Zum Aus-der-Haut-Fahren

Langer Applaus für die jüngste Schauspielpremiere: Am Theater St.Gallen inszeniert Mélanie Huber mit einem jungen Frauenteam Tschechows «Kirschgarten». Es gibt viel zu schauen und zu entdecken, auch zu lachen.
Von  Peter Surber

Immer wieder erstaunlich, wie uneinig man sich nach einer Theateraufführung sein kann. Jemand fand die Inszenierung hamplig, eine war völlig hin und weg, während einer rätselte, worum es da überhaupt ging… Hier die begeisterte Version, begeistert aus Neigung zum unverwüstlichen Tschechow, aber noch vielmehr darüber, was es zu entdecken gibt an dem Abend.

Zum Beispiel einen Text: die Übersetzung von Thomas Brasch, so fliessend und anstrengungslos, als wärs nicht Literatur, sondern Leben.

Zum Beispiel ein Klavier. Es steht leicht im Hintergrund auf einem verschiebbaren Palett, es ist auf die wunderlichste Art verstimmt und schafft unter den Händen des Musiker Martin von Allmen eine Sehnsuchtsstimmung, durch deren Flimmern hindurch man den Kirschgarten zu sehen glaubt, der dem Stück den Titel gibt und den die Inszenierung nicht zeigt, vermutlich weil es um innere und nicht um einen äusseren Pflanzblätz geht.

Anna Blumer, Pascale Pfeuti, Janna Antonia Rottmann. (Bilder: Toni Suter)

Oder zum Beispiel zwei Gäste im St.Galler Ensemble: Janna Antonia Rottmann, Zürcher Schauspielschülerin, spielt das Zimmermädchen Dunjascha wunderbar als leicht zurückgebliebene Unschuld vom Land, den Mund staunend offen, das Herz zuvorderst auf der schweren Zunge. Und Benno Schulz schlüpft in zwei komplett unterschiedliche Rollen, den verfressenen, buckligen, devot-arroganten Diener Jascha, sowie den ewigen Studenten Pjotr, der alles erklären kann ausser, wie man der von ihm angehimmelten Anja seine Liebe erklärt.

Benno Schulz, Pascale Pfeuti.

Und also klemmt sich Pjotr auf einen Stuhl, Anja (Pascale Pfeuti) windet sich auf den anderen, nach und nach verknoten sie in einem synchronen Ballett Beine und Arme und Stuhlbeine, reden Nebensächliches, bis hoch auf die Stuhllehne in den halsbrecherischsten Verrenkungen treibt sie die Liebe und die Unmöglichkeit, Liebe zu sagen.

Kein Glück, nirgends

Es ist eine der komischsten unter vielen komödiantischen Szenen, ein Bild zum Verzweifeln und zum Loslachen – zum Trost werden Anja, die lebenshungrige 17jährige Tochter des Hauses, und Pjotr im Schlussbild des Stücks die einzigen sein, die vielleicht doch noch zusammenfinden. Allen anderen gibt Anton Tschechow in dieser Komödie, seinem letzten Stück, keine Perspektive.

Am Ende sieht Ljubow, die verarmte Besitzerin des Kirschgartens (Diana Dengler als souveräner Mittelpunkt des Stücks), ihren Garten verkauft und geht zurück nach Paris, wo sie ihr Liebhaber weiter ausnützen wird. Pflegetochter Warja (Anna Blumer) hat vergeblich auf die Liebe des reichen Lopachin (Tobias Graupner) gehofft, der seinerseits mit dem Garten auch nicht glücklich wird. Leonid, Ljubows Bruder (Christian Hettkamp), und der muntere Gutsbesitzer Boris Borissowitsch (Matthias Albold) bleiben in ihrer Armut stecken, der dusslige Semjon (Oliver Losehand) wird allein das Haus hüten, Dunjascha muss den mit der Herrin abreisenden Jascha verloren geben.

Der Kirschgarten, nächste Vorstellungen 26., 28. April, theatersg.ch

Bis es soweit ist im Schlussbild, ist viel geredet und nichts getan worden, typisch für die «überflüssigen Menschen» der russischen Literatur, seit Oblomow als Krankheit diagnostiziert: Überdruss, Sinnleere, ein Unerfülltsein zum Tode. Noch stärker als Tschechows frühere Stücke spitzt Der Kirschgarten dies jedoch politisch zu, als Kritik an der Agonie des alten Feudalsystems, mit Lopachin als einzigem Gegenbild.

Tobias Graupner (Lopachin, vorn) sowie Benno Schulz, Anna Blumer, Pascale Pfeuti, Diana Dengler, Janna Antonia Rottmann, Christian Hettkamp, Kay Kysela, im Hintergrund Bruno Riedl und Martin von Allmen.

Tschechows Figuren halten sich nicht mehr aus mit sich selbst und in ihrer Zeit. Alles ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Und anders als in den konventionelleren St.Galler Tschechow-Inszenierungen, der Möwe 2007 und den Drei Schwestern 2014, ist die Not hier in die Körper gefahren, mit Lopachins hilflos baumelnden Armen, Ljubows gedrehter Schulter, Leonids theatralischer Kraftpose («Hör auf, Onkel», lachen ihn Warja und Anja aus), dem wilden Pferdegebrüll von Boris, Warjas gequälter Rastlosigkeit, Charlottas einsamen Purzelbäumen.

Da lacht einer panisch auf, da stoppen Bewegungen, noch bevor sie richtig begonnen haben, da rennen und rasen sie über die Bühne und kommen nicht vom Fleck. Da wird mit Blicken geredet und geheimnisst, was an Ungesagtem im Text steckt. Da wird Lebenstrauer weggelacht und Banales existentiell. Als Zuschauer kommt man mit Schauen manchmal nicht nach, was Hände und Füsse und Augen und Münder alles anstellen – nicht nur dann, wenn Charlotta (Kay Kysela) zaubert.

Choreographien der Aussichtslosigkeit

Und das ist die eigentliche Entdeckung dieses Abends: die erstmals in St.Gallen inszenierende, bereits mehrfach ausgezeichnete Zürcher Regisseurin Mélanie Huber. Sie hat ein musikalisches Auge und Ohr für Kippmomente, Untertöne, Stimmungsumschläge. Und sie erfindet mit dem Ensemble vielgestaltige Choreographien der Aussichtslosigkeit. Exemplarisch dafür ist gleich der erste Auftritt von Ljubow: Diana Dengler rauscht mit ihrer Entourage wie ein Wirbelsturm durch die Tür und erstarrt, rauscht weiter, erstarrt – sinnbildlich für die Stockung, in der die ganze Gesellschaft gefangen ist.

Aktualisierung braucht es da nicht, die Kostüme von Lena Hiebel (samt Ljubows spektakulärer Zopffrisur) treffen die Zeit von damals wie das Heute. Die Bühne von Nora Johanna Gromer deutet reduziert die Rückwand des Landhauses an. Die Schwingtüren bieten Gelegenheit für Auf- und Abtritte in guter alter Slapstickmanier, aber stets punktgenau am Text orientiert. Einzige Requisiten sind ein paar alte Stühle und das wunderlich verstimmte Klavier, Jaschas Gurkenglas und Semjons trauriger Blumenstrauss.

Am Ende schlurft Firs (Bruno Riedl) noch einmal durchs Haus, und an den Fensterläden zerrt ein Herbstwind. Die grünen Läden waren das ganze Stück über verschlossen geblieben.