Bas Jan Aders «Fall», Celans «Schwellen»

Vor knapp einem Jahr zog die Rapperswiler Stadtbibliothek in die Alte Fabrik der Gebert Stiftung für Kultur. Eine klug kuratierte Ausstellung in diesem Haus widmet sich nun dem Medium Buch. von Georg Gatsas
Von  Gastbeitrag

Ein Filmstill des amerikanisch-niederländischen Konzeptkünstlers Bas Jan Ader ziert die Einladungskarte zu der Gruppenausstellung «Unendliche Bibliothek» in der Alten Fabrik der Gebert Stiftung für Kultur in Rapperswil. Und gleich zu Beginn erblickt man die wichtigste Arbeit der Ausstellung, eine Performance-Dokumentation des jungen, schlanken Mannes aus dem Jahre 1972: Zweimal täglich ging Bas Jan Ader in die Amsterdamer Galerie Art & Project, setzte sich dort auf einen Stuhl neben einem kleinen Tisch, der Kamera zugewandt. Ein gefülltes Glas Wasser stand bereit. Laut las er immer dieselbe Geschichte, The Boy who plunged over Niagara, aus einer Ausgabe des «Reader’s Digest» vor.

Diese handelt – nach einer wahren Begebenheit – von einem jungen Abenteurer, der sich mit seinem Schlauchboot die Niagarafälle hinabstürzt. Während den Redepausen trank Ader aus dem Glas, am Ende der 15-minütigen Lesung war es leer. Der Künstler stand dann wortlos auf und verliess die Galerie.

Fallstudien

The Boy who fell over Niagara Falls benannte Ader seine Arbeit. Dass im Gegensatz zur «Reader’s Digest»-Geschichte bei ihm plötzlich «fell» und «Falls» im Titel auftauchen, ist kein Zufall: Er hatte sein gesamtes, schmales Werk dem Fallen und dem damit einhergehenden möglichen Scheitern gewidmet.

Aders Fallstudien – er selbst ist 1975 im Atlantik verschollen – entdeckt man nicht nur in Ausstellungen immer wieder. Dorothee Elmiger etwa, die am 5. März in der Gruppenausstellung eine Lesung gibt, thematisiert in ihrem jüngsten Roman Schlafgänger mit Andeutungen auf die irritierenden Werke des Konzeptkünstlers ebenfalls die Grenze zum Tod.

Und heute, wo auch die Kunst ganz im Dienste der Leistungsgesellschaft mitsamt ihren alltäglichen Ritualen der Selbstoptimierung steht, ist die Arbeit von Bas Jan Ader sehr interessant. Alles, selbst das Nichtstun, bemisst sich nach dem Massstab des Produktiven. Sich fallen lassen ist ein Tabu, Scheitern wird als eigenverschuldetes Versagen erlebt.

Bibliotheken als Festungen?

Ist nun Lesen ein Kontrapunkt zum kapitalistischen Realismus? Können Bibliotheken als Festungen gegen den um sich wütenden Neoliberalismus gedeutet werden? Die Kantone und Städte jedenfalls liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die ausgeklügeltsten Bibliothekssysteme und die Vernetzung der Informationsinfrastrukturen für die Wissensgesellschaft. Man denke etwa an die gerade eröffnete Bibliothek der ZHdK, an das Rauminformationssystem der Bibliothek vonRoll oder an swissbib.ch, den Metakatalog der Schweizer Hochschulbibliotheken und der Nationalbibliothek, mit dem mittels Kurierdienst innerhalb einer Stunde ein Buch von einer Bibliothek in die andere geschickt werden kann.

Die «Unendliche Bibliothek» ist deshalb eng an den Einzug der Stadtbibliothek in die Alte Fabrik gekoppelt. Dass im Fortschreiten der digitalen Revolution, der allzeit möglichen Abrufbarkeit und dem Teilen von Informationen, Bildern und Texten die Zahl der jährlich erscheinenden Publikationen exponentiell gewachsen ist, scheint paradox, macht aber gleichzeitig Sinn: Die Herstellungsmöglichkeiten haben sich vereinfacht und beschleunigt, die Distributions- und Promotionswege vervielfacht.

Menschen, die gerade noch anwesend waren

Fabian Marti, Emanuel Rossetti und Piero Golia waren sich dieser Tatsache bewusst, als sie vor fünf Jahren The Dor gestartet haben: Es ist ein wachsendes digitales Archiv, das schwer auffindbare Foto- und Künstlerbücher über eine Online-Datenbank für Interessierte zugänglich macht. Einen Teil davon findet man nun ausgedruckt in der «Unendlichen Bibliothek». Saâdane Afif sichtet und sammelt solche Reproduktionen der Reproduktion obsessiv: The Fountain Archive heisst seine wachsende Sammlung von aus Magazinen und Büchern herausgelösten und einzeln gerahmten Abbildungen von Marcel Duchamps berühmtem Urinoir.

Veronika Spierenburgs Videoprojektion From Right To Left findet man gleich im Anschluss an Afifs fortlaufende Serie, und sie macht deutlich: Manisch und produktiv wie Büchermacher widmen sich auch Künstler dem Medium Buch. Reihe an Reihe findet man ihre Arbeiten in dieser von Alexandra Blättler klug kuratierten Gruppenausstellung – in unterschiedlichster Form.

Eine bleibt speziell hängen und spannt den Bogen zu Bas Jan Ader: Latifa Echakhchs Hommage an den jüdisch-rumänisch geborenen, deutschsprachigen Schriftsteller Paul Celan. Unter einer Serviette auf einem Nierentisch aus den 50er-Jahren versteckt, lässt sich Celans Gedichtband De seuil en seuil (Von Schwelle zu Schwelle) erahnen. Die Arbeit gehört zur Werkgruppe der Fantômes – Objektcollagen, die aus einem oder zwei Gegenständen und einem Stück verhüllendem Stoff bestehen. Mit ihnen verweist Echakhch auf die Abwesenheit von Menschen, die gerade noch anwesend waren.

Celan selbst verkraftete die Deportation und den Tod seiner Eltern, seine eigene Zeit in den Arbeitslagern unter dem Nazi-Regime nie. 1970 beendete er sein Leben am Point Mirabeau durch einen Sprung in die Seine.

 

Unendliche Bibliothek:
bis Sonntag, 29. März,
Alte Fabrik Rapperswil.