Wenn von Free Jazz die Rede ist, verdrehen viele erstmal die Augen. Nicht aus Verzückung, sondern weil die gewollte Irritation und das dauernde Ausloten der Grenzen des musikalisch Erträglichen ganz schön anstrengend sein können. Zum Glück gibt es da Formationen wie das Sun Ra Arkestra, die auch für ein breiteres Publikum funktionieren.
Gegründet 1956 von Tastenmann und Komponist Herman Poole Blount alias Sun Ra (1914–1993), zählt die Big Band zu den Vorreitern des Afrofuturism und eben des Free Jazz, wobei dieser aber eher als Befreiungsjazz im politischen und vielleicht etwas weniger im musikalisch-experimentellen Sinn zu verstehen war. Natürlich geht es auch hier um das Sprengen von Ketten musikalischer Konventionen, was aber nicht zwangsläufig in hyper-avantgardistisches Gedöns ausarten muss, wie das Arkestra in seiner Geschichte immer wieder bewiesen hat. Es verbindet «auf magische Art und Weise Free Jazz, Big-Band- Swing und Groove», schrieb die begeisterte Kritik über den Auftritt am letztjährigen Jazzfest Berlin.
Entsprechend reichte der Einfluss des Sun Ra Arkestra nicht nur in alle Spielarten des Jazz, sondern auch weit über die Genregrenzen hinaus, «von Pop bis Techno», wie es in der Ankündigung auf der Palace- Page heisst. So sangen etwa Ja, Panik mit Sun Ras epischem Space is the Place, «der die Flüchtigen liebt», gegen die Festung Europa an und Blur spülten zur selben Textzeile in einem ausufernden Outro den schrammlig-heiteren Bugman runter.
Dass das Sun Ra Arkestra nie zur reinen Repertoire-Band verkam, wie das Palace weiter schreibt, ist auch Marshall Allen zu verdanken, der nach Blounts Tod (oder dessen Umzug auf den Saturn?) 1993 Band- leader wurde. Auch wenn Allen, der am 25. Mai 101 Jahre alt wird, nicht mehr auf Tournee geht, ist die Message des Arkestras alles andere als auserzählt. Das spacige Abenteuer hat gerade erst begonnen.
Sparksss’ Schlaflieder
Amboss & Steigbügel warten mit einer weiteren Überraschung auf, allerdings im etwas beschaulicheren Rahmen im Perronnord. Hier ist für den 4. Mai die Kanada-Tessinerin Camilla Sparksss angekündigt. Auf ihrem aktuellen Album Lullabies (2023) hat sie das Mellotron für sich entdeckt, ein Instrument, das auf Magnetband aufgezeichnete Flöten-, Violinen-, Bläser- und andere Klänge wiedergeben kann. Eine Art «analoge Urform des Samplings», wie es in der Konzertankündigung heisst.
Das klingt auf dem Album schonmal wesentlich bedächtiger als der energetische bis furchteinflössende Synthpop, für den Camilla Sparksss bislang bekannt war. Feine Klänge statt harte Beats. Spoken Word statt Urschrei. Der «WOZ» erzählte Barbara Lehnhoff, wie Sparksss mit bürgerlichem Namen heisst, sie habe wohl vor allem wegen der allgemeinen Verlangsamung während der Coronazeit angefangen, Schlaflieder zu schreiben.
Wenn Sparksss live aufspielt, ist das nie nur Klang. Das Visuelle wie das Theatrale waren schon immer Teil ihrer Performances. Und so wird es auch in St.Gallen sein, wo Szenograf Cédric Raccio das Perronnord in ein funkelndes und zugleich düsteres Märchenkabinett verwandeln wird.
Man kann sich durchaus fragen: Ist das noch Jazz? Andererseits: Wohin soll diese Frage zielen? Wie so oft geht es im Programm von Amboss & Steigbügel nicht um starre Genregrenzen, sondern in erster Linie um die Freude am Experiment, am Aussergewöhnlichen. Und mit Sicherheit sind Sparksss’ Lullabies keine Gebrauchsschnulzen fürs 0815-Büro- und Baustellenradio. Dafür entführen ihre ruhigen Lieder umso nachhaltiger in schöne, melancholische, manchmal auch unheimliche Traumwelten.
Australian Impro-Ambient, Saxofonie française
Mit The Necks kommen wir dem, was gemeinhin als Jazz bezeichnet wird, wieder etwas näher. In klassischer Dreierbesetzung improvisieren sich die Australier seit Gründung ihrer Band 1987 durch ihre Gigs und halten sich dabei an keinerlei Songstrukturen. Nach all den Jahren verstehen sich Pianist Chris Abrahams, Drummer Tony Buck und Bassist Lloyd Swanton blind. Bei ihrem Zusammenspiel entsteht eine Mischung aus Avantgarde, Minimal und Ambient. Das «Wire»-Magazine beschreibt ihre Musik als «tonal, zugänglich und doch zutiefst herausfordernd». Support erhalten die Hälse im Palace vom nierderländisch-griechischen Experimental-Duo Able Noise, das sich mit Bariton-Gitarre, Schlagzeug, Gesang und Kassettenrekorder auf lauschige «postpostrockige» Erkundungen begibt. Sowohl bei The Necks/Able Noise als auch beim Sun Ra Arkestra zeichnet das Palace verantwortlich fürs Booking, Amboss & Steigbügel unterstützen finanziell und bei der Werbung.
Ein weiterer «reiner» A&S-Anlass im Mai, auf den man gespannt sein darf, sind No Noise No Reduction aus Frankreich. Das Holzbläsertrio mit einem Tenor- und zwei Basssaxofonen mäandert musikalisch irgendwo zwischen Post Punk, No Wave und Noise, vom brachialen Ausbruch bis zum barocken Moment ist alles dabei. Gemäss Ankündigung ist der Sound des Trios ebenso zum Pogen geeignet wie zum kennerischen Rotweinschlürfen. Einen passenderen Ort dafür als das Perronnord gibts wohl nicht.