Mit einem alles durchdringenden Blick rennt sie aufs Publikum zu. Wird fast in Zeitlupe zurückgeworfen. Eilt erneut davon, scheint zu fliehen, ohne entkommen zu können. Hinter ihr wölbt und windet sich ein riesiges weisses Tuch in einem ganz eigenen Tanz.
Sie, das ist die Tänzerin Nadika Mohn, eine der vier Tänzer:innen des neuen Stücks Samar zwischen welt des Tanztheaters Rigolo. Und ihr Blick wirkt noch nach, wenn der Rest des Zaubers längst verflogen ist.
Am 17. September feiert das Stück in der Wiler Lokremise Premiere, danach tourt es bis September 2026 durch die Deutschschweiz. Saiten war im Juli beim gut besuchten öffentlichen Showing, und obwohl damals nur einzelne, unfertige Ausschnitte zu sehen waren, konnte man schon erahnen, wohin die Reise geht.
Archaisch bis sphärisch
Im Zentrum der Inszenierung steht ein schwarzes Metallgerüst. Daran hängt schlaff ein riesiges weisses Tuch. Die reduzierte Kulisse fügt sich nahtlos in die industrielle Architektur der Wiler Lokremise ein. Alles wirkt roh und gleichzeitig sphärisch.
Zu eigens komponierter Musik von Alexandre Dai Castaing entfalten Nadika Mohn, Anna Zurkirchen, Mikhaïl Monnin und Matthis Paupert ihre Bewegungen. Choreografin Marula Eugster und ihr Team wählten die vier Tänzer:innen aus über 650 Bewerbungen aus.
Die Körper der Performenden winden sich, ringen, halten einander, lassen los. Sie verschmelzen und stossen sich ab, verlieren und finden das Gleichgewicht. Die Bewegung bleibt dabei nicht am Boden: Befestigt mit einer Art Klettergurt ziehen sich die Tanzenden gegenseitig in die Höhe, drehen sich in der Luft um die eigene Achse und sinken zurück in die Arme der anderen. In manchen Momenten wirkt es, als würden sie gemeinsam Abschied nehmen, um im nächsten Augenblick in neues Leben zu erwachen.
Und natürlich sieht alles leicht aus, doch der Schein trügt. Gerade die Arbeit in der Vertikalen sei eine Herausforderung gewesen, erzählen die Künstler:innen im öffentlichen Gespräch, weil das Seil auf jede Nuance reagiere. «Man muss sich sehr aufeinander verlassen und spürt sofort, wie es den anderen geht», sagt eine Tänzerin.
Persönliche Inspiration
Das Stück führt das Publikum, so heisst es in der Medienmitteilung, «auf sinnliche Weise in das Reich der Zwischenwelten, inspiriert durch existenzielle Übergänge wie Geburt, Tod und Transformation». Und Samar, so viel erfährt man, bedeutet im Arabischen «das Gespräch bei Einbruch der Nacht». Und bereits in den am Showing gezeigten Szenen sind diese Übergänge, oder eben diese Reisen durch die Zwischenwelten, fassbar.
Tanzen in Zwischenwelten (Bild: pd/Claudia Toggweiler)
Für Marula Eugster ist die Inszenierung auch eine persönliche Verarbeitung: Mit dem Stück setzt sie sich mit dem Tod ihres Vaters Mädir Eugster auseinander, der im Jahr 2023 verstarb. Dieses Abschiednehmen sei von Trauer und Schmerz ebenso geprägt gewesen wie von Lachen und grosser Nähe, erzählt sie im Gespräch mit Saiten. Dass sie diese intime Erfahrung durch die künstlerische Umsetzung nun öffentlich mache, sei für sie eine ganz eigene Form des Loslassens.
Zugleich betont Eugster, dass das Stück keine eindeutige Botschaft transportieren solle. Alle sollen etwas Eigenes mitnehmen, sei es eine Geschichte des Abschiedes, der Wiederkehr oder einfach nur Freude über das Gesehene.
Tanztheater Rigolo – Samar zwischen welt: 17. September bis 28. September, mittwochs bis samstags jeweils 20 Uhr, sonntags ab 18 Uhr, Lokremise Wil.
In Wil wird das Tanztheater begleitet vom Kunstfestival «Samar Experience»: 17. September bis 28. September, mittwochs bis samstags jeweils 18.30 Uhr, sonntags ab 16.30 Uhr, Lokremise Wil.
Weitere Vorstellungen des Tanztheaters bis September 2026 in Herisau, Zürich, St.Gallen, Schaffhausen, Luzern und Chur.