Weltuntergang in Neuauflage

Zusammenstoss? Zusammenstoss! In Kappel am Albis wird die musikalische Groteske von Kurt Schwitters aus den 1920er Jahren gespielt – mit demselben Leitungsteam wie 1986 bei der legendären Inszenierung im Ökozentrum Stein AR.
Von  Peter Surber

Astronom Virmula macht eine grandiose Entdeckung: Übermorgen wird der grüne Planet auf die Erde prallen, und zwar genau in Berlin auf den Potsdamerplatz. Voraussichtlich… Die Katastrophe hat sich der Dada-Künstler und Erfinder des Merzbaus Kurt Schwitters im Jahr 1927 ausgedacht, mit allen grotesken Wendungen, die ein solches Ereignis auslösen könnte.

Weltuntergang macht Mode

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Taa, Noll und der Teddy.

Einerseits: Ruhm und Ehre. Virmula wird berühmt werden, seine Geliebte Alma freut sich darüber in einer schmetternden Arie. Für Oberordungskommissar Meisterlich schlägt die grosse Stunde; er wirft sich in Uniform und beginnt den Weltuntergang zu organisieren. Hohe Zeit auch für das noch junge Radio – der Techniker funkt sich hoch zum grünen Planeten.

Andrerseits: Big Business. Berlin steht kopf,  es gibt Weltuntergangsmode, der Weltuntergangsschlager vom «Heini mit den krummen Beini» elektrisiert die Stadt, die Presse überbietet sich mit Extrablättern unter der Schlagzeile «Weltuntergang steht kurz bevor». Die Obdachlosen proben die Revolution, und die Reichen langweilen sich in ihren eleganten Roben weiter wie bisher.

Und schliesslich: grosse Gefühle und kleine Wunder. Das Liebespaar Taa und Noll schwört sich ewige Liebe, ein Teddybär wird lebendig und stürzt Noll in Eifersucht. Der tote Geiger Violina aufersteht aus dem Geigenschrank. Die Menschheit wird gläubig oder auch nicht, und Kommunist, Monarchist, Anarchist und Pazifist (Titelbild oben) schlagen sich weiter die Köpfe ein.

Damals auf der Wiese bei der «Rose»

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Prozession und Nachtasyl – Szenenbilder: aus dem Programmheft von 1986

Den fantastischen Stoff haben sich der Regisseur Dodo Deér und der Musiker Peter Roth schon einmal vorgenommen: 1986 ging das Stück über die Zeltbühne auf einer Wiese bei der Rose Stein, dem damaligen Ökozentrum des WWF. Treibende Kraft war der verstorbene Christian Bleiker, daneben wirkten eine Vielzahl von Spielerinnen, Musikern, Bühnenbauern mit. Der «Zusammenstoss» magnetisierte im damals noch nicht festival-übersättigten Kultursommer zahlreiche Kräfte, kassierte unzählige Absagen von Geldgebern, fand umgekehrt viel private und einige öffentliche Unterstützung, so dass am 1. August 1986, wie es im Programmheft hiess, «allen Schwierigkeiten zum Trotz ein Stück Kultur in Form einer Schweizer Erstaufführung eines Stückes von Kurt Schwitters» seine Premiere erlebte. 15 mal wurde gespielt, die Produktion trug viel zum Ruf der «Rose» als Ort unkonventioneller Kultur bei und hallt bei den Dabeigewesenen zum Teil bis heute nach.

«Schwitters‘ künstlerische Devise von der uneingeschränkten Gleichberechtigung aller Elemente auf der Bühne – wobei Spiel, Musik, Raum, Kostüm, Film, Licht, Sprache und Gesang, Mensch und Objekt gleichberechtigt miteinander in Verbindung treten – beflügelte unsere Fantasie und zündete eine kleine ‚Bombe‘ kollektiver Kreation», erinnert sich Regisseur Deér im Programmheft zur jetzigen Neuauflage. Denn 28 Jahre später hat sich die Ämtlerbühne, eine Laien-Theatergruppe im Knonauer Amt, an das Stück gewagt und spielt es open-air in der imposanten Klosteranlage von Kappel am Albis.

Regie führt wiederum Dodo Deér, die Musik hat Peter Roth aufgefrischt und zum Teil erweitert, aus dem damaligen Ensemble ist ausserdem die Sängerin Maria Walpen wiederum dabei. Premiere war im August, jetzt im September wird noch fünfmal gespielt, und ein Trip nach Kappel am Albis zum Weltuntergang in idyllischer Umgebung lohnt sich sehr.

Prozession und Fingerballett

Zum einen der Ort: Im Kreuzgang des Klosters ist ein kompakter Spiel-Raum entstanden. Das Stück beginnt unter der angedeuteten Kuppel der Sternwarte, dann gerät das Publikum mitten ins Gewühl auf dem Potsdamerplatz und drängelt sich um die neusten Sensationen aus Mode, Musik und Presse. Den Hauptteil des Stücks erlebt man auf den Sitzrängen – perfekt passt aber vorallem die Prozession, die schon damals in Stein zu den unvergesslichen Szenen gehörte, nach Kappel: Sie führt vom Aussenhof in die Klosterkirche und dann zurück in den Kreuzgang.

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Weltuntergangs-Langeweile bei den Schönen und Reichen.

Zum andern das Spiel: Die Szenen sind rasant und raffiniert zusammengefügt, mit Highlights wie dem Fingerballett im Nachtasyl und der Opernpersiflage im trauten Heim von Oberordnungskommissar Meisterlich. Die Kostüme (Isabel Schumacher, Bernhard Duss) sind mit unglaublicher Detailliebe geschneidert und die Figuren so präzis besetzt, dass man glauben könnte, Schwitters hätte sein Stück für die Zürcher Laienspieler geschrieben. Die Band unter Léon Schätti spielt fetzig und auch mal planetarisch melancholisch.

Eine «Groteske» hat Schwitters sein Stück genannt. Humor und ein feiner, manchmal auch derberer Slapstick überwiegen, während der ernste Hintergrund einer Weltenkatastrophe schon vor 28 Jahren im Ökozentrum mehr in den Hinterköpfen als auf der Bühne eine Rolle gespielt hatte. Der grüne Planet schrammt denn auch am Ende haarscharf am Potsdamerplatz vorbei – wie dieser Beinah-Zusammenstoss inszeniert ist, gehört zu den stärksten Momenten der Inszenierung.

Weitere Vorstellungen 4., 5., 6., 11. und 13. September, jeweils mit Verschiebedatum bei Schlechtwetter. Informationen: aemtlerbuehne.ch

Bilder der aktuellen Inszenierung in Kappel am Albis: Chris Schmied