Keine Geräusche. Keine Musik. Es ist leise im Zentralraum, dem Herzen des Klanghauses, als ich diesen betrete. Die Stille hallt hier über die in den Wänden eingebauten Klangschalen wider, luftig und leicht. Eigentlich sollten hier die Klänge der schweizerisch-kenianischen Künstlerin Claudia Masika und ihrer Band sowie der Naturjodlerinnen und Musiker:innen rund um Dirigent und Komponist Ruedi Roth den Raum erfüllen. Die Musiker:innen stehen und sitzen im Raum verteilt. «Ich möchte Musik machen!», durchbricht Claudia Masika, die seit über 15 Jahren in der Schweiz lebt, diese Stille. «Es braucht aber Struktur!», hallt es unisono aus den Reihen der Naturjodler:innen.
Keine Stunde hat es gedauert, bis das urschweizerische Bedürfnis nach Klarheit und Struktur – und Harmonie – ungebremst auf kenianischen Groove, Rhythmus und Temperament gestossen ist. Improvisation versus einstudiertes Drehbuch. Während auf der einen Seite des Raumes die beiden Naturjodlerinnen die Köpfe schütteln, versuchen Masika, ihr Gitarrist René Reimann und Perkussionist Willi Hauenstein die Differenzen musikalisch zu überwinden. Sie stimmen ein Lied an, die Perkussion treibt rhythmisches Pochen durch den Raum, Gitarrensaiten klimpern und Masikas Stimme schwebt über allem – keine Verstärker, kein Mikrofon, nur die Magie des Raumes.
Zögerlich steigt das Hackbrett mit ein, dann der Kontrabass und die Handorgel – die Instrumente von Hansueli Hersche, Madlaina Küng und Simon Lüthi konkurrenzieren nicht mit dem Afro-Fusion-Sound, der bereits durch den Raum wabert, sondern ergänzen diesen zu einem zauberhaften Soundteppich. Die Sängerin tanzt durch den Raum und versucht, die Jodlerinnen Annemarie Baumann und Trudi Frei zum Mitmachen zu motivieren. Mit leicht erröteten Wangen schliessen sich diese zaghaft an. Es klingt wunderbar, als hätten die Musikrichtungen schon immer zusammengehört.


Kenia trifft Toggenburg oder lieber nicht?
Ruedi Roth allerdings hat den Raum bereits verlassen. Nach dem kurzen Versuch, sich gemeinsam in der Musik zu finden, wird über Mittag weiter diskutiert. Zäh zieht sich die Debatte darüber hin, wie das gemeinsame Konzert aussehen und vor allem wie die Probe mit zwei so unterschiedlichen Ansätzen und Prozessvorstellungen ablaufen soll. Am Ende einigt man sich auf den Wunsch der Entourage um Ruedi Roth: Es soll ein Stück nach dem anderen geprobt werden. Ablauf nach Drehbuch.
Der Hemberger Volksmusikant Ruedi Roth gibt Jodelkurse und arbeitet als Fachjournalist. Als 2015 Wes Andersons Grand Budapest Hotel den Oscar für die beste Filmmusik erhielt, ging der Preis auch ein bisschen ins Toggenburg: Die Melodie seines Naturjodels S’Rothe Zäuerli untermalt die Eröffnungs- wie die Schlusssequenz des Films. Für «Kenia trifft Toggenburg» habe sich Roth mit den «besten Musikanten» zusammengetan, wie er mir berichtet. «Es ist ein toller Auftrag, eine spannende Geschichte und soll mehr als ein Konzert sein.»
Masika, die Sängerin, die neben ihrem Schaffen als Musikerin auch Bilder malt und sich mit ihrer Stiftung für die Ausbildung junger Frauen in Kenia einsetzt, sitzt vor dem Klanghaus in der Sonne. Ich setze mich zu ihr. Wir sprechen mal Englisch, mal Schweizerdeutsch miteinander. Das Bedürfnis nach klaren Strukturen und strikten Abläufen kann sie nur bedingt nachvollziehen: «Man muss doch erst vom eigenen Haus träumen, bevor man es baut.» Ob sie trotz allem optimistisch sei, will ich wissen – schliesslich geht es in dieser Probe scheinbar nicht nur um die Musik, sondern eben auch um kulturelle Differenzen. «Klar, music connects, es geht um das Gefühl», antwortet Masika. Auch in der Sprache ihrer Vorfahren gebe es eine Art Naturjodel: «Gweyo».
Sind also die beiden Musikrichtungen gar nicht so weit voneinander entfernt? Eigentlich nicht, bestätigt auch Ruedi Roth, der von «Gweyo» weiss. «Weil sie auch einen Naturjodel haben, verbindet das. Das war ja die Idee dieser Produktion.» Zumal sich die Themen hinter den einzelnen Stücken zuweilen decken: «In einem Jodel thematisieren wir zum Beispiel auch die Hungersnot
im Toggenburg.»
Erneut beginnen die Proben. Ruedi Roth dirigiert seine Musiker:innen durch die Stücke. Der Raum scheint wie fürs Johlen, die Toggenburger Variante des Naturjodels, gemacht. Jeder Ton, jede Nuance hallt durch den Raum, über die Berge, um den Schwendisee und zurück. Und als ob die Bäume hörten, dass sie ein Teil dieser Musik sind, bewegen sie sich vor den Fenstern im Wind.
Der Naturjodel berührt, archaisch und episch. Genauso wirkt auch die Musik von Masikas Band: Wie eine Verbindung zwischen Mensch und Natur, eine Verbindung, die weit in der Zeit zurückreicht und die Sonne wärmer scheinen lässt. Die Sängerin bewegt sich mit ihrem ganzen Körper zur Musik. Es scheint, als ob sie jede Note, jeden Ton bis in die Fingerspitzen fühlt. Sie lässt sich von der Musik leiten, schwimmt mit dem Klang, der hier endlos scheint und als Echo amplifiziert von den Wänden hallt. Die Naturjodler:innen lassen ihre Hände traditionsgemäss in den Hosentaschen und bleiben vor ihren Stühlen stehen. Sie wirken fokussiert. Nicht minder ergriffen vom gemeinschaftlichen Klanggebilde zwar, aber sie tanzen nur, wenn es im Drehbuch steht.
Sobald alle miteinander musizieren, scheint es organisch zu passen. Die Klangebenen ergänzen sich, verbinden sich in diesem Raum zu einem harmonischen Strudel, der sanft in tiefe Sphären zieht. Ganz so, als ob es der Musik egal wäre, dass sich hier zwei Kulturen im Prozessablauf nicht einig sind und Charaktere aufeinanderprallen.

«Ich fühle unity»
Dann, am zweiten Probetag, der nächste Eklat. Wieder geht es um das Drehbuch. Und darum, ob es einstudierte, schauspielerische Einlagen braucht, um zu verdeutlichen, dass sich hier zwei Kulturen treffen, kennen und am Ende sogar lieben lernen. Oder ob es reicht zu musizieren, alle nach ihrer Façon und dann aber auch gemeinsam, mal streng nach Plan, mal ungehemmt.
«Ich muss die Musik fühlen, bevor ich sie spielen kann», erklärt mir Claudia Masika abermals am Rande der Debatte. Es sei ein bisschen wie mit der Integration. Sie habe hier leben und die Sprache hören müssen, um sie selber sprechen und die Schweiz verstehen zu können. Oft werde sie skeptisch beobachtet, auf der Bühne als Musikerin sowie beim Einkaufen, aber auch sie schaue sich an Orten wie hier im Toggenburg neugierig um. «Aber in der Musik, da fühle ich mich als Mensch – ich fühle unity.»
Sie fragt, ob ich das verstehen könne. Während mein Blick über die Churfirsten und die grünen Felder schweift, erinnere ich mich an die Musik, die Mischung aus Volksmusik, Naturjodel und Afro-Fusion. Ich werde nie nachvollziehen können, wie es ist, als person of colour in der Schweiz zu leben und auf der Bühne zu stehen, aber die «unity», die Einigkeit von zwei Musikrichtungen so unterschiedlicher Herkunft habe ich gespürt. Und ich bin mir sicher, dass in der Musik im Klanghaus alle Töne gleichwertig und im Einklang im Raum hallen.
Nach dem Mittag sitzen sich die Musiker:innen wieder gegenüber: Ruedi Roth ohne Entourage – diese hat er nach den Diskussionen vom Vortag nicht mehr zum zweiten Probetag einbestellt – und Claudia Masika mit Band. Gemeinsam einigen sie sich auf einen Ablauf – mit weniger Theäterlis, dafür mit lustvollen, gemeinsamen musikalischen Einlagen. Der Disput sei wichtig gewesen, sagt Roth. «Wir haben jetzt die Fetzen zusammengelesen und uns geeinigt. Jetzt sind wir wieder motiviert, denn wir haben alle gleich viel Freude an der Musik!» Ob sich diese «unity» bis im Juni hält, wird sich zeigen.
Kenia trifft Toggenburg: 20. Juni (Premiere), 23. August und 5. September, jeweils 19:30 Uhr, Klanghaus Toggenburg, Wildhaus.
Am 20. Juni findet ausserdem ein Workshop von Claudia Masika statt. Dabei soll gesungen werden ohne Noten und ohne Worte. Auch Anfänger:innen sind willkommen.