, 29. März 2022
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Alles zugleich ist wahr

Queer, trans und dekolonial: Die Ausstellung «Orlando» im Fotomuseum Winterthur basiert auf Virginia Woolfs gleichnamigem Roman und spinnt ihre Fäden weiter – auch dank der Ergänzung mit Frida Orupabos 3D-Collagen.

Installationsansicht «Orlando». (Bilder: Fotomuseum Winterthur)

Die Geschichte von Orlando ist episch in allen Belangen. Sie umspannt über vier Jahrhunderte, sprengt die Geschlechtergrenzen, führt um die halbe Welt, quillt philosophisch wie emotional über und ist in ebenso furioser Sprache verfasst. Virginia Woolf hat den avantgardistischen Roman Orlando – eine Biografie, 1928 erschienen, in einem «einmalig glücklichen Herbst» geschrieben. Wie Urlaub sei es gewesen, sagte sie, nie habe sie ein Buch schneller vollendet. Dieser sinnliche Sog wirkt auch beim Lesen.

Die Geschichte beginnt im 16. Jahrhundert damit, dass Orlando – er –, denn laut Woolf «war kein Zweifel über sein Geschlecht möglich, wenn auch die Mode der Zeit dazu beitrug, es unkenntlich zu machen», den Kopf eines Mauren zersäbelt, der von einem Balken herabbaumelt, und endet damit, dass Orlando – dank einer wundersamen Wandlung mittlerweile eine Sie – selbstgeworden und verzückt 1928 auf den Wurzeln «ihrer» Eiche liegt.

Dazwischen liegen Welten und Wahn, Königinnen und Kriege. Grosse Konstante hierbei ist Orlandos Hang zur Literatur, die ihn bzw. sie über die Jahrhunderte gleichermassen geisselt wie beflügelt.

Orlando wurde 1992 von Sally Potter verfilmt, mit Tilda Swinton in der Hauptrolle. Swinton sieht Orlando «als eine Geschichte über das Leben eines Menschen, der danach strebt, sich vollständig von den Konstruktionen des Geschlechts oder sozialer Normen zu befreien.»

Tilda Swinton als Orlando: Vorproduktionsbild von Regisseurin Sally Potter, um die Finanzierung des Films zu sichern, 1988.

Im Vorwort zur neu übersetzen Orlando-Auflage im Kampa-Verlag (2022) schreibt Swinton: «Das Buch bestärkte mich in dem Glauben, dass alles zugleich wahr ist: Junge und Mädchen, Herkunft und Zukunft, England und der Rest der Welt, Einsamkeit und Gesellschaft, Literatur und Leben, die Schnellen und die Langsamen, die Lebenden und die Toten, jetzt und damals – alles eine Frage der Beleuchtung».

Das Schwanken

Noch bis Ende Mai ist im Fotomuseum Winterthur die von Tilda Swinton kuratierte gleichnamige Ausstellung mit Werken von elf zeitgenössischen Kunstschaffenden und Fotograf:innen zu sehen, die die Themen in Woolfs wegweisendem Roman aufgreifen: Genderfluidität, grenzenloses Bewusstsein, ewiges Leben. Die Ausstellung «Orlando» ist im Rahmen von Swintons Arbeit als Gastredaktorin für das Magazin «Aperture» entstanden und wurde vom Fotomuseum mit einer Einführung zu Virginia Woolf und Sally Potter ergänzt.

«Mögen die Geschlechter verschieden sein – so vermischen sie sich doch auch», schreibt Woolf in Orlando. «In jedem menschlichen Wesen ereignet sich ein Schwanken zwischen den beiden Geschlechtern, und oft sind es nur die Kleider, die einen Menschen weiterhin als Mann oder als Frau erscheinen lassen, während darunter ein dem Äusseren durchaus entgegengesetztes Geschlecht sich birgt.»

«Orlando – nach einem Roman von Virginia Woolf» und «Frida Orupabo – I have seen a million pictures of my face and I still have no idea»:
bis 29. Mai, Fotomuseum Winterthur

Artist-Talk mit Jamal Nxedlana:
31. März, 20 Uhr (online)

fotomuseum.ch

Geschlecht als Kontinuum. Zwei (oder mehrere) Pole, zwischen denen alles möglich und selbstverständlich ist: Diese Erkenntnis Woolfs – aus heutiger Sicht fast schon banal – steht im Zentrum der Ausstellung. Doch die Arbeiten beziehen sich keineswegs allein auf ihren Roman, sondern spinnen Woolfs Fäden weiter, bringen ihre Themen ins Jetzt – queer, trans und dekolonial. Heteronormative Vorstellungen, herrschende Machtverhältnisse und der weisse «male gaze», der männliche Blick, werden in Frage gestellt und stattdessen marginalisierte Communities und alternative Lebensentwürfe ins Zentrum gerückt.

Das Rütteln

Eine der augenfälligsten Arbeiten, zu sehen auch auf dem Plakat der Ausstellung, ist jene von Jamal Nxedlana aus Johannesburg. Seine ikonischen Fotografien des südafrikanischen Performance-Duos FAKA, einigen sicher noch in bester Erinnerung von ihrem bombastischen Auftritt 2018 im St.Galler Palace, wirken wie die logische Fortführung von Orlando. Sie kontrastieren das Bild des British Empire zu Orlandos Zeiten mit ihren selbstverständlichen Schwarzen und queeren Identitäten der Gegenwart.

Jamal Nxedlana: FAKA Portrait, Johannesburg, 2019

Ähnlich verhält es sich mit den Werken von Mickalene Thomas. Ihre vier Porträts sind zwar inspiriert von Orlandos musenähnlicher Beziehung zu Königin Elisabeth I., brechen aber gleichzeitig mit allen möglichen sicht- und unsichtbaren Hierarchien.

Ihre Ikonen seien Ausdruck von «Handlungsmacht und fliessender Sexualität», sagt Thomas. «Sie spielen auf Schwarze Frauen an, die Schwarze Frauen lieben, und auf Femmes, die Schwarze Männer lieben – in einer Welt, die diese Personen nicht allzu oft zurückliebt.»

Mickalene Thomas: Untitled #2 (Orlando Series), 2019

Die in «Orlando» verhandelten Themen, insbesondere jene der Geschlechtlichkeit, sind nicht neu. Es ist die dekoloniale Perspektive, die die Ausstellung so sehenswert macht und vorwärts treibt. Pointiert wird sie durch die Werke von Frida Orupabo, die ebenfalls noch bis Ende Mai im Fotomuseum zu sehen sind.

Die norwegisch-nigerianische Künstlerin und Soziologin kreiert Videoinstallationen und 3D-Collagen aus historischen Fotografien der Kolonialzeit und zeitgenössischen Bildern aus Medizin, Ethnografie und Popkultur. So erweckt sie neue, eigen- und widerständige Figuren zum Leben – Subjekte statt Objekte. Orlando hätte ihre helle Freude an dieser Fortschreibung ihrer Themen.

Frida Orupabo: Closed Fists, A Warm Meal und Batwoman, 2021, Installationsansicht (Klick zum Vergrössern).

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