Die Musik von Olive Black passt zu ihrem Namen: Sie klingt wie eine Nachtfahrt durch eine schummrig beleuchtete Grossstadt. Düstere, soulige Melodien verschmelzen mit kantigem R&B und experimentellem Dark-Pop. Ihre Stimme ist warm, mit einer berührenden Tiefe – verletzlich und doch voller Stärke. Instrumental bewegt sie sich elegant zwischen minimalistischen Beats, atmosphärischen Synthesizern und rohen Akustikmomenten.
Die Rheintaler Musikerin, die lange in den USA lebte, hat jetzt ihre zweite EP Reflectō veröffentlicht. Unter der dunkel glitzernden Klangschicht der drei Tracks verbirgt sich jedoch eine noch viel dunklere Geschichte. Denn in den Songs ihrer beiden EPs (die erste, Interitus, ist im November 2023 erschienen) verarbeitet Olive Black schmerzhafte Erfahrungen, die sie bis heute begleiten. Wenn sie davon erzählt, wechselt sie von Schweizerdeutsch ins Englisch, um sich präzis ausdrücken zu können. Und bei ihrer Geschichte, bei all den Emotionen, ist diese Präzision wichtig. Sie handelt von Missbrauch und Misshandlung, von einem Gefängnisaufenthalt, von der Suche nach sich selbst. Olive Black ist ihr Künstlername, ein Alter Ego. Ihren richtigen Namen will sie lieber nicht nennen.
Lieber im Hintergrund als im Rampenlicht
Die musikalische Reife von Olive Black ist beeindruckend. Denn bis vor wenigen Jahren war sie noch keine Musikerin. Ihren ersten Song schrieb sie zwar mit knapp zehn Jahren. «Ich war aber so scheu, dass ich ihn niemandem gezeigt habe. Es ging darin um Krieg, und wer war ich als Kind, um über so ein Thema zu singen. Ich drückte das lieber im Geheimen aus.»
Olive Black hat ADHS, in grossen Räumen mit leeren Wänden fühlt sie sich unwohl. Menschenansammlungen mag sie nicht, an Partys wird sie zur Kettenraucherin, damit sie möglichst lange draussen sein kann. Sie tritt auch nicht gerne vor Publikum auf. «Ich fühle alle im Raum, ich sehe alle Gesichter, das kann ich nicht abstellen.» Auch deshalb arbeitete sie jahrelang in der Musikbranche im Hintergrund und wollte nicht im Rampenlicht stehen.
Kreativität war aber schon immer ein wichtiges Ventil. Seit Jahren macht sie Newspapering, wie sie es nennt: Sie verarbeitet Zeitungen zu Kunstwerken, formt die Seiten zu Figuren oder Formen oder dreht die Seiten zu Schnüren, die sie dann in einem Rahmen aufzieht. «Ich hatte oft wenig Geld, Zeitungen gab es aber gratis und Rahmen konnte ich für wenig Geld kaufen.» Die Kunstwerke bedecken die Wände ihrer Einliegerwohnung in Oberriet, im Haus, in dem sie mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und dem Halbbruder wohnt.

Olive Black vor einem ihrer Zeitungskunstwerke.
Der Ritter als Misshandler
Olive Black wächst als Kind einer Schweizerin und eines Schwarzen Amerikaners im Rheintal und in den USA auf. Ihre Kindheit ist von ständigen Ortswechseln geprägt. Als sie noch ganz klein ist, ziehen die Eltern mit ihr und ihren beiden älteren Brüdern nach Kansas. Kurze Zeit später lassen sie sich scheiden. Weil Olives Grossmutter an Krebs erkrankt, kehrt die Mutter mit den Kindern zurück ins Rheintal. Das Mädchen geht in Oberriet in den Kindergarten, doch für die alleinerziehende Mutter ist es schwierig, Job und Familie zu vereinen. Kitas sind damals noch kaum verbreitet. Also geht es ein Jahr später wieder in die USA – bis Olives Onkel erkrankt. Wieder kehren sie ins Rheintal zurück, diesmal nach Montlingen. Als Olive 12 Jahre alt ist, gehts nach Austin – mit der Absicht, dort zu bleiben.
Am South by Southwest (SXSW), einer mehrtägigen Veranstaltung für Musik, Film und interaktive Medien, lernt sie 2013 Wallstreet – so der Spitzname, den richtigen Namen will sie nicht nennen – kennen. Er wohnt in Ohio, sie in Texas. Olive macht damals eine schwere Zeit durch: Ihre beste Freundin war gestorben, der Freund fremdgegangen, sie hatte den Job verloren, musste raus aus ihrer Wohnung, und schliesslich zog auch die Mutter, bei der sie übergangsmässig wohnte, nach Kansas. «Ich hatte nichts, schlief bei Freund:innen auf der Couch. Eines Tages sass ich bei einer Kollegin in der Wohnung, als er anrief. Er war der Ritter in glänzender Rüstung, ich dachte er hätte mich gerettet. Heute weiss ich, dass meine Situation für ihn eine Gelegenheit war, eine Person, die nichts hatte, kontrollieren zu können.»
Anfang 2014 zieht sie zu Wallstreet, wird sofort schwanger. Der psychische Missbrauch habe früh angefangen, sagt Olive. «Alles, was ich wollte, spielte keine Rolle mehr.» Er manipuliert sie, doch sie will (oder kann) es nicht wahrhaben. Er will nicht, dass sie sich schminkt, unterdrückt ihre Kreativität, wiegelt sie gegen ihr Umfeld auf. «Meine Mutter ist meine beste Freundin, sie war immer für mich da, sie würde mir nie etwas antun. Aber er hatte es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass sie meine Feindin war, dass meine Freund:innen schlechte Menschen waren. Und ich glaubte ihm, weil ich so naiv und verliebt war.»
«Ich dachte, das wars»
Beide hatten schon mehrjährige Erfahrung in der Musikbranche – sie arbeitete zuvor als Tourveranstalterin etwa für Big Sean–, also gründen sie eine Produktionsfirma, managen Künstler:innen, deren Songs auf MTV und BET (Black Entertainment Televison) laufen. Ihr Geschäft läuft jedoch nur so mittelprächtig, und als Wallstreet sein Pensum reduziert, muss sie zusätzliche Aushilfsjobs annehmen, um die Familie finanziell über Wasser zu halten.
Später ziehen Olive und Wallstreet mit ihrer Tochter nach Austin, als Paar funktionieren sie aber nicht mehr. «Wir hatten uns auseinandergelebt, ja verloren.» Sie arbeitet tagsüber, er nachts. Als sie herausfindet, dass er sie betrogen hat, eskaliert die Situation. Er schlägt und würgt sie, schliesslich steht er mit einem Messer in der Hand über ihr. «Ich dachte, das wars.» Damit war eine rote Linie überschritten. «Ich hatte bereits vor, ihn zu verlassen, weil mir der verbale, mentale und emotionale Missbrauch bewusst geworden war. Aber ich brauchte trotzdem einen anderen Grund. Als er mich auch physisch misshandelte, hatte ich ihn.» Von diesem seelischen Schmerz, von jemandem missbraucht zu werden, den man liebt, handelt Confined.
Zwei Monate später, Ende 2017, flüchtet sie zu ihrer Mutter, die wenige Monate zuvor ins Rheintal zurückgekehrt war. Mit 300 Dollar Bargeld, einer knapp dreijährigen Tochter, zwei Koffern und ohne Plan. «Wallstreet hatte mich nur gehen lassen, weil ich ihm mein ganzes Geld gegeben hatte. Das war der einzige Weg raus.» Die Polizei hatte Olive nicht eingeschaltet, «weil ich nicht sein Leben ruinieren wollte». Für Schwarze sei es in den USA ohnehin besser, sich von der Polizei fernzuhalten.
Ein paar Monate später gibt sie Wallstreet nochmal eine Chance. «Ich liebte ihn immer noch, trotz allem.» Doch als er sie erneut schlägt, ist es endgültig vorbei.
Ein Damm, der bricht
Nach der Rückkehr in die Schweiz braucht sie einen Weg, um all das Erlebte zu verarbeiten. Sie wendet sich der Musik zu. Mit einer Smartphone-App und Kopfhörern fängt sie an, Songs zu komponieren – die Gesangsmelodien, die Beats, die Bassline. «Nach dem ersten Tag hatte ich bereits einen Track, der ziemlich gut war.» Es war die Geburtsstunde von Olive Black. «Songwriting war eine mentale Entgiftung. Ich konnte nicht damit aufhören.» Die Tracks strömen regelrecht aus ihr heraus. Wie ein Stausee, dessen Damm plötzlich bricht. Rund 400 sind es bis heute.
Tempted, ebenfalls auf der neuen EP, entstand bereits 2012, als Olive Black im Gefängnis sass. Viele ihrer Freund:innen seien kriminell gewesen, sie selbst dealte mit Drogen, die sie gemeinsam mit einer Freundin – dem «Teufel», von dem sie im Song singt – Dealern stahl. «Eines Tages rief eine schwangere Freundin an, ob ich sie in einem Vorort von Austin abholen könne, sie sei dort gestrandet. Was ich natürlich tat, ich dachte mir nichts dabei. Nur um herauszufinden, dass sie in eine Wohnung eingebrochen war und ein paar Kleinigkeiten geklaut hatte. Ohne Handschuhe, überall Fingerabdrücke. Und ein Bekannter aus der High School beobachtete mich dabei, wie ich sie abholte.»
Zwei Monate verbringt sie im Gefängnis, ehe die Anklage gegen sie – mit einer Strafe von bis zu 50 Jahren – fallen gelassen wird. «Das waren die längsten zwei Monate meines Lebens. Wenn du die Minuten zählst, stoppt die Zeit. Ich hätte alles verlieren können. In jener Gefängniszelle habe ich mir geschworen, nie wieder etwas Kriminelles zu tun.»
Das fehlende Puzzleteil gefunden
Inzwischen hat die Musikerin ein semiprofessionelles Heimstudio in ihrer Einliegerwohnung. Carlo Rainolter (Karl Kave) hat ihr beim Einrichten geholfen, mit Mikrofon, Lautsprechern, Interface und so weiter. Er zeigte ihr auch, wie sie mit einem Programm selber produzieren kann. Das fehlende Puzzleteil für ihre Musik fand Olive Black schliesslich an einem Familiengeburtstag. Dort lernte sie den Pianisten, Keyboarder und Produzenten Ephrem Lüchinger kennen, einen Cousin ihrer Mutter. Er veredelt ihre Tracks, fügt ihnen die speziellen Sounds hinzu. Sie besucht ihn jede Woche im Studio in Zürich, gemeinsam wählen sie aus dem riesigen Materialfundus die Stücke aus, an denen sie dann arbeiten.
Olive Black ist jetzt bereit, ins Rampenlicht zu treten. Dieses Jahr hat sei bei Irascible einen Lizenzvertrag unterschrieben. Im Frühling soll die dritte EP erscheinen, und vielleicht schon Ende 2025 ein Album mit den drei EPs und drei neuen Stücken. Und sie will mehr Konzerte spielen, ihre Musik live zum Leben erwecken.
Aber ist es für sie nicht schwierig, sich nach mehreren Jahren diesen intensiven Songs wieder zu widmen, sie immer wieder zu singen? Olive Black winkt ab: «Als ich Confined schrieb, war das schmerzhaft. Aber ich musste diesen Prozess durchlaufen. Es war Therapie für mich. Ich hatte jahrelang nicht auf mich geschaut und meine Bedürfnisse ignoriert – und mich selbst unterwegs verloren. Jetzt, wo ich diesen Schmerz verarbeitet habe, kann ich die Songs anhören und singen. Sie erinnern mich daran, was ich erlebt habe. Es tut aber nicht mehr weh.»
Olive Black: Reflectō ist am 21. November bei Irascible digital erschienen.
