Die Sommerferien sind gefühlt schon eine Ewigkeit her (und fühlten sich eher wie Herbstferien an), die Tage werden bereits wieder sichtbar kürzer, die Temperaturen sinken – der Sommer verabschiedet sich langsam. Nicht nur Seestrände und Badis leeren sich, sondern auch die Alpen: Im September ist es auch fürs Vieh an der Zeit, ins Tal zurückzukehren. Die Alpabfahrt steht an. Ein traditionelles Fest, das früher eine rein funktionale Handlung war, inzwischen aber ein öffentlicher Anlass geworden ist, ein «Event», wie es auf Neudeutsch so schön heisst – mit Tourist:innen, Festwirtschaft und Medienberichten.
Die Alpüberfahrt steht sinnbildlich für das Spannungsfeld, das praktisch jeder Tradition innewohnt: Wie viel Erneuerung darf sein, damit sie nicht ihren Geist verliert – und wie viel muss sein, damit sie ihren Sinn behält? Um über Generationen hinweg zu überleben, müssen sich Traditionen wandeln dürfen. Sind sie zu starr an Formen und Regeln gebunden, verlieren sie ihre Lebendigkeit, weil sie nicht mehr in den Alltag oder die Werte einer Gesellschaft passen. Traditionen hingegen, die sich an neue Kontexte anpassen können, bleiben relevant. Dieser Wandel darf so weit gehen, dass eine Tradition in der Gegenwart Sinn stiftet, muss aber so viel Kontinuität wahren, dass sie als Brücke zur Vergangenheit erkennbar bleibt. Das gilt für die Volksmusik genauso wie für Trachten oder Silvesterchläuse. Ganz abgesehen davon: Vieles, das Traditionalist:innen – auch in der bäuerlichen Kultur – um jeden Preis in der «ursprünglichen» Form bewahren wollen, weil es «schon immer so war», ist oft nicht viel älter als 150 Jahre.
Wie schwierig dieser Balanceakt sein kann, zeigt Andi Giger in zwei Texten, die Teil seiner Bachelorarbeit an der ZHAW sind. In einer Reportage begleitet er eine Familie bei der Alpfahrt auf die Sämtisalp und erzählt, wie sie diese Tradition pflegt – oder eben nicht. Und er wirft am Beispiel der Landsgemeinde einen soziokulturellen Blick auf das immaterielle Kulturerbe.
Um historischen Wandel geht es auch im siebten Teil unserer Serie «Die Ostschweiz im Dritten Reich». Cenk Akdoganbulut zeichnet nach, welche Frontisten in der Ostschweiz aktiv waren und den Anschluss der Schweiz ans Dritte Reich anstrebten.
Und die Klimaseniorinnen lehnen sich nach ihrem Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht einfach zurück – sie kämpfen weiter. Um die Öffentlichkeit für den Klimaschutz zu sensibilisieren, organisieren sie im Rahmen der Klimawoche St.Gallen ein kleines Filmfestival, das an mehreren Orten in der Region St.Gallen stattfindet. Daria Frick berichtet, warum der Kampf weiterhin wichtig bleibt.
Ausserdem im spätsommerlichen September: die Wiedereröffnung des Theaters 111, das neue Buch von Jessica Jurassica, das neue Album von Elio Ricca und die Flaschenpost aus Estland.David Gadze