wort­ver­se, die ein­zel­nen Wor­te al­so auf­ein­an­der­ge­sta­pelt, un­ter­ein­an­der ge­reiht,je­des für sich er­hält die Be­deu­tung ei­nes gan­zen Ver­ses und lädt da­mit ein, in die Lang­sam­keit zu ge­hen und Wort für Wort wir­ken zu las­sen. Da­mit er­hal­ten die ein­zel­nen Ge­dich­te ei­ne schon fast sa­kra­le Be­deu­tung, ei­ne Er­ha­ben­heit, sie schwin­gen nach und sin­ken tief. Und das passt gut zu den In­hal­ten, denn es geht viel um Ver­än­de­rung und­Trans­for­ma­ti­on. Um Selbst­fin­dung und Im-Mo­ment-Sein. Die Ver­se sind wie klei­ne Le­bens­rat­ge­ber – zu­min­dest la­den sie da­zu ein, sich selbst zu hin­ter­fra­gen und zu be­leuch­ten.

Ber­lin­ger be­dient sich in ih­rer Wort­wahl vie­ler klas­sisch an­mu­ten­der Na­tur­me­ta­phern. Es geht um zar­te Bäu­me,Lich­ter­hül­len und all die Fre­quen­zen des Uni­ver­sums. Es zei­gen sich wil­de Gän­se, kampf­be­rei­te Ad­ler, ge­dros­sel­te Häh­ne und ver­fres­se­ne Spat­zen. Zeit­wei­se ver­las­sen wir die Welt und rei­sen mit den Pla­ne­ten durchs Uni­ver­sum – es wird al­so äthe­risch, nicht mehr greif­bar, spi­ri­tu­ell, dann wie­der ganz bo­den­stän­dig. Da­zwi­schen mi­schen sich er­fri­schend un­ge­wohn­te Wor­te und Bil­der von Co­l­abrau­se­pul­ver, Yep-Mo­men­ten und Künst­li­cher In­tel­li­genz.

Sti­lis­tisch be­wegt sich der Ly­rik­band zwi­schen Klar­heit und Pa­thos. Die ein­zel­nen Ge­dich­te chan­gie­ren zwi­schen nüch­ter­nen Be­ob­ach­tun­gen und bild­haf­ten Aus­schmü­ckun­gen. Hier zeigt sich die Su­che nach ei­ner Spra­che, die Ra­tio­na­li­tät und Ge­fühl, Prag­ma­tik und Fan­ta­sie ver­bin­det – nach ei­nem ganz­heit­li­chen Aus­druck. Und hier­für ist die Poe­sie ei­ne will­kom­me­ne Spiel­wie­se, denn es gibt zwar Re­geln, aber die­se kön­nen ge­bro­chen wer­den und auch da­durch kommt wie­der et­was zum Aus­druck. Und so spielt Ber­lin­ger auf ei­ne ab­wechs­lungs­rei­che Art mit Rei­men und Ver­kür­zun­gen, mit lo­cke­ren Vers­mas­sen und en­ger Tak­tung.

Ei­ne Hom­mage an das Le­ben

In ih­rem Vor­wort fragt sich die Au­torin selbst: «War­um die­ser Ge­dicht­band?» Und sie er­öff­net da­mit ei­ne Er­klä­rung. An­drea Ber­lin­ger ist Un­ter­neh­me­rin und gleich­zei­tig auch Poe­tin. Geht das? Es geht. Und es zeigt uns ein­mal wie­der, wie fa­cet­ten­reich wir al­le doch sind, und es ist ei­ne Er­mu­ti­gung für uns al­le, dies zu zei­gen. Ber­lin­ger ist zu­dem zwei­fa­che Mut­ter, und auch die­se Qua­li­tät ist The­ma ei­ni­ger Ge­dich­te, die mit als High­light die­ser Samm­lung an­ge­se­hen wer­den kön­nen. In die­ser per­sön­li­chen Ver­wur­ze­lung wird deut­lich: Der Ge­dicht­band dient als Netz von Be­zie­hun­gen, Er­fah­run­gen und Mo­men­ten. Die Spra­che ist da­bei das Werk­zeug der Ver­bin­dung: zwi­schen Schrei­ben­der und Le­ser:in, zwi­schen Ra­tio­na­li­tät und In­tui­ti­on, zwi­schen All­tag und Kunst. Die Poe­sie ist kein Ge­gen­ent­wurf zum (un­ter­neh­me­ri­schen und fa­mi­liä­ren) All­tag, son­dern ein er­wei­tern­der Re­so­nanz­raum.

Die­ser Ge­dicht­band, mit zar­ten Il­lus­tra­tio­nen von Ma­rie Jahn, ist al­so ei­ne Hom­mage an das Le­ben, ein Ma­ni­fest des Frau-Seins, in all sei­nen Mög­lich­kei­ten und Gleich­zei­tig­kei­ten, in all sei­nen Tie­fen und Er­kennt­nis­sen. Die Au­torin en­det mit den Wor­ten: «Und so schreib ich wei­ter. Auch so. Trotz al­lem.» Und man möch­te, wäh­rend man die Klap­pen des Bu­ches schliesst, ger­ne er­wi­dern: «Yes! Plea­se …»

An­drea Ber­lin­ger: Ich flieg durchs Aug des Au­gen­blicks. Or­te Ver­lag, Schwell­brunn 2025.
Das Buch er­scheint am 1. No­vem­ber.
ort­ever­lag.ch

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