Schiller im Ameisenlabor

Das Theater St.Gallen spielt Schillers «Kabale und Liebe». Sturm und Drang auf dem Seziertisch: So weckt man Klassiker nicht zu neuem Leben.

Von  Peter Surber

Wenn Schiller gespielt wird, ist das Theater voll – voll von Schulklassen. So auch an der Premiere vom Freitag: Horden von Schülerinnen und Schüler (etwa 300 nach Auskunft des Theaters) füllten neben dem Premierenpublikum den Saal für «Kabale und Liebe». Pflichtlektüre. Schulstoff. Manch einer dürfte nach zwei pausenlosen Stunden gegrummelt haben: Pflicht überstanden. Aber Stück nicht verstanden.

Die Inszenierung macht es nicht nur dem jungen Publikum schwer. Die Bühne ist ein mit weissen Wänden umstellter Laborraum, schwarze Bettgestelle auf Rollen mit schwarzen Leichensäcken drauf sind das einzige Mobiliar. In diesem Seziersaal sind alle Figuren fast immer anwesend-abwesend. Über die Rückwand wuseln Ameisen, die man im Naturmuseum Frauenfeld gefilmt hat.

«Frei wie ein Mann will ich wählen, dass diese Insektenseelen am Riesenwerk meiner Liebe hinaufschwindeln», deklamiert Ferdinand einmal. Im Stück gibt es jedoch keine Freiheit, es siegen Standesdenken, Verschlagenheit, Korruption und Menschenverachtung. Schillers Kritik am wurmstichigen Absolutismus seiner Zeit ist so schwarz-weiss wie die Bühne.

000_0080Die Absicht von Regisseur Thilo Voggenreiter und Ausstatterin Elisabeth Pedross scheint klar: am «bürgerlichen Trauerspiel» diese seelenlose Mechanik der Macht zu sezieren.
Die Macht: Sie wird verkörpert vom fiesen Präsidenten Walter (Bruno Riedl), seinen Adlaten Wurm und Kalb (Oliver Losehand, Christian Hettkamp) und der hüftschwingenden Lady Milford (Boglarka Horvath). Die Ohnmacht bleibt den armen rechtschaffenen Millers (Matthias Albold, Silvia Rhode).
Und unter die Räder kommen die Gefühle: jene von Walters Sohn Ferdinand und seiner Geliebten, der bürgerlichen Musikantentochter Luise (Sven Gey und Meda Gheorghiu-Banciu – auf dem Bild scharf beobachtet von Bruno Riedl).

Man merkt also die Absicht – und ist bald verstimmt. Nur gerade die ersten paar Minuten lang sind Gesten, Blicke, Wege der Figuren so minutiös choreografiert, dass man die Mechanik sieht und spürt. Dann wird das Spiel konventionell und der Text über weite Strecken bloss aufgesagt. Schillers hohes Pathos verhallt im kalten Laborraum, die politischen Fakten (Walters Verbrechen, Milfords zwiespältige Rolle) bleiben uneinsichtig, das Räderwerk des Verhängnisses dreht kaum nachvollziehbar, die Figuren sind unterwegs wie die Ameisen an der Wand – aber auch so blass wie die technisch verunglückte Projektion.

Immerhin: Vor dem schwarz-weiss-blassen Hintergrund heben sich die beiden Hauptfiguren umso farbiger ab. Meda Gheorgiu-Banciu und Sven Gey, beide seit anderthalb Spielzeiten in St.Gallen und jetzt in einer grossen Hauptrolle zu erleben, schlagen dem sterilen Ganzen mit Vitalität und Emotionalität ein Schnippchen. Luises tödlicher Starrsinn, so verstiegen er aus heutiger Sicht ist, wirkt so echt, dass durch ihre Tränen eine Ahnung vom Zerrissensein zwischen Gefühl und Moral, gesellschaftlichem Druck und aufklärerischem Menschheitspathos durchschillert, das jene Epoche kennzeichnete.

Was uns (und den Kantischülern) der Regisseur aber über das historische Sittenbild hinaus, 230 Jahre nach der Uraufführung, mit Schillers «Kabale» sagen will, bleibt undeutlich. Vielleicht dies: dass es seine «Liebe» noch immer in sich hat.

theatersg.ch.
Bilder: Tine Edel