Trügerische Pfade

Wie erkundet man eine Stadt? Der St.Galler Fotograf Florian Bachmann und die Grafikerin Helen Ebert haben es in Buenos Aires erprobt. Das Resultat ist ein Buch, morgen wird es in St.Gallen vorgestellt.
Von  Peter Surber

prestar atencion a – achten auf. llamar la atencion – auffallen, auf sich aufmerksam machen. atender a – empfangen, beachten. esperar a algo / alguien – etw. hoffen, etw. / jmdn. erhoffen, erwarten.

So geht es auf Seite 22 zur Sache: Vokabeln lernen. Und die wichtigen Wörter zuerst: «aufmerksam sein, achten auf…». Genau das haben sich der Fotograf Florian Bachmann und die Grafikerin Helen Ebert vorgenommen, als sie im Dezember und Januar 2012/13 insgesamt fünf Wochen in Buenos Aires verbrachten, in der Casa Sol y Sombra, einem Gästehaus, das Florians Mutter Erika Bachmann, die ausgewanderte St.Gallerin, führt.

Aus dem Aufenthalt sollte ein gemeinsames Projekt entstehen, so lautete der Vorsatz: ein «Projekt mit Poesie, das mit dem Land und seiner Geschichte, mit Buenos Aires und natürlich der spanischen Sprache zu tun hat». Das Ergebnis liegt jetzt als Buch vor: Un verano antes del verano. Poesie, Fotografie und Notizen aus Buenos Aires. Der Titel meint auf Deutsch: Ein Sommer vor dem Sommer.

 

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Selbstbildnis mit Terrasse, Casa Sol Y Sombra, Buenos Aires.

«Gekonnte Improvisation»

Der Einstieg ins Buch ist nicht ganz hürdenfrei: In fröhlicher Zwei- und Mehrspaltigkeit, mit diversen Schriften und Farben und Bildern, mit Fussnoten und Bücherlisten zeichnet Helen Ebert ihre Recherchearbeit zum Thema nach. Sie befragt Poesie-Experten und Argentinien-Kundige, lässt sich die einschlägigen Adressen in Buenos Aires nennen, Buchhandlungen, die Nationalbibliothek, Autorinnen und Autoren. Spanisch und deutsch gehen durcheinander.

Parallel zum Rechercheprozess wächst die Zahl der Gedichte, die Eingang ins Buch finden sollen. Und der inzwischen auch eingetroffene Fotograf Bachmann findet nach und nach über witzige Selbstinszenierungen seinen Zugang zum fremden Land. Das grafische Sammelsurium ist Programm – es entspreche der «Mischung aus Nachlässigkeit und gekonnter Improvisation», die einem in Argentinien auf Schritt und Tritt begegne, schreibt Gestalterin Ebert.

 

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Zwei Cartoneros, «die sich in der (begründeten) Hoffnung auf ein paar Pesos in Pose werfen».

Flanieren in Wort und Bild

Nach diesem Einstieg, einer Art Selbstreflexion, quasi dem «Making of» des Buchs, geht es in Teil zwei mit Lyrik los, durchwegs zweisprachig. Teil drei schliesslich versammelt Fotos der Stadt. «Mit der Idee des Flaneurs» lässt sich Florian Bachmann durch Buenos Aires treiben. Schwarzweiss-Aufnahmen aus einem früheren Besuch 2006 sind der eine Strang, sie zeigen Armut, Proteste, dazwischen Sonntagsidyllen oder Gauchos hoch zu Pferd. Die Farbaufnahmen von 2012/13 sind offener in der Botschaft, ästhetisch präzis, manchmal erheiternd.

Gedichte und Fotos stehen je unabhängig, denn «realistische Bebilderung» ist nicht das Ziel der von Bachmann/Ebert – auch wenn ein Gedicht über «Pferde auf öffentlichen Strassen» den Fotografen zu einem Schnappschuss (s. Bild) mit Cartoneros, privaten Müllsammlern, inspiriert.

Eins der Gedichte stammt von Martin Gambarotta, einem 1968 geborenen Autor und Journalisten, es ist ohne Titel und politisch – wie viele der «Poemas» im Buch:

 

Du müsstest die aus meinem Viertel sehn
Was für feine Leute
Die jugendlichen Leseratten
Die Alten, die die Diktatur verteidigen
Und die süssen Wichte
In den Betten, natürlich.

Mein Grossvater der General machte ein Vermögen damit
Möbel von Verschwundenen zu verhökern
Und schimpft jetzt wüst auf 1970.

 

Erläuterungen bietet das Buch allerdings nicht (das im Gedicht genannte Jahr 1970 etwa, keins der geschichtsträchtigen Daten der argentinischen Militärdiktatur, hätte man sich gern erklären lassen). Bachmann und Ebert haben ein anderes Programm: Sie wollen zum schauvergnügten Flanieren verlocken, gemäss dem Zitat von Olga Orozco, welches das Buch eröffnet: «Die Pfade sind trügerisch und führen uns hin und wieder nirgendwohin. (…) Zwischen Alptraum und Wachsein erlebt man verblüffende Wirrungen.»

 

Wie das live tönt, kann man am Freitag abend im St.Galler Kaffeehaus erleben. Einen Vorgeschmack gibt es hier:

 

 

Cover_VeranoFlorian Bachmann, Helen Ebert: «Un verano antes del verano», Edition Clandestin, Biel 2015, Fr. 38.-

Lesung: Freitag, 29. Mai, 20 Uhr, Kaffeehaus St.Gallen

Informationen zu den Autoren hier und hier.