, 21. Oktober 2016
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Ein «Köşk» mit Migrationshintergrund

«yolda-unterwegs» zeigt im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen zehn Video-Porträts von Migrantinnen und Migranten, die in der Türkei und in der Schweiz ihre Heimat gefunden haben. Der mobile Kiosk ist länger als geplant, bis Anfang Januar dort zu sehen. Cenk Bulut berichtet.

«Als ich in den Kindergarten kam, konnte ich einzig Ja und Nein sagen», erinnert sich Mehmet Yildirimli. Doch schnell lernte der sprachbegabte Mehmet St.Gallerdeutsch und dank seiner Mutter, die darauf beharrte, dass die Kinder ihre Muttersprache nicht vergessen, beherrscht er auch ein gepflegtes Türkisch. Mit viel Disziplin und Ehrgeiz lernte Mehmet noch Spanisch, schloss seinen Bachelor in Marketingkommunikation ab und schloss noch einen Master in Ökonomie an.

Durch den Migrationshintergrund seiner Eltern wurde er für kulturelle Unterschiede sensibilisiert. Heute leitet er die Swiss Business Hub und hilft Schweizer Firmen mit seinem kulturellen Know-how, ihre Produkte in der Türkei zu vermarkten

Gaby Fierz, Ethnologin und Kuratorin des Projekts «yolda» möchte mit der Ausstellung das Augenmerk auf die transkulturellen Übersetzungsleistungen richten. Migration sei zwar in aller Munde, werde aber oft nur als Problem gesehen. Vergessen gehe dabei, dass viele gesellschaftliche und ökonomische Transformationen ohne Migration gar nicht möglich gewesen wären. Der mobile Video-Kiosk mit zehn Flatscreens und Kopfhörern bezweckt, die Migrantinnen und Migranten selbst zu Wort kommen zu lassen. Was bedeutet es für sie, zwischen den Welten unterwegs zu sein?

Wohnungssuche mit Hindernissen

Müjde Tönbekici, in Istanbul geboren, verbrachte ihre Kindheit in Birrfeld bei Windisch. Schliesslich zogen die Eltern nach mehrmaligem Hin und Her zurück in die Türkei, wo Müjde ihre Jugend verbrachte. Durch ihre Sozialisation in zwei Ländern habe sie gelernt, auch schwierige Veränderungen zu akzeptieren und sich nicht entmutigen zu lassen.

Das kam ihr bei der Wohnungssuche in der Türkei zugute, als sie als junge Frau mit ihrem Freund zusammenziehen wollte. In der Türkei habe man ihr regelmässig die Türen vor der Nase zugeschlagen, allzu modern und ungewohnt war Müjdes revolutionärer Entscheid in den 80er-Jahren. Also log sie den Vermietern einfach vor, dass sie mit zwei Studentinnen einziehen wolle. Noch heute erzählen ihre Kolleginnen aus der Studienzeit, wie Müjde ihnen imponiert habe; sie sei als emanzipierte und gebildete Frau ein Vorbild gewesen. Heute führt die studierte Ingenieurin, die einen international erfolgreichen Reiseführer verfasst hat, eine nachhaltige Hotelanlage in der Westtürkei.

Die Video-Biographien zeigenMenschen, die nicht nur einem Land, einer Kultur oder einer Heimat angehören. Sie alle haben sich Sprachen, Werte und Kompetenzen angeeignet und wurden dadurch zu interkulturellen Übersetzern zwischen der Türkei und der Schweiz. Dadurch habe sich auch ihr eigenes Selbstverständnis verändert. Die transkulturellen Aneignungs- und Übersetzungsleistungen haben zu mehr Flexibilität und Offenheit geführt.

Durch das Pendeln zwischen den Ländern hätten vor allem menschliche Beziehungen an Wert gewonnen. «Man hat nicht nur eine Heimat, sondern man hat mehrere Heimaten», erklärt etwa Atilay Ileri, der mit seiner Tochter eine Olivenölfabrik in der Türkei führt und nostalgisch von seinen Spaziergängen mit Freunden am Zugersee schwärmt.

Die Tour ist vorerst zuende

Die Ausstellung präsentiert aber nicht nur die Geschichten von elf Menschen mit mehreren Heimaten, sondern ist selbst Produkt einer kulturellen Aneignungsleistung. Das Wort «Kiosk» stammt nämlich aus dem Türkischen und wurde im Zuge der «Orientschwärmerei» übernommen. «Köşk» war ein nach mehreren Seiten offenstehender Pavillon in Parkanlagen des Osmanischen Reiches.

Der mobile Kiosk ist nun nach einer langen Ausstellungsreise von Istanbul bis nach Basel vorläufig am letzten Standort angekommen. Was ursprünglich nur für 12Tage geplant war, wird verlängert: ab kommenden Mittwoch ist der «Köşk» im Foyer des Museums zu sehen, bis 8. Januar. Zu hoffen bleibt, dass das Projekt auch danach weitergeführt wird und dass «yolda» unterwegs bleibt.

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