Angst und Liebe
Der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer redete gestern im Kinok über die Bildung und die Angst – das Thema seines neusten Dokumentarfilmes «Alphabet». Einen Teil des Filmes drehte er an der HSG. Ein Gastbeitrag von Sophie Rudolph

Die Bildung ist ein geschlossenes System, das vom Konzept der Angst bestimmt ist. Das hat sie mit den zwei anderen Systemen gemeinsam, die der Regisseur Erwin Wagenhofer in seinen bisherigen Dokumentationen «We feed the world» (2005) und «Let’s make money» (2008) unter die Lupe genommen hat: mit den Nahrungsmittelketten und mit der Finanzindustrie. Am Mittwochabend war er im Kinok zu Gast und gab einen Einblick in die Arbeit an seinem neusten Dokumentarfilmprojekt «Alphabet» (Arbeitstitel). Die Veranstaltung wurde zusammen mit der Haniel-Stiftung im Rahmen des Kontextstudiums der Universität St.Gallen organisiert, wo Wagenhofer zur Zeit auch ein Seminar mit Studierenden hält. Zu sehen gab es fünf Ausschnitte aus der noch entstehenden Rohschnittfassung. Eine Konfrontation des Kinos auf der Leinwand mit dem Kino im Kopf.
Das die Bildung von Angst bestimmt ist, zeigt Wagenhofer mit dem Porträt der erfolgreichen jungen McKinsey-Berater, die sich gegen die «feindliche Übernahme» rüsten, aber auch damit, wie in China börsennotierte Nachhilfeunternehmen Milliardengeschäfte mit Prüfungsvorbereitungskursen machen, oder mit dem Hirnforscher Gerald Hüther, der von der Übertragung der Angst der Kriegsgeneration auf die Nachkommen spricht. Im Gegenzug dazu sieht Erwin Wagenhofer mit Pablo Pinedo, dem ersten Europäer mit Down-Syndrom, der einen Universitätabschluss hat, die Zukunft im Konzept der Liebe, die nicht die Erziehung des Kindes sondern die Beziehung zum Kind in den Mittelpunkt stellt. Vertrauen in die Entwicklung des Kindes anstatt ständiger Kontrolle – das ist Erwin Wagenhofers Vision einer freien Bildung, die er ausserhalb des ökonomisierten Bildungssystems sieht. In der Mittwochabend-Diskussion im Kinok kommt aber unweigerlich die Frage auf, wie man angesichts des massiven Wettbewerbs und Konkurrenzdrucks überhaupt anders als karriereorientiert handeln kann?
Für seinen Film «Alphabet» hat Erwin Wagenhofer auch an der HSG gedreht und Impressionen des Aufnahmetests eingefangen. Der von einer deutschen Agentur entwickelte Hochbegabungstest soll die Besten der Besten herausfiltern. Dabei, so eine Studie, auf die sich der Filmemacher bezieht, kommen 98% der Kinder hochbegabt zur Welt, nach der Schulzeit aber bleiben nur 2% davon übrig. Eine radikalere Absage an unsere etablierten Schulsysteme kann man sich kaum vorstellen, aber auch keine polemischere.
Man darf gespannt sein, wie der Film schlussendlich aussehen wird, wenn er im Herbst in die Kinos kommt. Je nach Dramaturgie des Filmschnittes werden die Zuschauer auf bestimmte Fragen gelenkt, auch das wurde im Verlauf der Diskussion deutlich. Im Gedächtnis bleibt das Bild, das ein chinesischer Pädagogik-Professor in einem der Clips gibt: er vergleicht die Erziehung eines Kindes mit einem Drachen, den man steigen lässt. Natürlich will man, dass er hoch hinaus fliegt, aber gleichzeitig behält man ihn an der Schnur. Denn wenn wir loslassen, wissen wir ja nicht, was passiert.