Es war einmal ein Land zwischen Bergen und Seen. Die Bewohner:innen des Landes waren sehr freundlich, aber auch sehr zurückhaltend, wenn es darum ging ihren Reichtum zu (ver-)teilen – und davon hatten sie reichlich. Als ein Raubtier über die Berge schlich und sich besonders im Osten des Landes ausbreitete, schrien die Landwirt:innen auf: Das Tier frisst unsere Schafe und verängstigt unsere Kinder! Doch war das Land so höflich, dass sich viele über die Anwesenheit des Tiers freuten, Entscheidungen stets schwerfielen und die Leute so gar nicht verstehen wollten, was die Bauern und Bäuerinnen da riefen. Gelehrte empfahlen Zäune und Hunde zum Schutz der Tiere, was wiederum den Grossteil der Bäuer:innen erzürnte: zu teuer, zu aufwändig!
Und so entflammte inmitten der Idylle ein Streit, an dem sich alsbald alle Bewohner:innen des Landes beteiligten. Nur das Raubtier selbst hielt sich raus, lächelte hin und wieder in die Wildtierkameras und hinterliess seine tödlichen Spuren in den Alpen, wo es weiterhin ungeschützte Tiere frass.
Die Moral von der Geschichte, die nicht so märchenhafte Version und der Ansatz eines Urteils sind Schwerpunkt dieses Heftes. Er offenbart, wie aufgeladen die Diskussion um den Wolf ist und wie heikel das Abwägen aller Argumente – als würde man einen Herdenschutzzaun ablecken. Das zeigt sich besonders auch im Gespräch mit zwei Hirt:innen unter anderem darüber, wie der Wolf ihre Arbeit verändert hat.
Ausserdem läuten wir den Herbst ein mit einer Auswahl neuer Bücher von Ostschweizer Autor:innen, die sich gut vor dem Kamin lesen lassen, während draussen die ersten Blätter von den Bäumen fallen.
Genauso gut liest sich auch das restliche Heft. Beispielsweise die Fortsetzung der Serie «Die Ostschweiz im Dritten Reich» mit einem Text über die aktuellen Ausstellungen im Museum Prestegg und im Liechtensteinischen Landesmuseum von Roman Hertler. Oder das Gespräch, dass David Gadze mit dem Autor, Musiker und Komponisten Roman Riklin geführt hat – über Anerkennung, Humor und seine alte Heimat St.Gallen. Sehr viel kälter als hier war es bei Sylvie Bruggmann, die uns eine Flaschenpost aus Grönland geschickt hat.Daria Frick