Gegen Ende der Buchvernissage vom Dienstag fragte Moderator Marcel Elsener: „Du wirst weiterschreiben, gell?“ Der Autor – der Vater des Moderators – bejahte, und da klatschte das Publikum spontan. Dass es kein weiteres Buch mehr geben dürfte, nur Artikel, störte nicht. Schliesslich ist Otmar Elsener vor kurzem 91 Jahre alt geworden. Der Beifall an der Vernissage zeigt eindrücklich: Otmar Elsener und seine historischen Geschichten aus der Stadt und der Region Rorschach sind ein Phänomen. Viele Leute schätzen, ja lieben diese Texte und waren denn auch in grosser Zahl zur Vernissage auf Schloss Wartegg gekommen – die meisten über 60. Der Saal platzte fast aus den Nähten. Viele Interessierte mussten stehen, einige gingen wieder heim, weil sie keinen Platz mehr fanden.
Otmar Elsener erzählt von Menschen und Ereignissen aus unterschiedlichsten Zeiten und Lebensbereichen, in einer Mischung von journalistischer Lebendigkeit und historischer Genauigkeit. In seinem neuesten Buch geht es etwa um Kühlerfabrikanten und Sonnenanbeter, um Mühlenbetreiber, Flugbaupionieren und Tanzlehrerinnen, um hiesige Nazis im Nobelhotel und beherzten Flüchtlingsrettungen und den Krawall um den Auftritt eines deutschen Schnulzen-Rock’n’Roll-Sängers.
Begegnung mit Erinnerungen
Zu vielen Geschichten hat Elsener aus seinem langen Leben eigene Eindrücke und Erinnerungen, aber auch diese werden mit genauen Recherchen ergänzt. Angefangen zu schreiben hat er 1999, nach seiner Pensionierung, primär für das Ostschweizer Tagblatt. 2011 folgte ein erstes Buch mit einer Sammlung ausgewählter Texte, 2017 das zweite und jetzt das dritte. Alle drei sind eine „Familienproduktion“. Die journalistisch tätigen Söhne Marcel und Roman beteiligten sich an der Redaktion, Sohn Adrian – Grafiker in Zürich – übernahm die Gestaltung. Roman begleitete zudem – zusammen mit Niklaus Looser – die Vernissage vom Dienstag mit Musik und Songs. Und der St.Galler Theaterschauspieler Marcus Schäfer las einige Texte aus dem neusten Band.
Der persönliche Bezug zu diesen Geschichten spielt ganz offensichtlich auch bei vielen Leser:innen eine wichtige Rolle: Sie schätzen es, in diesen Texten eigenen Erinnerungen zu begegnen, dem Rorschach ihrer eigenen Biografie. Wo können sie das sonst heutzutage? Susan Widrig – einer der beiden Gäste am kleinen Podiumsgespräch, das zum Abend gehörte – sprach vom „Wiedererkennungswert“. Aber auch ohne diese Erinnerungen kann man von diesen Geschichten profitieren, meinte die Rorschacher Oberstufenlehrerin und Stadtführerin: „Viele Schüler haben heute keine Wurzeln in Rorschach. Sie sind hier, weil die Eltern hier Arbeit gefunden haben. Wenn ich ihnen erzähle, dass die Fremden schon immer zu Rorschach gehört haben, schafft das Bezüge.“ Sie will die Einwohner:innen merken lassen: „Du bist ein Teil von Rorschach. Du gehörst dazu – auch wenn Du nicht alles verstehst.“
Für Stefan Keller, Historiker, Journalist und Autor mit Thurgauer Wurzeln, sind Otmar Elseners Geschichten vor allem wegen ihrem Interesse am konkreten Alltag spannend: „Sie zeigen, dass die Welt eigentlich aus kleinen, unscheinbaren Dingen zusammengesetzt ist.“ Dazu kommt eine gewisse Kompensation für die Banalisierung unserer Alltagswelt heute. Die Schweiz sehe vielerorts mehr oder weniger gleich aus, sei stark zugebaut: „In der Lokalgeschichte findet man noch Individuelles, Charaktervolles.“ Für Keller sind Otmar Elseners Geschichten exemplarische Lokalgeschichte, die über Rorschach hinausreicht. Man könne sie auch in Zürich oder Bern mit Gewinn lesen.
Die Zukunft der Geschichten
Aber eben: Otmar Elsener, pensionierter Stickereiverkäufer und passionierter Segler im Ruhestand, ist inzwischen 91 Jahre alt. Wie geht es weiter mit der Rorschacher Lokalgeschichte, ihrer Aufarbeitung und ihrer Präsenz? Das war an der Vernissage der Elefant im Raum. Gut steht es nicht mit ihr. Es fehlt – wie vielerorts – an Leuten, die sich dafür engagieren, es fehlt an Geld, an Publikationsmöglichkeiten, an Veranstaltungen, an Sponsoren und oft auch an Publikum. Es fehlt am Rückhalt der Behörden, und das Museum im Kornhaus führt seit Jahren nur noch einen Minimalbetrieb.
Dazu kommen wichtige historische Themen, die weitgehend brachliegen, Stadtpolitik und Stadtentwicklung etwa, Umwelt und Ökologie oder das migrantische Rorschach. Es leuchtet ein, dass diese Fragen an der Vernissage kein grosses Thema waren. Im Zentrum standen das Werk von Otmar Elsener und die vielen Geschichten, das Erinnern und Sich-Freuen, das Plaudern und Diskutieren. Mit ihrem Reichtum an Fakten und Zusammenhängen, Oral History und Archivmaterial werden diese Geschichten noch lange wichtig bleiben. Es braucht aber noch Anderes, Fachhistorisches-Analytisches etwa. So brötig diese Form von Geschichte sein kann – auch sie ist für das Verständnis der Vergangenheit wichtig, bereichert es. Mit Kontexten und Begrifflichkeiten, mit Fragen und Einsichten.
Otmar Elsener, Rorschach – Geschichten aus der Hafenstadt (2011), Rorschach – Geschichten aus der Region (2017), Rorschach – Geschichten zwischen See und Berg (2025), alle erschienen im Appenzeller Verlag.