Andenken und eine Urne

Was bleibt, wenn ein Mensch stirbt? In Agnes Siegenthalers Debütroman sucht eine Frau in fremden Häusern nach «leuchtenden» Dingen – und begegnet dabei einem Mann mit einer Urne und vielen Fragen.

Die Autorin Agnes Siegenthaler (Bild: pd/Karen Moser)

«Wenn ich das Pro­to­koll strikt be­fol­ge, zeigt sich das An­denken nor­ma­ler­wei­se oh­ne Um­schwei­fe. Es sticht deut­lich her­vor un­ter den an­de­ren Din­gen, es leuch­tet und ruft nach mir, und ich füh­le di­rekt und un­ver­kenn­bar: Das ist das An­denken.»

Die Prot­ago­nis­tin Let­ta in Agnes Sie­gen­tha­lers De­büt­ro­man So nah, so hell aus dem Jahr 2025 bricht ein in die Wohn­räu­me un­be­kann­ter Ver­stor­be­ner und sucht nach be­son­de­ren Ge­gen­stän­den, nach An­denken an die­se frem­den Le­ben. Da­bei folgt sie ei­nem fest­ge­leg­ten Ab­lauf. Doch im Haus von Pauls ver­stor­be­ner Gross­mutter Lo­re läuft al­les an­ders als sonst.

Zwei Gäs­te bei ei­ner To­ten

Das ge­such­te An­denken ist dies­mal nicht so leicht zu fin­den. Des­halb bricht Let­ta mit ih­rem Pro­to­koll: Sie bleibt lan­ge im Haus, öff­net die Schrän­ke und stö­bert in den Sa­chen. Und dann ist sie plötz­lich nicht mehr al­lein im Haus. Paul, der En­kel der ver­stor­be­nen Lo­re, ist da. Er hat die Ur­ne da­bei und soll der Gross­mutter ei­nen al­ler­letz­ten Ge­fal­len tun. 

Die ers­te Be­geg­nung zwi­schen Let­ta und Paul ver­läuft über­ra­schend un­auf­ge­regt. Man fragt sich, war­um Paul kaum dar­auf re­agiert, dass ei­ne frem­de Per­son im Haus sei­ner Gross­mutter her­um­schnüf­felt. Auch zu Let­tas Mo­ti­va­ti­on, An­denken von frem­den To­ten zu sam­meln, schweigt die Ge­schich­te. 

Und wäh­rend Let­ta noch den ei­nen «leuch­ten­den» Ge­gen­stand sucht, durch­fors­tet Paul sei­ne Er­in­ne­run­gen und hofft, dass ihm wie­der ein­fällt, wo der Lieb­lings­ort der Gross­mutter war, an dem er ih­re Asche ver­streu­en soll. Lang­sam ent­wi­ckelt sich zwi­schen den bei­den Haus­gäs­ten ei­ne ver­hal­te­ne Be­zie­hung, die ge­prägt ist von ei­ner merk­wür­di­gen Ver­traut­heit.

Das Ha­sen­au­ge hats ge­se­hen 

Die Spra­che, in der Agnes Sie­gen­tha­ler aus Let­tas und Pauls Per­spek­ti­ve er­zählt, ist re­du­ziert, aber nicht un­ter­kühlt. Mit ho­her Ge­nau­ig­keit be­schreibt sie Licht, Ge­räu­sche, Um­ge­bung und Ma­te­ria­li­en, fast wie im Film. Im­mer wie­der wird die­ser Er­zähl­strang durch Rück­blen­den auf­ge­bro­chen. 

Die­se Rück­blen­den sind nicht nur er­zäh­le­risch, son­dern auch sti­lis­tisch mar­kant. Sie­gen­tha­ler wech­selt hier in ei­ne ly­risch ver­dich­te­te Spra­che und es sind die Ge­gen­stän­de im Haus – ei­ne But­ter­do­se, ein Hy­gro­me­ter, ein Schwan auf der Bi­bel –, die von der Ver­gan­gen­heit er­zäh­len. Bruch­stück­haft re­kon­stru­iert sich so Lo­res Ge­schich­te. Ei­ne Ge­schich­te von Ver­ein­sa­mung, emo­tio­na­ler Ge­walt und Un­ter­wer­fung.

«Das Ha­sen­au­ge
schaut Lo­re beim
Ab­wasch zu.
Je­den Tag
bis zu drei Mal.»

Den­noch ist Lo­res Fi­gur nur schwer fass­bar. Vie­les bleibt im Dun­keln, auch wenn man sich ei­ni­ges zu­sam­men­rei­men kann. Aber viel­leicht ist es ja manch­mal ge­nau­so: Man tritt ein in die Räu­me ei­ner ver­stor­be­nen Per­son, und ob­wohl noch al­les da ist, sind es doch nur noch Bruch­stü­cke. Ganz na­he kommt man der Per­son nicht mehr.

Agnes Sie­gen­tha­ler ge­lingt ein er­staun­lich dich­ter, viel­schich­ti­ger Ro­man, der sei­ne Kraft nicht aus Hand­lung, son­dern aus Stim­mung und Struk­tur be­zieht. Es ist ein Buch über das Er­in­nern und über das, was ver­schwin­det, wenn man stirbt. 

So­fa­le­sung mit der Au­torin, 18. Mai, 17 Uhr, bei Bi­an­ca zu hau­se, Son­nen­hal­den­str. 20a, 9008 St. Gal­len. (An­mel­dung er­for­der­lich)

sai­ten.ch/ka­len­der

so­fa­le­sun­gen.ch

Mehr zu Buch und Autorin

Agnes Sie­gen­tha­ler (1988*) stammt aus Bern und hat Li­te­ra­ri­sches Schrei­ben so­wie So­zia­le Ar­beit stu­diert. Sie schreibt Pro­sa und Ly­rik und lebt heu­te in der Re­gi­on Bern und Fri­bourg. So nah, so hell (2025) ist ihr Ro­man­de­büt.

Agnes Sie­gen­tha­ler: So nah, so hell. Zyt­glog­ge Ver­lag, Bern 2025.