, 22. Mai 2024
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Zwischen Unterdrückung und Befreiung

Im Rahmen des Themenmonats «Kolonialgeschichte in der Bodenseeregion» referierte Kirchenhistoriker Mariano Delgado zum Thema «Christliche Mission und Kolonialismus». Er zeigte auf, auf welch vielfältige – grausame bis befreiende – Weise das «Wort Gottes» in Übersee genutzt wurde. von Peter Müller

Las Casas hält vor Eroberer Cortez seine schützende Hand über die Indigenen Mexikos: Ausschnitt eines Freskos am mexikanischen Nationalpalast von Künstler Diego Rivera, entstanden zwischen 1941 und 1952. (Bild: pd)

Vielleicht 30 Interessierte hatten sich zu diesem Einlass eingefunden. Lags am guten Wetter oder am Termin – Freitag vor Pfingsten? Lags am vollen Programm des Themenmonats «Kolonialgeschichte in der Bodenseeregion»? Oder daran, dass das Thema «Europäische Missionierung in der Welt» hierzulande die Gemüter nicht mehr so bewegt wie noch vor 20, 30 Jahren? Vermutlich spielte alles mit hinein.

Und das ist eigentlich schade, denn die Ausführungen von Mariano Delgado, Theologe und Kirchenhistoriker an der Universität Fribourg, waren wirklich spannend und relevant. Er vermittelte kritisch-konstruktive Einblicke in ein riesiges, vielschichtiges Thema: «Befreiung oder Unterdrückung? Christliche Mission und Kolonialismus vom 16. Jahrhundert bis heute». In zweiten Teil des Anlasses beantwortete er Fragen von zwei theologischen Berufskolleg:innen aus St.Gallen: Ann-Katrin Gässlein (Katholische Kirche im Lebensraum St.Gallen) und Pascal Bazzell (Reformierte Kirche St.Gallen). Im dritten Teil konnte dann das Publikum Fragen stellen.

Eine mächtige Interessengemeinschaft

Wo beginnen? Vielleicht mit einer prägnanten Formulierung: Im Zeitalter der Entdeckungen, am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, wurden die Päpste «geopolitische Akteure». Der Vatikan war damals schon auf dem Kurs, sich als Herrscher über die ganze Welt zu verstehen, der christlichen und der nichtchristlichen. Mit der Expansion der europäischen Mächte in Übersee verstärkte sich das. Die Grossmächte Spanien und Portugal mit ihren Flotten und der Vatikan wurden eine Interessengemeinschaft. Der Papst legimitierte ihren Zugriff auf fremde Länder, inkl. die Versklavung der dortigen Menschen, und bekam als Gegenleistung die Hilfe bei der Missionierung dieser Länder.

Mutige Theologen wie Bartolomé de las Casas oder Francisco de Vitoria setzten da schon früh gewichtige Fragezeichen, forderten dazu auf, die Dinge aus der Sicht der Indigenen zu betrachten, wurden aber nicht wirklich angehört. Sie durchschauten die heimlichen Triebfedern der Europäisierung der Welt: Habsucht und Ruhmsucht. Der Vatikan reagierte zwar bald auf die Vorwürfe, allerdings auf eine Weise, die uns heute seltsam vertraut vorkommt: Er wich heiklen Fragen aus, liess vieles in der Schwebe. Er bagatellisierte seine eigene Mitverantwortung, schwächte sie ab. So konnte er sich zum Beispiel erst 1839 dazu durchringen, den Sklavenhandel generell zu verurteilen.

Kolonisierung der Seelen

Die protestantische Welt präsentiert sich im Rückblick kaum besser. Hier genügte das Bewusstsein der göttlichen Auserwählung. Die Protestanten dachten, sie hätten das Recht auf die neuen Länder von Gott direkt erhalten – wie seinerzeit das Volk Israel das Gelobte Land. Ein Beispiel dafür, wie fatal die Bibel für die Legimitierung weltlicher Interessen missbraucht werden kann.

Ein weiteres Beispiel ist Vers 16,16 aus dem Markus-Evangelium: «Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet. Wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden.» Harte, brutale Worte. Heute wissen wir, dass die Verse erst nachträglich in das Markus-Evangelium eingefügt wurden, im 2. Jahrhundert. Sie konnten zu einem übertriebenen Missionseifer führen und zu Zwangstaufen, um die «Heiden» vor der Verdammnis zu bewahren.

Missionare konnten dadurch in tiefe Konflikte geführt werden: «Habe ich genug getan, um diese Menschen vor der Verdammnis zu retten?» Dazu kam die Frage, welches Schicksal die bereits gestorbenen, ungetauften Vorfahren haben. In vielen Glaubenshandbüchern des Entdeckungszeitalters wird den Missionierten gesagt, dass ihre Vorfahren in der Hölle brennen – unwiderruflich. Für Mariano Delgado gehört das zu den grausamsten Formen der «Kolonisierung der Seelen».

Die emanzipatorische Kraft der Bibel

Andererseits bot die Bibel aber auch vieles für den Widerstand gegen diese «koloniale Maschinerie». Mariano Delgado verwies eindringlich auf dieses Moment. Die Bibel, insbesondere das Neue Testament, verkündet die «Botschaft der Freiheit» und vermittelt die «Kraft der Befreiung». Das zeigte sich nur schon am frühen Widerstand einzelner Theologen – wie oben erwähnt.

Und später sollten viele Anführer der Unabhängigkeitsbewegungen in diesen Ländern aus den Missionsschulen kommen. «Man kann sich auf die Dauer bekanntlich nicht ungestraft auf die Bibel berufen, um den Kolonialismus zu rechtfertigen», meinte Mariano Delgado pointiert. Von dieser Kolonialismus-Kritik führen sogar Linien zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten. Sie war an deren Entstehung mitbeteiligt.

Rassentheorie und Sozialdarwinismus

Später, im 19. Jahrhundert, teilten dann neue Grossmächte die Welt unter sich auf, insbesondere Grossbritannien, Frankreich und Deutschland. Das Papsttum hatte da nicht mehr dieselbe Bedeutung wie am Beginn der Neuzeit. Hilfreich war es aber auch bei diesem modernen Imperialismus. Es begleitete ihn sozusagen pastoral.

Mariano Delgado, 1955, ist spanischer römisch-katholischer Theologe, Kirchenhistoriker und Missionswissenschaftler, ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte und Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog an der Universität Fribourg.

Die zentrale Rechtfertigung kam nun von der Wissenschaft, von der Rassentheorie und dem Sozialdarwinismus. Europa befand sich in ihrem Verständnis an der Spitze der Menschheitsgeschichte: Die Europäer hatten das Monopol auf Fortschritt und Technik, Kultur und Zivilisation. Und damit die Freiheit, mit andern Völkern nach ihrem Belieben umzugehen. Marketingmässig formuliert: Sie hatten die Pflicht, sie ebenfalls auf dieses Niveau zu heben.

Der Vatikan blieb mit seiner Kritik weiterhin zurückhaltend, konnte aber auch Grenzen setzen. Ein Beispiel ist die Heiligsprechung von Christoph Kolumbus. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dazu Bestrebungen in Frankreich, aber auch in Spanien und Italien. Als Grund wurden vor allem seine Verdienste und die Christianisierung der Welt angegeben. Der Vatikan trat hier auf die Bremse. Er erkannte, dass die Figur – bei allem Heroismus – historisch doch zu heikel war.

Es bleibt noch viel zu tun

Wo steht der Vatikan heute in diesen Fragen? In der jüngsten Zeit gab es Zeichen von Selbstreflexion, Zeichen des Umdenkens, erste Schritte sind gemacht, meinte Mariano Delgado. Zu tun ist aber immer noch viel. Selbst bei Papst Franziskus gibt es im Umgang mit der kolonialen Vergangenheit der Kirche Leerstellen.

Das Papsttum hat zwar seit den 1980er-Jahren wiederholt um Verzeihung für die Unterdrückung und Versklavung von Schwarzen und Indigenen und die Verachtung ihrer Kultur durch «Christen» gebeten. Die eigene institutionelle Verstrickung hat es dabei aber ausgeklammert. In unserer globalisierten, schwierigen Welt bleibt aber auch der Politik viel zu tun, und der Zivilgesellschaft, wir alle sindgefordert – im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Auch das ein wichtiger Punkt, auf den Mariano Delgado hinwies.

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