Plötzlich ist Charles weg. Die Familie ist beunruhigt. Im Polizeianzeiger vom 15. April 1933 wird er als vermisst ausgeschrieben. Acht Monate zuvor hat er völlig überraschend mit seinem Auto St. Gallen verlassen, angeblich mit dem Ziel Brüssel. Die besorgte ältere Schwester beauftragt ein Churer Anwaltsbüro, beim Bund nach dem Verbleib ihres Bruders nachzufragen.
Als Grund für die überstürzte Abreise nennt der Anwalt «eine feige jugendliche Verzweiflungstat, eine sog. Ehrenrettung, die aber nur eine vermeintliche ist und sich für den Betreffenden gerade bei den heutigen aussichtslosen Verhältnissen auf der ganzen Welt verhängnisvoll auswirkt». Nach Angaben der Schweizer Botschaft weilt der als Chauffeur und Vertreter arbeitende St.Galler in Antwerpen, hat aber seinen neuen Wohnort bereits wieder mit unbekanntem Ziel verlassen.
Der Vorfall ist typisch für meinen Onkel Karl, für Charles oder Charly, wie er genannt wird. Er verschwindet unerwartet, er taucht unvermutet wieder auf. So wie er gemäss der Familienerzählung im Januar 1949 aus Casablanca kommend, in weissen Schuhen, frierend am Grab seiner Mutter gestanden haben soll.
Ein Kind der Krise
Karl Hermann Lemmenmeier, geboren am 9. April 1906, ist das zweite Kind des Bäckers und späteren liberalen Gewerkschaftssekretärs Carl Lemmenmeier und der Nachstickerin Anna Maria Moser, die 1903 geheiratet haben. Weitere drei Kinder folgen. Die Familie muss mit wenig auskommen. 1922 beendet Karl die obligatorische Schulzeit. Bis dahin ist die Familie sieben Mal umgezogen. Sie muss die Schulden von einem Nagel an den anderen hängen.
Angesichts der finanziellen Verhältnisse und der Krise kommt eine Lehre für Karl nicht in Frage. Einen Arbeitsplatz zu finden, ist schwierig: Der Kanton St. Gallen zählt 1922 rund 12'000 Arbeitslose, das sind 10 Prozent der Erwerbstätigen. Karl macht, was in dieser Zeit viele arbeitslose Männer tun: Sie gehen als Vertreter von Tür zu Tür und versuchen, etwas zu verkaufen. Gemäss Eintrag in der Einwohnerkontrolle bietet er chemische Produkte an; er lebt bei den Eltern.
1925 erfolgt die Aushebung: Der nun beruflich als «Motor-Mechaniker» bezeichnete junge Mann wird der Flieger-Kompanie 6 zugeteilt. Als Flugpionier übernimmt er bei der Fliegertruppe Wartungs- und Beobachtungsaufgaben. Nach der militärischen Ausbildung meldet sich der 21-Jährige nach La Chaux-de-Fonds ab, wieder ein Jahr später weilt er in Paris, wo er im Grand Hotel Terminus St.Lazare im fünften Stock logiert.
Was Karl in der französischen Metropole arbeitet, lässt sich nicht eruieren. Von Paris zieht er weiter nach Brüssel und nach Amsterdam. Wie viele andere Ostschweizer sucht er eine neue Existenz in den Benelux-Staaten. Da dies nicht gelingt, kehrt er zu seinen Eltern zurück.
1932 folgt die bereits erwähnte «Flucht» nach Antwerpen, wo er wegen Passfälschung verurteilt wird. Im Dezember 1936 meldet sich der Vermisste wieder in St. Gallen. Er wohnt bei den Eltern, arbeitet als Autohändler und übernimmt an der Poststrasse in St. Gallen einen Verlag für Autoliteratur, der aber nach einem halben Jahr eingeht.
Karl Lemmenmeier als Flugpionier
Mit unbekannter Begleitung 1938 am Sennenball in Arosa
Ein Foto vom Herbst 1938 zeigt, wie der inzwischen 32-Jährige in ausgelassener Stimmung den Sennenball in Arosa besucht. Arosa ist seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein von Deutschen gern besuchter Kurort. Thomas Mann ist dort regelmässig in den Ferien. Wie der Autohändler, Vertreter, Verleger und Chauffeur seinen Aufenthalt im mondänen Kurort finanziert, geben die Quellen nicht preis.
Geschäfte im Dritten Reich
Am 1. September 1939 überfallen Hitlers Armeen Polen. Am 3. Oktober 1939, drei Tage vor der Kapitulation der letzten polnischen Verbände, streicht ein Beamter der Einwohnerkontrolle der Stadt St. Gallen den Eintrag von Karl Lemmenmeier in der Kartei mit dem Hinweis, er sei in Belgien, wo er aber nicht auftaucht, sondern im Deutschen Reich. Dort lebt er nach seinen Angaben seit 1940 in Berlin im Hotel Eden, einem der luxuriösesten Hotels in Europa.
Inzwischen ist er mit Else Halpaus, verwitwete von Oppeln-Bronikowski, verlobt. Else und ihre drei Jahre jüngere Schwester stammen aus deutschem Militäradel. Ihr 1913 verstorbener Vater, Carl Hermann August von Oppeln-Bronikowski, ist preussischer Generalleutnant. Elsie heiratet den Breslauer Zigarettenfabrikanten Joseph Halpaus, dessen Firma 1929 zur Eckstein-Halpaus Zigarettenfabrik fusioniert und 1930 von Reemtsma übernommen wird. Joseph Halpaus verstirbt vor Kriegsbeginn. Wo Karl Lemmenmeier die Witwe Halpaus kennengelernt hat, bleibt ein Rätsel.
In Berlin bezeichnet sich der bei der Botschaft gemeldete Auslandschweizer als Devisenhändler und Kaufmann. Zu seinen Geschäftspartnern vor Ort zählt auch der in Rorschach aufgewachsene Emil Würth. Mit ihm vereinbart er einen Auftrag für den Import von Holzbearbeitungsmaschinen. Zudem verschafft er Würth den Kontakt zu einem Dr. Waldemar Meyer. Dieser pflegt gute Beziehungen zum SS-Wirtschaftshauptamt, das unter anderem für das System der Konzentrationslager zuständig ist.
Das Ausmass und der Ablauf der Geschäfte von Charles Lemmenmeier lassen sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Es lässt sich aber vermuten, dass sie sich ähnlich gestalten wie diejenigen von Emil Würth, mit dem er in Berlin zusammenarbeitet.
Emil Würth reist 1940 zusammen mit seiner Geliebten Nelly Hug legal über Buchs nach Deutschland aus. Er ist in Zürich mit Betrugsvorwürfen und vielen Betreibungen konfrontiert. Dank der Ausreise kann er der gerichtlichen Verurteilung entgehen. Im Dritten Reich knüpft Würth Kontakt mit verschiedensten Geschäftsleuten und Verwaltungsbeamten, denen er den Verkauf von Schweizer Maschinen anbietet. Im Gegenzug soll das Dritte Reich Rohstoffe, vorwiegend Kohle, aus den besetzten Gebieten in die Schweiz liefern. Zu den Interessenten auf deutscher Seite gehören SS-Obersturmbannführer Oswald Schäfer, Leiter der Stapoleitstelle München, die Maybach Motorenbau AG in Friedrichshafen und das Amt für Technik in München. Sie bestellen Fräsund Schleifmaschinen sowie Drehbänke im Wert von rund 2,5 Millionen Franken.
Dachterrasse Hotel Eden Berlin 1931. Im Hotel Eden werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 unmittelbar vor ihrer Ermordung verhört und zusammengeschlagen. (Bild: Deutsches Bundesarchiv; Bild 102-10637; Fotograf: Georg Pahl)
Auf Schweizer Seite sind es diverse kleinere Maschinenfabriken in Zürich, Biel und Prilly, die bereit sind zu liefern. Würth und sein aus Rapperswil stammender Schweizer Gewährsmann und Geschäftspartner Ernst Amsler finanzieren ihren aufwändigen Lebensstil mit Spesenvorschüssen von mehr als 15'000 Franken. Da Würth dauernd von grossen Geschäften redet, eine Realisierung aber ausbleibt, wird es den deutschen Partnern zu bunt: Im April 1942 verhaftet die Gestapo Emil Würth wegen Betrugs und Unterschlagung. Er und seine Geliebte Nelly Hug bleiben ohne Gerichtsverhandlung bis Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern eingesperrt.
Ein solches Schicksal bleibt Onkel Charly erspart, obwohl seine Geschäfte nach ähnlichem Muster wie bei Würth funktionieren. Die Gestapo lässt ihn unbehelligt. Auch bleibt es folgenlos, als ihn Johann Irniger, ein im Juli 1942 in die Schweiz abgeschobener Kleinkrimineller, bei den Schweizer Behörden als Spion zugunsten des Dritten Reiches meldet. Als Grund gibt er an, dass Lemmenmeier in der Schweiz regelmässig im Hotel Storchen in Zürich absteige. Das Hotel Storchen gehört dem Waffenfabrikanten Emil Bührle und ist bekannt als Drehscheibe für schweizerisch-deutsche Waffengeschäfte.
Diese kleinen, teils hochstaplerischen Geschäfte von Leuten wie Amsler, Würth oder Lemmenmeier sind inspiriert von den lukrativen Geschäften der grossen Firmen. Die Schweiz ist nach 1940 Teil des Wirtschaftsraums des Dritten Reiches. Über 60 Prozent der Schweizer Exporte gehen in die faschistischen Nachbarstaaten und die von ihnen besetzten Gebiete. Von dort kommen rund die Hälfte der Importe, vorwiegend Rohstoffe.
Die Ausfuhr von Waffen, Waffenbestandteilen, Munition, Zündern und Militäroptik erreicht von 1940 bis 1944 den Wert von über 1 Milliarde Franken. Diese Exporte konzentrieren sich auf sechs Firmen, darunter die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon von Emil Bührle und die Verkaufsaktien-Gesellschaft Heinrich Wild in Heerbrugg. Da die deutsche Industrie stark politisch gelenkt ist, lassen sich Geschäfte nur über Beziehungen zu den NS-Entscheidungsträgern abwickeln. In den ersten drei Kriegsjahren gibt die Maschinenfabrik Oerlikon mehr Geld für Provisionen und Schmiergelder als für die Löhne ihrer gesamten Belegschaft von über 3000 Beschäftigten aus.
Im Visier der Schweizer Fremdenpolizie: Heirat mit Else Halpaus
Weder die Geschäfte mit Exponenten des Dritten Reiches noch ein möglicher verbotener Nachrichtendienst interessieren die Schweizer Behörden. Sehr viel aufmerksamer werden sie, als sich Charles zu Beginn des Jahres 1942 entschliesst, seine Verlobte zu heiraten, und bei der Schweizer Botschaft in Berlin um ein Ehefähigkeitszeugnis nachsucht. Das zuständige Bundesamt für Zivilstandsdienst will darauf wissen, ob es an die Brautleute Lemmenmeier eine Mahnung aussprechen soll, da es sich «mit Rücksicht auf den sehr grossen Altersunterschied» – Else Halpaus ist 27 Jahre älter als ihr Bräutigam – um eine Scheinehe zum Erwerb des Schweizerbürgerrechts handeln könnte.
Kurz vorher, am 11. November 1941, hat der Bundesrat, gestützt auf die ausserordentlichen Vollmachten, beschlossen, dass das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) «innert fünf Jahren» eine Ehe annullieren kann, wenn die Eheschliessung «offenkundig die Umgehung der Einbürgerungsvorschriften» bezweckt. Gibt sich der Mann bewusst dafür her, wird er mit dem Entzug des Aktivbürgerrechts bis zu fünf Jahren bestraft.
Um dem Verdacht einer Scheinehe auf den Grund zu gehen, weist Bern die Botschaft in Berlin an, Charles Lemmenmeier vorzuladen und «ihn über die Umstände seiner Eheschliessung zu befragen». Dazu kommt es aber nicht, weil der angehende Bräutigam kurzerhand eine Ferienreise in die Schweiz unternimmt und dabei in Bern persönlich bei Ulrich Stampa, dem Chef des Amts für Zivilstandsdienst, vorspricht. Als Folge des Gesprächs weist Stampa das Zivilstandsamt Schönholz- erswilen an, die Verkündung vorzunehmen. Am 23. März 1942 heiraten Else Halpaus und Charles Lemmenmeier.
An der Hochzeitsfeier im Hotel Eden nehmen Elses Schwester und weitere Verwandte teil, darunter eventuell auch der 20 Jahre jüngere Cousin Hermann von Oppeln-Bronikowski, Sieger im Dressurwettbewerb der Olympischen Spiele 1936. Kurz vor der Hochzeit seiner Cousine wird er als Kommandeur des Panzerregiments 35 zum Oberst befördert.
Im März 1942 heiratet das Paar Lemmenmeier-Halpaus. Am Hochzeitsessen beteiligt sich eine illustre Gesellschaft: Vorne links Charles Lemmenmeier, daneben wohl die drei Jahre jüngere Schwester Pauline Marie, hinten in der Mitte die Braut, Else Halpaus, geb. von Oppeln-Bronikowski, hinten stehend evtl. der gerade zum Oberst beförderte Cousin Hermann von Oppeln-Bronikowski und vorne rechts ein unbekannter Wehrmachtsoffizier.
Während der Feier toben die Kämpfe an der Ostfront. Seit Oktober 1941 erfolgen regelmässig Deportationen von Jüdinnen und Juden vom Bahnhof Grunewald nach Lodz und Riga. Drei Tage vor der Hochzeit nehmen in Auschwitz Birkenau die ersten Gaskammern den Betrieb auf. Die Leichen der Ermordeten werden in Massengräbern verscharrt.
Keine «Verjudung» der Schweiz
Das Brautpaar logiert weiter im Berliner Hotel Eden. In Bern ist die Polizeiabteilung des EJPD durch die eigenmächtige Zulassung der Ehe durch Dr. Stampa vom Zivilstandsdienst verärgert. Man hält es deshalb im Oktober 1942 für angebracht, der Sache weiter nachzugehen und verlangt von der Botschaft Auskunft. Diese meldet, dass das Ehepaar Berlin verlassen habe und sich nun im Hotel Regina Palast in München aufhalte. Der weitere Verbleib im Hotel Eden wird von den NS-Behörden untersagt.
Im März 1943 notiert der in St. Gallen aufgewachsene Jurist Max Ruth, erster Adjunkt der Polizeiabteilung, dass es an der Zeit sei, «die Sache wieder auszugraben und sich einmal zu erkundigen, was die Eheleute treiben». Nach Ruth soll die Ehefrau jüdischer Abstammung sein. Ruth wie auch sein Chef Heinrich Rothmund sehen es als ihre Aufgabe, die Schweiz vor der «Verjudung» zu bewahren und verfolgen eine restriktive Einreisepolitik.
Die Nachfrage beim Generalkonsulat München, die in der Absicht geschieht, ein Verfahren zur Nichtigkeitserklärung der Ehe und zum Entzug des Bürgerrechts der Ehefrau einzuleiten, bringt keine Klärung. München berichtet, das Ehepaar sei seit September 1942 im Hotel Post in Garmisch einquartiert. Der Hausrat der Ehefrau, die über ein bedeutendes Vermögen verfüge, sei in Berlin bei der Firma Knauer eingelagert. Die Botschaft in Berlin soll anhand der Geburtsurkunde nachprüfen, ob Frau Lemmenmeier «vielleicht wegen jüdischer Abstammung Anlass hatte, durch eine Scheinehe die schweizerische Staatsangehörigkeit zu erwerben, und dieserhalb heute ihre Auswanderung betreibt».
Da die Eheleute Garmisch aufgrund der deutschen Tourismusvorschriften bis Ende März 1943 verlassen müssen, erkundigt sich die Polizei des EJPD in Berlin nach dem geplanten Niederlassungsort in der Schweiz. Doch Berlin liefert keine Antwort. Entsetzt stellt Dr. Ruth anfangs Mai fest: «Das Ehepaar Lemmenmeier-Halpaus ist verschwunden.» Doch die Nachfrage bei der Oberzolldirektion bringt Klarheit: Charles Lemmenmeier ist am 15. April 1943 mit «seinem Personenautomobil, Marke Buick» über das «Zollamt St. Margrethen-Strasse in die Schweiz» eingereist. Das Paar wohnt im Hotel National in Luzern.
Die Fremdenpolizei lässt nicht locker. Sie wendet sich an den Regierungsrat des Kantons Luzern mit der Bitte, das Eheverhältnis diskret zu überprüfen. Pflichtgemäss antwortet das Luzerner Militär- und Polizeidepartement. Das befragte Hotelpersonal gibt an, das Ehepaar schlafe im gemeinsamen Zimmer. Lemmenmeier sei zu seiner Gattin «sehr liebenswürdig» und behandle sie «in jeder Beziehung zuvorkommend».
Diese Mitteilung entzieht dem Verdacht von Rothmund auf Scheinehe den Boden. Der Chef der Polizeiabteilung orientiert umgehend die anderen Bundesämter. Das Amt für Rechtswesen, dem Rothmund zuvor angeraten hat, in der Behandlung des Reichsfluchtsteuerfalls von Lemmenmeier Zurückhaltung zu üben, betont nun, die Angelegenheit «rein materiell» zu behandeln.
Gescheiterter Vermögenstransfer
Nach der Ausreise versucht der Schweizer Rückwanderer, das Vermögen seiner Frau von rund 240’000 Reichsmark, deponiert in Wertpapieren bei der Dresdner Bank Zentralstelle Berlin, in die Schweiz zu transferieren. Das deutsche Finanzamt sperrt aber den Betrag von 230’000 Reichsmark für die Bezahlung der sogenannten Reichsfluchtsteuer. Das Ehepaar Lemmenmeier ersucht darauf die Abteilung für Rechtswesen und Privatvermögensinteressen im Ausland, den Fall zu prüfen und «gegebenenfalls an deutsche Stellen zu gelangen, um einen Aufschub der Bezahlung der Reichsfluchtsteuer zu bewirken».
Das zuständige Bundesamt, das sich für den Fall von einem Steueranwalt in Berlin beraten lässt, teilt Charles Lemmenmeier Ende Juni 1943 mit, «dass sich die Sache nicht eignet für eine Weiterverfolgung». Die anschliessende lange juristische Abhandlung orientiert sich vollkommen an den Rechtssetzungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaats: Die Reichsfluchtsteuer werde erhoben, um Abwanderung guter Steuerzahler zu verhindern. Das Motiv der Auswanderung sei unerheblich, denn «in einem Urteil von 11. Mai 1933» habe der Reichsfinanzhof «als oberste deutsche Rechtsmittelinstanz in Steuersachen bereits entschieden, dass die Auswanderung wegen Verheiratung keinen Grund zur Befreiung von der Reichs- fluchtsteuer bilde».
Vergeblich versucht Charles Lemmenmeier mit neuen Argumenten die Bundesverwaltung für eine diplomatische Intervention im Deutschen Reich zu gewinnen. Erfolglos. Die Sache lohne sich auch nach nochmaliger Prüfung nicht für eine Weiterverfolgung, lautet die knappe Antwort. Die Nazis ziehen die Reichsfluchtsteuer ein und verwerten die konfiszierten Wertpapiere. Der grösste Teil des Vermögens von Else Halpaus geht verloren. Obligationen im Wert von 50’000 Franken, ausgegeben von Betrieben in Ostdeutschland, meldet der Ehemann 1946 bei der Verrechnungsstelle in Zürich. Als Folge der Westverschiebung Polens werden diese Betriebe verstaatlicht. Eine Entschädigung erfolgt nicht.
Nachkriegszeit: Künstlerischer Leiter bei Lucienne Boyer
Das nun weitgehend mittellose Paar zieht 1944 von Luzern in eine eigene Wohnung nach Lausanne. Der in einem Depot in München eingelagerte Hausrat, darunter viele wertvolle Bücher, wird in die Westschweiz gebracht. Bei der Anmeldung in Lausanne gibt Charles Lemmenmeier als Beruf Kaufmann an. Wie er in dieser Zeit sein Geld verdient, bleibt unklar.
Klar ist hingegen, dass im August 1949 eine «illegitime Tochter» von Charles geboren wird. Das Zivilgericht Lausanne verurteilt ihn 1951 zu Alimentenzahlungen. Dieser Verpflichtung kommt er in den folgenden Jahren unregelmässig nach, denn von nun an ist er dauernd unterwegs.
Im März 1950 meldet sich Charles Lemmenmeier bei der Lausanner Einwohnerkontrolle ab nach Paris. Gleichentags zieht er angeblich an eine neue Adresse in Lausanne. In die neue Wohnung zieht wohl seine Ehefrau, während Charly im November gleichen Jahres in der Schweizer Botschaft in Athen auftaucht. Von Nordafrika kommend, beantragt er ein Visum für Ägypten, denn er will als künstlerischer Leiter der bekannten Sängerin Lucienne Boyer Konzerte in Alexandria und Kairo organisieren. Dabei macht ihn die Botschaft darauf aufmerksam, dass er im Schweizerischen Polizeianzeiger wegen Unterschlagung und Vertrauensbruch ausgeschrieben sei. Charles zeigt sich überrascht, gibt an, nichts Unrechtes getan zu haben, und verspricht, nach seiner Ägyptenreise in die Schweiz zurückzukehren.
In Ägypten meldet er sich nicht. Dagegen erhält er anfangs Dezember 1950 vom brasilianischen Generalkonsulat in Paris ein Visum als «impressario». Einen Monat später fliegt er von São Paulo zusammen mit Lucienne Boyer und dem Komponisten und Arrangeur Noel Regney nach New York, wo die Sängerin im berühmten chinesischen Restaurant und Nachtklub Dan Foo auftritt. Fortan arbeitet er für Lucienne Boyer, die mit ihrem Lied Parler moi d’amour von 1930 Weltberühmtheit erlangt hat. Wie Charly zu dieser Aufgabe kommt, ist ungewiss. Lucienne Boyer, die sich 1950 von ihrem Mann, dem Sänger Jacques Pills, scheiden lässt, bezeichnet ihn in ihren Briefen als Freund.
Lucienne Boyer an einem Auftritt am 30. November 1945 im Amsterdamer City Theater (Bild: Niederländisches Nationalarchiv)
Der künstlerische Leiter wohnt fortan in Paris und begleitet Lucienne Boyer auf ihren Tourneen. In der Schweiz taucht er nicht mehr auf. Seine Ehefrau lebt in äusserst bescheidenen Verhältnissen in Lausanne. 1957 stirbt sie im Alter von 78 Jahren in Prilly VD. An ihrer Aussage «Was Charly tut, ist wohlgetan!» hält sie gemäss Familiensaga trotz aller Beschwernisse fest.
Charles Lemmenmeier erkrankt unheilbar an Krebs. Im Januar 1958 stirbt er 51-jährig in der Klinik Hartmann in Neuilly nahe Paris. Lucienne Boyer kommt für die Krankheits- und Beerdigungskosten von 400’000 Francs auf. Sie will diese Auslagen gegenüber den Erben geltend machen, wobei sie auf gesperrte Vermögenswerte von Charles Lemmenmeier in Ostdeutschland im Umfang von 35'000 bis 40’000 Franken hinweist. Da die Geschwister als gesetzliche Erben das Erbe ausschlagen und das zuständige Bezirksgericht Münchwilen die Vermögenswerte in Ostdeutschland für zweifelhaft hält, wird die Angelegenheit nicht weiterbearbeitet.
***
Anmerkungen des Autors: Ich habe meinen Onkel nicht gekannt. Er starb, als ich sieben Jahre alt war. Das Urteil meiner Familie schwankte zwischen Bewunderung und Missbehagen. Was bleibt? Erschrecken über die Normalität der Kooperation mit dem faschistischen Staat? Bestürzung über den alltäglichen und selbstverständlichen Antisemitismus? Erstaunen über den rücksichtslosen männlichen Opportunismus? Und heute?