«Wenn ich das Protokoll strikt befolge, zeigt sich das Andenken normalerweise ohne Umschweife. Es sticht deutlich hervor unter den anderen Dingen, es leuchtet und ruft nach mir, und ich fühle direkt und unverkennbar: Das ist das Andenken.»
Die Protagonistin Letta in Agnes Siegenthalers Debütroman So nah, so hell aus dem Jahr 2025 bricht ein in die Wohnräume unbekannter Verstorbener und sucht nach besonderen Gegenständen, nach Andenken an diese fremden Leben. Dabei folgt sie einem festgelegten Ablauf. Doch im Haus von Pauls verstorbener Grossmutter Lore läuft alles anders als sonst.
Zwei Gäste bei einer Toten
Das gesuchte Andenken ist diesmal nicht so leicht zu finden. Deshalb bricht Letta mit ihrem Protokoll: Sie bleibt lange im Haus, öffnet die Schränke und stöbert in den Sachen. Und dann ist sie plötzlich nicht mehr allein im Haus. Paul, der Enkel der verstorbenen Lore, ist da. Er hat die Urne dabei und soll der Grossmutter einen allerletzten Gefallen tun.
Die erste Begegnung zwischen Letta und Paul verläuft überraschend unaufgeregt. Man fragt sich, warum Paul kaum darauf reagiert, dass eine fremde Person im Haus seiner Grossmutter herumschnüffelt. Auch zu Lettas Motivation, Andenken von fremden Toten zu sammeln, schweigt die Geschichte.
Und während Letta noch den einen «leuchtenden» Gegenstand sucht, durchforstet Paul seine Erinnerungen und hofft, dass ihm wieder einfällt, wo der Lieblingsort der Grossmutter war, an dem er ihre Asche verstreuen soll. Langsam entwickelt sich zwischen den beiden Hausgästen eine verhaltene Beziehung, die geprägt ist von einer merkwürdigen Vertrautheit.
Das Hasenauge hats gesehen
Die Sprache, in der Agnes Siegenthaler aus Lettas und Pauls Perspektive erzählt, ist reduziert, aber nicht unterkühlt. Mit hoher Genauigkeit beschreibt sie Licht, Geräusche, Umgebung und Materialien, fast wie im Film. Immer wieder wird dieser Erzählstrang durch Rückblenden aufgebrochen.
Diese Rückblenden sind nicht nur erzählerisch, sondern auch stilistisch markant. Siegenthaler wechselt hier in eine lyrisch verdichtete Sprache und es sind die Gegenstände im Haus – eine Butterdose, ein Hygrometer, ein Schwan auf der Bibel –, die von der Vergangenheit erzählen. Bruchstückhaft rekonstruiert sich so Lores Geschichte. Eine Geschichte von Vereinsamung, emotionaler Gewalt und Unterwerfung.
«Das Hasenauge
schaut Lore beim
Abwasch zu.
Jeden Tag
bis zu drei Mal.»
Dennoch ist Lores Figur nur schwer fassbar. Vieles bleibt im Dunkeln, auch wenn man sich einiges zusammenreimen kann. Aber vielleicht ist es ja manchmal genauso: Man tritt ein in die Räume einer verstorbenen Person, und obwohl noch alles da ist, sind es doch nur noch Bruchstücke. Ganz nahe kommt man der Person nicht mehr.
Agnes Siegenthaler gelingt ein erstaunlich dichter, vielschichtiger Roman, der seine Kraft nicht aus Handlung, sondern aus Stimmung und Struktur bezieht. Es ist ein Buch über das Erinnern und über das, was verschwindet, wenn man stirbt.
Sofalesung mit der Autorin, 18. Mai, 17 Uhr, bei Bianca zu hause, Sonnenhaldenstr. 20a, 9008 St. Gallen. (Anmeldung erforderlich)