Der Alltag, aus dem die Geschichte ist

Die Geschichten in Elseners Trilogie sind immer auch mit Erinnerungen verbunden (Bild: Peter Müller).

Am Dienstag hat die Vernissage von Otmar Elseners neuem Buch stattgefunden. Es ist der dritte Band  Rorschacher Geschichten.

Ge­gen En­de der Buch­ver­nis­sa­ge vom Diens­tag frag­te Mo­de­ra­tor Mar­cel El­se­ner: „Du wirst wei­ter­schrei­ben, gell?“ Der Au­tor – der Va­ter des Mo­de­ra­tors – be­jah­te, und da klatsch­te das Pu­bli­kum spon­tan. Dass es kein wei­te­res Buch mehr ge­ben dürf­te, nur Ar­ti­kel, stör­te nicht. Schliess­lich ist Ot­mar El­se­ner vor kur­zem 91 Jah­re alt ge­wor­den. Der Bei­fall an der Ver­nis­sa­ge zeigt ein­drück­lich: Ot­mar El­se­ner und sei­ne his­to­ri­schen Ge­schich­ten aus der Stadt und der Re­gi­on Ror­schach sind ein Phä­no­men. Vie­le Leu­te schät­zen, ja lie­ben die­se Tex­te und wa­ren denn auch in gros­ser Zahl zur Ver­nis­sa­ge auf Schloss War­t­egg ge­kom­men – die meis­ten über 60. Der Saal platz­te fast aus den Näh­ten. Vie­le In­ter­es­sier­te muss­ten ste­hen, ei­ni­ge gin­gen wie­der heim, weil sie kei­nen Platz mehr fan­den.

Ot­mar El­se­ner er­zählt von Men­schen und Er­eig­nis­sen aus un­ter­schied­lichs­ten Zei­ten und Le­bens­be­rei­chen, in ei­ner Mi­schung von jour­na­lis­ti­scher Le­ben­dig­keit und his­to­ri­scher Ge­nau­ig­keit. In sei­nem neu­es­ten Buch geht es et­wa um Küh­ler­fa­bri­kan­ten und Son­nen­an­be­ter, um Müh­len­be­trei­ber, Flug­bau­pio­nie­ren und Tanz­leh­re­rin­nen, um hie­si­ge Na­zis im No­bel­ho­tel und be­herz­ten Flücht­lings­ret­tun­gen und den Kra­wall um den Auf­tritt ei­nes deut­schen Schnul­zen-Rock’n’Roll-Sän­gers. 

Be­geg­nung mit Er­in­ne­run­gen

Zu vie­len Ge­schich­ten hat El­se­ner aus sei­nem lan­gen Le­ben ei­ge­ne Ein­drü­cke und Er­in­ne­run­gen, aber auch die­se wer­den mit ge­nau­en Re­cher­chen er­gänzt. An­ge­fan­gen zu schrei­ben hat er 1999, nach sei­ner Pen­sio­nie­rung, pri­mär für das Ost­schwei­zer Tag­blatt. 2011 folg­te ein ers­tes Buch mit ei­ner Samm­lung aus­ge­wähl­ter Tex­te, 2017 das zwei­te und jetzt das drit­te. Al­le drei sind ei­ne „Fa­mi­li­en­pro­duk­ti­on“. Die jour­na­lis­tisch tä­ti­gen Söh­ne Mar­cel und Ro­man be­tei­lig­ten sich an der Re­dak­ti­on, Sohn Adri­an – Gra­fi­ker in Zü­rich – über­nahm die Ge­stal­tung. Ro­man be­glei­te­te zu­dem – zu­sam­men mit Ni­klaus Loo­ser – die Ver­nis­sa­ge vom Diens­tag mit Mu­sik und Songs. Und der St.Gal­ler Thea­ter­schau­spie­ler Mar­cus Schä­fer las ei­ni­ge Tex­te aus dem neus­ten Band.

Der per­sön­li­che Be­zug zu die­sen Ge­schich­ten spielt ganz of­fen­sicht­lich auch bei vie­len Le­ser:in­nen ei­ne wich­ti­ge Rol­le: Sie schät­zen es, in die­sen Tex­ten ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen zu be­geg­nen, dem Ror­schach ih­rer ei­ge­nen Bio­gra­fie. Wo kön­nen sie das sonst heut­zu­ta­ge? Su­s­an Wid­rig – ei­ner der bei­den Gäs­te am klei­nen Po­di­ums­ge­spräch, das zum Abend ge­hör­te – sprach vom „Wie­der­erken­nungs­wert“. Aber auch oh­ne die­se Er­in­ne­run­gen kann man von die­sen Ge­schich­ten pro­fi­tie­ren, mein­te die Ror­scha­cher Ober­stu­fen­leh­re­rin und Stadt­füh­re­rin: „Vie­le Schü­ler ha­ben heu­te kei­ne Wur­zeln in Ror­schach. Sie sind hier, weil die El­tern hier Ar­beit ge­fun­den ha­ben. Wenn ich ih­nen er­zäh­le, dass die Frem­den schon im­mer zu Ror­schach ge­hört ha­ben, schafft das Be­zü­ge.“ Sie will die Ein­woh­ner:in­nen mer­ken las­sen: „Du bist ein Teil von Ror­schach. Du ge­hörst da­zu – auch wenn Du nicht al­les ver­stehst.“ 

Für Ste­fan Kel­ler, His­to­ri­ker, Jour­na­list und Au­tor mit Thur­gau­er Wur­zeln, sind Ot­mar El­sen­ers Ge­schich­ten vor al­lem we­gen ih­rem In­ter­es­se am kon­kre­ten All­tag span­nend: „Sie zei­gen, dass die Welt ei­gent­lich aus klei­nen, un­schein­ba­ren Din­gen zu­sam­men­ge­setzt ist.“ Da­zu kommt ei­ne ge­wis­se Kom­pen­sa­ti­on für die Ba­na­li­sie­rung un­se­rer All­tags­welt heu­te. Die Schweiz se­he vie­ler­orts mehr oder we­ni­ger gleich aus, sei stark zu­ge­baut: „In der Lo­kal­ge­schich­te fin­det man noch In­di­vi­du­el­les, Cha­rak­ter­vol­les.“ Für Kel­ler sind Ot­mar El­sen­ers Ge­schich­ten ex­em­pla­ri­sche Lo­kal­ge­schich­te, die über Ror­schach hin­aus­reicht. Man kön­ne sie auch in Zü­rich oder Bern mit Ge­winn le­sen. 

Die Zu­kunft der Ge­schich­ten

Aber eben: Ot­mar El­se­ner, pen­sio­nier­ter Sti­cke­rei­ver­käu­fer und pas­sio­nier­ter Seg­ler im Ru­he­stand, ist in­zwi­schen 91 Jah­re alt. Wie geht es wei­ter mit der Ror­scha­cher Lo­kal­ge­schich­te, ih­rer Auf­ar­bei­tung und ih­rer Prä­senz? Das war an der Ver­nis­sa­ge der Ele­fant im Raum. Gut steht es nicht mit ihr. Es fehlt – wie vie­ler­orts – an Leu­ten, die sich da­für en­ga­gie­ren, es fehlt an Geld, an Pu­bli­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten, an Ver­an­stal­tun­gen, an Spon­so­ren und oft auch an Pu­bli­kum. Es fehlt am Rück­halt der Be­hör­den, und das Mu­se­um im Korn­haus führt seit Jah­ren nur noch ei­nen Mi­ni­mal­be­trieb. 

Da­zu kom­men wich­ti­ge his­to­ri­sche The­men, die weit­ge­hend brach­lie­gen, Stadt­po­li­tik und Stadt­ent­wick­lung et­wa, Um­welt und Öko­lo­gie oder das mi­gran­ti­sche Ror­schach. Es leuch­tet ein, dass die­se Fra­gen an der Ver­nis­sa­ge kein gros­ses The­ma wa­ren. Im Zen­trum stan­den das Werk von Ot­mar El­se­ner und die vie­len Ge­schich­ten, das Er­in­nern und Sich-Freu­en, das Plau­dern und Dis­ku­tie­ren. Mit ih­rem Reich­tum an Fak­ten und Zu­sam­men­hän­gen, Oral Histo­ry und Ar­chiv­ma­te­ri­al wer­den die­se Ge­schich­ten noch lan­ge wich­tig blei­ben. Es braucht aber noch An­de­res, Fach­his­to­ri­sches-Ana­ly­ti­sches et­wa. So brö­tig die­se Form von Ge­schich­te sein kann – auch sie ist für das Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit wich­tig, be­rei­chert es. Mit Kon­tex­ten und Be­griff­lich­kei­ten, mit Fra­gen und Ein­sich­ten. 

Ot­mar El­se­ner, Ror­schach – Ge­schich­ten aus der Ha­fen­stadt (2011), Ror­schach – Ge­schich­ten aus der Re­gi­on (2017), Ror­schach – Ge­schich­ten zwi­schen See und Berg (2025), al­le er­schie­nen im Ap­pen­zel­ler Ver­lag.

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