Arbeit trifft Kunst im Mädchenheim

30 Künstlerinnen und Künstler bespielen diesen Sommer eine Liegenschaft auf dem Areal der Spinnerei Murg. Dort lebten ein knappes Jahrhundert lang junge Arbeiterinnen aus Norditalien und dem Tessin. von Martin Mühlegg
Von  Gastbeitrag

Häuser erzählen Geschichten. Im Falle des Mädchenheims Murg enden die Geschichten vor knapp 30 Jahren. Zeitgleich mit der Eröffnung der Walensee-Autobahn verschwand nicht nur viel Autoverkehr aus dem Dorf. Die darbende Textilindustrie vermochte immer weniger Menschen zu beschäftigen. Damit verschwanden auch die Gesichter und Geschichten junger Arbeiterinnen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Im Juli und August schreibt das Haus eine neue Geschichte, die Bezug nimmt auf die Vergangenheit. Der Weinproduzent und Kunstförderer Bruno Bosshart hat 30 Kunstschaffende eingeladen, die Räume des Mädchenheims zu bespielen. Gemeinsam haben die Künstler, dass sie in den vergangenen Jahren Etiketten von Bossharts Weinen gestalteten.

Ursprünglich sollte ihr Bezug zum Wein den Inhalt der Ausstellung bestimmen. Das Konzept der Ausstellung und Veranstaltungsreihe Lavorarte lädt die Kunstschaffenden nun dazu ein, sich von den Schwingungen und Geschichten des Hauses inspirieren zu lassen. Es beteiligen sich unter anderem Alex Hanimann, Ian Anüll, Theres Wey, Josef Felix Müller und Luigi Archetti.

Bereits vor 15 Jahren, als er eine Liegenschaft für seine Weinkellerei suchte, besuchte Bosshart das Mädchenheim. Seine Schwingungen seien bis heute spürbar, sagt er. «Die Räume waren ausgelegt für 120 Mädchen, ihre Betreuung übernahmen vier Nonnen der Menzinger Kongregation.» Die Weinkellerei hat sich schliesslich nicht in Murg, sondern in Berschis niedergelassen. Einige Jahre später, als Bosshart Räume für eine Kunstausstellung suchte, dachte er wieder an das stattliche Haus.

Bei den Vorbereitungen auf die Ausstellung seien Zeitzeugen befragt und Fotos und Briefe gesichtet worden, sagt Bosshart. Zum Beispiel jenes Schreiben, in dem sich die Nonnen bei der Spinnerei Murg über die kürzer werdenden Arbeitszeiten beklagten: Die Betreuung in der Freizeit werde aufwendiger und sei mit dem vorhandenen Personal nicht mehr zu bewältigen, heisst es dort. In einem anderen Brief geht es um ein Mädchen, das früher als geplant in die Heimat zurückkehren wollte. Ihm drohte eine Konventionalstrafe.

Nach dem Abschluss der Ausstellung und Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Lavorarte» beginnen im Mädchenhaus neue Geschichten. Die Inhaber Esther und Dieter von Ziegler, die in unmittelbarer Nähe das Lofthotel betreiben, werden in dem Haus nach einem grösseren Umbau voraussichtlich Wohnungen einrichten. Die Arbeitsnomaden des dritten Jahrtausends, die auf dem Land wohnen und zur Arbeit in die Stadt pendeln, werden die fleissigen Mädchen aus dem Süden beerben.

 

Lavorarte: bis 16. August
Weitere Infos: lavorarte.ch

Bild: Alte Spinnerei Murg