Geschäftemacher und Lebemann – Ein St.Galler im Dritten Reich

Krise und Faschismus bestimmen wesentlich den Lebensweg von Karl Hermann Lemmenmeier (1906–1958). Sein Neffe zeichnet in dieser familien- und sozialhistorischen Spurensuche nach, wie Glücksrittertum, Opportunismus und Naivität kleiner Leute mithelfen können, ein Unrechtsregime zu stabilisieren.

Charles Lemmenmeier 1929 im Pariser Grand Hotel Terminus am Bahnhof Saint Lazare (Bilder: Privatarchiv Fam. Lemmenmeier)

Plötz­lich ist Charles weg. Die Fa­mi­lie ist be­un­ru­higt. Im Po­li­zei­an­zei­ger vom 15. April 1933 wird er als ver­misst aus­ge­schrie­ben. Acht Mo­na­te zu­vor hat er völlig über­ra­schend mit sei­nem Au­to St. Gal­len ver­las­sen, an­geb­lich mit dem Ziel Brüssel. Die be­sorg­te älte­re Schwes­ter be­auf­tragt ein Chu­rer An­walts­büro, beim Bund nach dem Ver­bleib ih­res Bru­ders nach­zu­fra­gen.

Als Grund für die über­stürz­te Ab­rei­se nennt der An­walt «ei­ne fei­ge ju­gend­li­che Ver­zweif­lungs­tat, ei­ne sog. Eh­ren­ret­tung, die aber nur ei­ne ver­meint­li­che ist und sich für den Be­tref­fen­den ge­ra­de bei den heu­ti­gen aus­sichts­lo­sen Verhält­nis­sen auf der gan­zen Welt verhäng­nis­voll aus­wirkt». Nach An­ga­ben der Schwei­zer Bot­schaft weilt der als Chauf­feur und Ver­tre­ter ar­bei­ten­de St.Gal­ler in Ant­wer­pen, hat aber sei­nen neu­en Wohn­ort be­reits wie­der mit un­be­kann­tem Ziel ver­las­sen.

Der Vor­fall ist ty­pisch für mei­nen On­kel Karl, für Charles oder Char­ly, wie er ge­nannt wird. Er ver­schwin­det un­er­war­tet, er taucht un­ver­mu­tet wie­der auf. So wie er gemäss der Fa­mi­li­en­er­zählung im Ja­nu­ar 1949 aus Ca­sa­blan­ca kom­mend, in weis­sen Schu­hen, frie­rend am Grab sei­ner Mut­ter ge­stan­den ha­ben soll.

Ein Kind der Kri­se

Karl Her­mann Lem­men­mei­er, ge­bo­ren am 9. April 1906, ist das zwei­te Kind des Bäckers und späte­ren li­be­ra­len Ge­werk­schafts­se­kre­tärs Carl Lem­men­mei­er und der Nach­sti­cke­rin An­na Ma­ria Mo­ser, die 1903 ge­hei­ra­tet ha­ben. Wei­te­re drei Kin­der fol­gen. Die Fa­mi­lie muss mit we­nig aus­kom­men. 1922 be­en­det Karl die ob­li­ga­to­ri­sche Schul­zeit. Bis da­hin ist die Fa­mi­lie sie­ben Mal um­ge­zo­gen. Sie muss die Schul­den von ei­nem Na­gel an den an­de­ren hängen.

An­ge­sichts der fi­nan­zi­el­len Verhält­nis­se und der Kri­se kommt ei­ne Leh­re für Karl nicht in Fra­ge. Ei­nen Ar­beits­platz zu fin­den, ist schwie­rig: Der Kan­ton St. Gal­len zählt 1922 rund 12'000 Ar­beits­lo­se, das sind 10 Pro­zent der Er­werbs­täti­gen. Karl macht, was in die­ser Zeit vie­le ar­beits­lo­se Männer tun: Sie ge­hen als Ver­tre­ter von Tür zu Tür und ver­su­chen, et­was zu ver­kau­fen. Gemäss Ein­trag in der Ein­woh­ner­kon­trol­le bie­tet er che­mi­sche Pro­duk­te an; er lebt bei den El­tern.

1925 er­folgt die Aus­he­bung: Der nun be­ruf­lich als «Mo­tor-Me­cha­ni­ker» be­zeich­ne­te jun­ge Mann wird der Flie­ger-Kom­pa­nie 6 zu­ge­teilt. Als Flug­pio­nier über­nimmt er bei der Flie­ger­trup­pe War­tungs- und Be­ob­ach­tungs­auf­ga­ben. Nach der mi­li­täri­schen Aus­bil­dung mel­det sich der 21-Jähri­ge nach La Chaux-de-Fonds ab, wie­der ein Jahr später weilt er in Pa­ris, wo er im Grand Ho­tel Ter­mi­nus St.La­za­re im fünf­ten Stock lo­giert.

Was Karl in der fran­zösi­schen Me­tro­po­le ar­bei­tet, lässt sich nicht eru­ie­ren. Von Pa­ris zieht er wei­ter nach Brüssel und nach Ams­ter­dam. Wie vie­le an­de­re Ost­schwei­zer sucht er ei­ne neue Exis­tenz in den Be­ne­lux-Staa­ten. Da dies nicht ge­lingt, kehrt er zu sei­nen El­tern zu­rück.

1932 folgt die be­reits er­wähn­te «Flucht» nach Ant­wer­pen, wo er we­gen Pass­fälschung ver­ur­teilt wird. Im De­zem­ber 1936 mel­det sich der Ver­miss­te wie­der in St. Gal­len. Er wohnt bei den El­tern, ar­bei­tet als Au­to­händ­ler und über­nimmt an der Post­stras­se in St. Gal­len ei­nen Ver­lag für Au­to­li­te­ra­tur, der aber nach ei­nem hal­ben Jahr ein­geht.

Karl Lemmenmeier als Flugpionier

Mit unbekannter Begleitung 1938 am Sennenball in Arosa

Ein Fo­to vom Herbst 1938 zeigt, wie der in­zwi­schen 32-Jähri­ge in aus­ge­las­se­ner Stim­mung den Sen­nen­ball in Aro­sa be­sucht. Aro­sa ist seit dem letz­ten Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts ein von Deut­schen gern be­such­ter Kur­ort. Tho­mas Mann ist dort re­gel­mässig in den Fe­ri­en. Wie der Au­to­händ­ler, Ver­tre­ter, Ver­le­ger und Chauf­feur sei­nen Auf­ent­halt im mon­dänen Kur­ort fi­nan­ziert, ge­ben die Quel­len nicht preis.

Ge­schäf­te im Drit­ten Reich

Am 1. Sep­tem­ber 1939 über­fal­len Hit­lers Ar­meen Po­len. Am 3. Ok­to­ber 1939, drei Ta­ge vor der Ka­pi­tu­la­ti­on der letz­ten pol­ni­schen Ver­bände, streicht ein Be­am­ter der Ein­woh­ner­kon­trol­le der Stadt St. Gal­len den Ein­trag von Karl Lem­men­mei­er in der Kar­tei mit dem Hin­weis, er sei in Bel­gi­en, wo er aber nicht auf­taucht, son­dern im Deut­schen Reich. Dort lebt er nach sei­nen An­ga­ben seit 1940 in Ber­lin im Ho­tel Eden, ei­nem der lu­xu­riöses­ten Ho­tels in Eu­ro­pa.

In­zwi­schen ist er mit El­se Hal­paus, ver­wit­we­te von Op­peln-Bro­ni­kow­ski, ver­lobt. El­se und ih­re drei Jah­re jünge­re Schwes­ter stam­men aus deut­schem Mi­li­täradel. Ihr 1913 ver­stor­be­ner Va­ter, Carl Her­mann Au­gust von Op­peln-Bro­ni­kow­ski, ist preus­si­scher Ge­ne­ral­leut­nant. El­sie hei­ra­tet den Bres­lau­er Zi­ga­ret­ten­fa­bri­kan­ten Jo­seph Hal­paus, des­sen Fir­ma 1929 zur Eck­stein-Hal­paus Zi­ga­ret­ten­fa­brik fu­sio­niert und 1930 von Reemts­ma über­nom­men wird. Jo­seph Hal­paus ver­stirbt vor Kriegs­be­ginn. Wo Karl Lem­men­mei­er die Wit­we Hal­paus ken­nen­ge­lernt hat, bleibt ein Rätsel.

In Ber­lin be­zeich­net sich der bei der Bot­schaft ge­mel­de­te Aus­land­schwei­zer als De­vi­sen­händ­ler und Kauf­mann. Zu sei­nen Ge­schäfts­part­nern vor Ort zählt auch der in Ror­schach auf­ge­wach­se­ne Emil Würth. Mit ihm ver­ein­bart er ei­nen Auf­trag für den Im­port von Holz­be­ar­bei­tungs­ma­schi­nen. Zu­dem ver­schafft er Würth den Kon­takt zu ei­nem Dr. Wal­de­mar Mey­er. Die­ser pflegt gu­te Be­zie­hun­gen zum SS-Wirt­schafts­haupt­amt, das un­ter an­de­rem für das Sys­tem der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger zus­tändig ist.

Das Aus­mass und der Ab­lauf der Ge­schäfte von Charles Lem­men­mei­er las­sen sich nur bruch­s­tück­haft re­kon­stru­ie­ren. Es lässt sich aber ver­mu­ten, dass sie sich ähn­lich ge­stal­ten wie die­je­ni­gen von Emil Würth, mit dem er in Ber­lin zu­sam­men­ar­bei­tet.

Emil Würth reist 1940 zu­sam­men mit sei­ner Ge­lieb­ten Nel­ly Hug le­gal über Buchs nach Deutsch­land aus. Er ist in Zürich mit Be­trugs­vor­würfen und vie­len Be­trei­bun­gen kon­fron­tiert. Dank der Aus­rei­se kann er der ge­richt­li­chen Ver­ur­tei­lung ent­ge­hen. Im Drit­ten Reich knüpft Würth Kon­takt mit ver­schie­dens­ten Ge­schäfts­leu­ten und Ver­wal­tungs­be­am­ten, de­nen er den Ver­kauf von Schwei­zer Ma­schi­nen an­bie­tet. Im Ge­gen­zug soll das Drit­te Reich Roh­stof­fe, vor­wie­gend Koh­le, aus den be­setz­ten Ge­bie­ten in die Schweiz lie­fern. Zu den In­ter­es­sen­ten auf deut­scher Sei­te ge­hören SS-Ober­sturm­bann­führer Os­wald Schäfer, Lei­ter der Sta­po­leit­stel­le München, die May­bach Mo­to­ren­bau AG in Fried­richs­ha­fen und das Amt für Tech­nik in München. Sie be­stel­len Fräsund Schleif­ma­schi­nen so­wie Dreh­bänke im Wert von rund 2,5 Mil­lio­nen Fran­ken.

Dachterrasse Hotel Eden Berlin 1931. Im Hotel Eden werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 unmittelbar vor ihrer Ermordung verhört und zusammengeschlagen. (Bild: Deutsches Bundesarchiv; Bild 102-10637; Fotograf: Georg Pahl)

Auf Schwei­zer Sei­te sind es di­ver­se klei­ne­re Ma­schi­nen­fa­bri­ken in Zürich, Biel und Pril­ly, die be­reit sind zu lie­fern. Würth und sein aus Rap­pers­wil stam­men­der Schwei­zer Ge­währs­mann und Ge­schäfts­part­ner Ernst Ams­ler fi­nan­zie­ren ih­ren auf­wändi­gen Le­bens­stil mit Spe­sen­vor­schüssen von mehr als 15'000 Fran­ken. Da Würth dau­ernd von gros­sen Ge­schäften re­det, ei­ne Rea­li­sie­rung aber aus­bleibt, wird es den deut­schen Part­nern zu bunt: Im April 1942 ver­haf­tet die Ge­sta­po Emil Würth we­gen Be­trugs und Un­ter­schla­gung. Er und sei­ne Ge­lieb­te Nel­ly Hug blei­ben oh­ne Ge­richts­ver­hand­lung bis Kriegs­en­de in ver­schie­de­nen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern ein­ge­sperrt.

Ein sol­ches Schick­sal bleibt On­kel Char­ly er­spart, ob­wohl sei­ne Ge­schäfte nach ähn­li­chem Mus­ter wie bei Würth funk­tio­nie­ren. Die Ge­sta­po lässt ihn un­be­hel­ligt. Auch bleibt es fol­gen­los, als ihn Jo­hann Ir­ni­ger, ein im Ju­li 1942 in die Schweiz ab­ge­scho­be­ner Klein­kri­mi­nel­ler, bei den Schwei­zer Be­hörden als Spi­on zu­guns­ten des Drit­ten Rei­ches mel­det. Als Grund gibt er an, dass Lem­men­mei­er in der Schweiz re­gel­mässig im Ho­tel Stor­chen in Zürich ab­stei­ge. Das Ho­tel Stor­chen ge­hört dem Waf­fen­fa­bri­kan­ten Emil Bühr­le und ist be­kannt als Dreh­schei­be für schwei­ze­risch-deut­sche Waf­fen­ge­schäfte.

Die­se klei­nen, teils hoch­stap­le­ri­schen Ge­schäfte von Leu­ten wie Ams­ler, Würth oder Lem­men­mei­er sind in­spi­riert von den lu­kra­ti­ven Ge­schäften der gros­sen Fir­men. Die Schweiz ist nach 1940 Teil des Wirt­schafts­raums des Drit­ten Rei­ches. Über 60 Pro­zent der Schwei­zer Ex­por­te ge­hen in die fa­schis­ti­schen Nach­bar­staa­ten und die von ih­nen be­setz­ten Ge­bie­te. Von dort kom­men rund die Hälf­te der Im­por­te, vor­wie­gend Roh­stof­fe.

Die Aus­fuhr von Waf­fen, Waf­fen­be­stand­tei­len, Mu­ni­ti­on, Zündern und Mi­li­tärop­tik er­reicht von 1940 bis 1944 den Wert von über 1 Mil­li­ar­de Fran­ken. Die­se Ex­por­te kon­zen­trie­ren sich auf sechs Fir­men, dar­un­ter die Werk­zeug­ma­schi­nen­fa­brik Oer­li­kon von Emil Bühr­le und die Ver­kaufs­ak­ti­en-Ge­sell­schaft Hein­rich Wild in Heer­brugg. Da die deut­sche In­dus­trie stark po­li­tisch ge­lenkt ist, las­sen sich Ge­schäfte nur über Be­zie­hun­gen zu den NS-Ent­schei­dungs­trägern ab­wi­ckeln. In den ers­ten drei Kriegs­jah­ren gibt die Ma­schi­nen­fa­brik Oer­li­kon mehr Geld für Pro­vi­sio­nen und Schmier­gel­der als für die Löhne ih­rer ge­sam­ten Be­leg­schaft von über 3000 Be­schäftig­ten aus.

Im Vi­sier der Schwei­zer Frem­den­po­li­zie: Hei­rat mit El­se Hal­paus

We­der die Ge­schäfte mit Ex­po­nen­ten des Drit­ten Rei­ches noch ein mögli­cher ver­bo­te­ner Nach­rich­ten­dienst in­ter­es­sie­ren die Schwei­zer Be­hörden. Sehr viel auf­merk­sa­mer wer­den sie, als sich Charles zu Be­ginn des Jah­res 1942 ent­schliesst, sei­ne Ver­lob­te zu hei­ra­ten, und bei der Schwei­zer Bot­schaft in Ber­lin um ein Ehe­fähig­keits­zeug­nis nach­sucht. Das zus­tändi­ge Bun­des­amt für Zi­vil­stands­dienst will dar­auf wis­sen, ob es an die Braut­leu­te Lem­men­mei­er ei­ne Mah­nung aus­spre­chen soll, da es sich «mit Rück­sicht auf den sehr gros­sen Al­ters­un­ter­schied» – El­se Hal­paus ist 27 Jah­re älter als ihr Bräuti­gam – um ei­ne Schein­ehe zum Er­werb des Schwei­zer­bürger­rechts han­deln könn­te.

Kurz vor­her, am 11. No­vem­ber 1941, hat der Bun­des­rat, ge­stützt auf die aus­ser­or­dent­li­chen Voll­mach­ten, be­schlos­sen, dass das Jus­tiz- und Po­li­zei­de­par­te­ment (EJPD) «in­nert fünf Jah­ren» ei­ne Ehe an­nul­lie­ren kann, wenn die Ehe­schlies­sung «of­fen­kun­dig die Um­ge­hung der Ein­bürge­rungs­vor­schrif­ten» be­zweckt. Gibt sich der Mann be­wusst da­für her, wird er mit dem Ent­zug des Ak­tiv­bürger­rechts bis zu fünf Jah­ren be­straft.

Um dem Ver­dacht ei­ner Schein­ehe auf den Grund zu ge­hen, weist Bern die Bot­schaft in Ber­lin an, Charles Lem­men­mei­er vor­zu­la­den und «ihn über die Ums­tände sei­ner Ehe­schlies­sung zu be­fra­gen». Da­zu kommt es aber nicht, weil der an­ge­hen­de Bräuti­gam kur­zer­hand ei­ne Fe­ri­en­rei­se in die Schweiz un­ter­nimmt und da­bei in Bern per­sönlich bei Ul­rich Stam­pa, dem Chef des Amts für Zi­vil­stands­dienst, vor­spricht. Als Fol­ge des Ge­sprächs weist Stam­pa das Zi­vil­stands­amt Schönholz- erswi­len an, die Ver­kündung vor­zu­neh­men. Am 23. März 1942 hei­ra­ten El­se Hal­paus und Charles Lem­men­mei­er.

An der Hoch­zeits­fei­er im Ho­tel Eden neh­men El­ses Schwes­ter und wei­te­re Ver­wand­te teil, dar­un­ter even­tu­ell auch der 20 Jah­re jünge­re Cou­sin Her­mann von Op­peln-Bro­ni­kow­ski, Sie­ger im Dres­sur­wett­be­werb der Olym­pi­schen Spie­le 1936. Kurz vor der Hoch­zeit sei­ner Cou­si­ne wird er als Kom­man­deur des Pan­zer­re­gi­ments 35 zum Oberst be­fördert.

Im März 1942 heiratet das Paar Lemmenmeier-Halpaus. Am Hochzeitsessen beteiligt sich eine illustre Gesellschaft: Vorne links Charles Lemmenmeier, daneben wohl die drei Jahre jüngere Schwester Pauline Marie, hinten in der Mitte die Braut, Else Halpaus, geb. von Oppeln-Bronikowski, hinten stehend evtl. der gerade zum Oberst beförderte Cousin Hermann von Oppeln-Bronikowski und vorne rechts ein unbekannter Wehrmachtsoffizier.

Während der Fei­er to­ben die Kämp­fe an der Ost­front. Seit Ok­to­ber 1941 er­fol­gen re­gel­mässig De­por­ta­tio­nen von Jüdin­nen und Ju­den vom Bahn­hof Gru­ne­wald nach Lodz und Ri­ga. Drei Ta­ge vor der Hoch­zeit neh­men in Ausch­witz Bir­ken­au die ers­ten Gas­kam­mern den Be­trieb auf. Die Lei­chen der Er­mor­de­ten wer­den in Mas­sen­gräbern ver­scharrt.

Kei­ne «Ver­ju­dung» der Schweiz

Das Braut­paar lo­giert wei­ter im Ber­li­ner Ho­tel Eden. In Bern ist die Po­li­zei­ab­tei­lung des EJPD durch die ei­gen­mäch­ti­ge Zu­las­sung der Ehe durch Dr. Stam­pa vom Zi­vil­stands­dienst ve­rärgert. Man hält es des­halb im Ok­to­ber 1942 für an­ge­bracht, der Sa­che wei­ter nach­zu­ge­hen und ver­langt von der Bot­schaft Aus­kunft. Die­se mel­det, dass das Ehe­paar Ber­lin ver­las­sen ha­be und sich nun im Ho­tel Re­gi­na Pa­last in München auf­hal­te. Der wei­te­re Ver­bleib im Ho­tel Eden wird von den NS-Be­hörden un­ter­sagt.

Im März 1943 no­tiert der in St. Gal­len auf­ge­wach­se­ne Ju­rist Max Ruth, ers­ter Ad­junkt der Po­li­zei­ab­tei­lung, dass es an der Zeit sei, «die Sa­che wie­der aus­zu­gra­ben und sich ein­mal zu er­kun­di­gen, was die Ehe­leu­te trei­ben». Nach Ruth soll die Ehe­frau jüdi­scher Ab­stam­mung sein. Ruth wie auch sein Chef Hein­rich Roth­mund se­hen es als ih­re Auf­ga­be, die Schweiz vor der «Ver­ju­dung» zu be­wah­ren und ver­fol­gen ei­ne re­strik­ti­ve Ein­rei­se­po­li­tik.

Die Nach­fra­ge beim Ge­ne­ral­kon­su­lat München, die in der Ab­sicht ge­schieht, ein Ver­fah­ren zur Nich­tig­keits­erklärung der Ehe und zum Ent­zug des Bürger­rechts der Ehe­frau ein­zu­lei­ten, bringt kei­ne Klärung. München be­rich­tet, das Ehe­paar sei seit Sep­tem­ber 1942 im Ho­tel Post in Gar­misch ein­quar­tiert. Der Haus­rat der Ehe­frau, die über ein be­deu­ten­des Ver­mögen ver­füge, sei in Ber­lin bei der Fir­ma Knau­er ein­ge­la­gert. Die Bot­schaft in Ber­lin soll an­hand der Ge­burts­ur­kun­de nach­prüfen, ob Frau Lem­men­mei­er «viel­leicht we­gen jüdi­scher Ab­stam­mung An­lass hat­te, durch ei­ne Schein­ehe die schwei­ze­ri­sche Staats­an­ge­hörig­keit zu er­wer­ben, und die­ser­halb heu­te ih­re Aus­wan­de­rung be­treibt».

Da die Ehe­leu­te Gar­misch auf­grund der deut­schen Tou­ris­mus­vor­schrif­ten bis En­de März 1943 ver­las­sen müssen, er­kun­digt sich die Po­li­zei des EJPD in Ber­lin nach dem ge­plan­ten Nie­der­las­sungs­ort in der Schweiz. Doch Ber­lin lie­fert kei­ne Ant­wort. Ent­setzt stellt Dr. Ruth an­fangs Mai fest: «Das Ehe­paar Lem­men­mei­er-Hal­paus ist ver­schwun­den.» Doch die Nach­fra­ge bei der Ober­zoll­di­rek­ti­on bringt Klar­heit: Charles Lem­men­mei­er ist am 15. April 1943 mit «sei­nem Per­so­nen­au­to­mo­bil, Mar­ke Buick» über das «Zoll­amt St. Mar­grethen-Stras­se in die Schweiz» ein­ge­reist. Das Paar wohnt im Ho­tel Na­tio­nal in Lu­zern.

Die Frem­den­po­li­zei lässt nicht lo­cker. Sie wen­det sich an den Re­gie­rungs­rat des Kan­tons Lu­zern mit der Bit­te, das Ehe­verhält­nis dis­kret zu über­prüfen. Pflicht­gemäss ant­wor­tet das Lu­zer­ner Mi­li­tär- und Po­li­zei­de­par­te­ment. Das be­frag­te Ho­tel­per­so­nal gibt an, das Ehe­paar schla­fe im ge­mein­sa­men Zim­mer. Lem­men­mei­er sei zu sei­ner Gat­tin «sehr lie­bens­würdig» und be­hand­le sie «in je­der Be­zie­hung zu­vor­kom­mend».

Die­se Mit­tei­lung ent­zieht dem Ver­dacht von Roth­mund auf Schein­ehe den Bo­den. Der Chef der Po­li­zei­ab­tei­lung ori­en­tiert um­ge­hend die an­de­ren Bun­desämter. Das Amt für Rechts­we­sen, dem Roth­mund zu­vor an­ge­ra­ten hat, in der Be­hand­lung des Reichs­flucht­steu­er­falls von Lem­men­mei­er Zu­rück­hal­tung zu üben, be­tont nun, die An­ge­le­gen­heit «rein ma­te­ri­ell» zu be­han­deln.

Ge­schei­ter­ter Ver­mögen­s­trans­fer

Nach der Aus­rei­se ver­sucht der Schwei­zer Rück­wan­de­rer, das Ver­mögen sei­ner Frau von rund 240’000 Reichs­mark, de­po­niert in Wert­pa­pie­ren bei der Dresd­ner Bank Zen­tral­stel­le Ber­lin, in die Schweiz zu trans­fe­rie­ren. Das deut­sche Fi­nanz­amt sperrt aber den Be­trag von 230’000 Reichs­mark für die Be­zah­lung der so­ge­nann­ten Reichs­flucht­steu­er. Das Ehe­paar Lem­men­mei­er er­sucht dar­auf die Ab­tei­lung für Rechts­we­sen und Pri­vat­ver­mögens­in­ter­es­sen im Aus­land, den Fall zu prüfen und «ge­ge­be­nen­falls an deut­sche Stel­len zu ge­lan­gen, um ei­nen Auf­schub der Be­zah­lung der Reichs­flucht­steu­er zu be­wir­ken».

Die Ostschweiz im Dritten Reich

Na­türlich war die Ost­schweiz nie Teil des Drit­ten Reichs. Doch gab es auch hier di­ver­se Kräfte – Per­so­nen und In­sti­tu­tio­nen –, die nicht der Lo­sung der so­ge­nann­ten «geis­ti­gen Lan­des­ver­tei­di­gung» folg­ten, son­dern sich für den An­schluss oder zu­min­dest ei­ne An­näherung an den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und den Fa­schis­mus ein­setz­ten. Die­se von Ri­chard Butz in­iti­ier­te Ar­ti­kel­se­rie will auf­zei­gen, wie viel­fältig die Ver­flech­tun­gen und Ver­net­zun­gen zwi­schen der Ost­schweiz und Hit­lers Re­gime wa­ren. Aber auch die Ge­gen­sei­te, der Ost­schwei­zer An­ti­fa­schis­mus in den 1930/40er-Jah­ren, soll be­leuch­tet wer­den. 80 Jah­re ist es her, seit das Drit­te Reich be­siegt wor­den ist. An­ge­sichts des glo­bal er­star­ken­den Rechts­po­pu­lis­mus ist es wich­tig, sich auch aus ei­ner re­gio­nal­his­to­ri­schen Per­spek­ti­ve an die­se dunk­le Zeit zu er­in­nern. (red.)

Das zus­tändi­ge Bun­des­amt, das sich für den Fall von ei­nem Steu­er­an­walt in Ber­lin be­ra­ten lässt, teilt Charles Lem­men­mei­er En­de Ju­ni 1943 mit, «dass sich die Sa­che nicht eig­net für ei­ne Wei­ter­ver­fol­gung». Die an­schlies­sen­de lan­ge ju­ris­ti­sche Ab­hand­lung ori­en­tiert sich voll­kom­men an den Rechts­set­zun­gen des na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Un­rechts­staats: Die Reichs­flucht­steu­er wer­de er­ho­ben, um Ab­wan­de­rung gu­ter Steu­er­zah­ler zu ver­hin­dern. Das Mo­tiv der Aus­wan­de­rung sei un­er­heb­lich, denn «in ei­nem Ur­teil von 11. Mai 1933» ha­be der Reichs­fi­nanz­hof «als obers­te deut­sche Rechts­mit­tel­in­stanz in Steu­er­sa­chen be­reits ent­schie­den, dass die Aus­wan­de­rung we­gen Ver­hei­ra­tung kei­nen Grund zur Be­frei­ung von der Reichs- flucht­steu­er bil­de».

Ver­geb­lich ver­sucht Charles Lem­men­mei­er mit neu­en Ar­gu­men­ten die Bun­des­ver­wal­tung für ei­ne di­plo­ma­ti­sche In­ter­ven­ti­on im Deut­schen Reich zu ge­win­nen. Er­folg­los. Die Sa­che loh­ne sich auch nach noch­ma­li­ger Prüfung nicht für ei­ne Wei­ter­ver­fol­gung, lau­tet die knap­pe Ant­wort. Die Na­zis zie­hen die Reichs­flucht­steu­er ein und ver­wer­ten die kon­fis­zier­ten Wert­pa­pie­re. Der gröss­te Teil des Ver­mögens von El­se Hal­paus geht ver­lo­ren. Ob­li­ga­tio­nen im Wert von 50’000 Fran­ken, aus­ge­ge­ben von Be­trie­ben in Ost­deutsch­land, mel­det der Ehe­mann 1946 bei der Ver­rech­nungs­stel­le in Zürich. Als Fol­ge der West­ver­schie­bung Po­lens wer­den die­se Be­trie­be ver­staat­licht. Ei­ne Ent­schädi­gung er­folgt nicht.

Nach­kriegs­zeit: Künst­le­ri­scher Lei­ter bei Lu­ci­en­ne Boy­er

Das nun weit­ge­hend mit­tel­lo­se Paar zieht 1944 von Lu­zern in ei­ne ei­ge­ne Woh­nung nach Lau­sanne. Der in ei­nem De­pot in München ein­ge­la­ger­te Haus­rat, dar­un­ter vie­le wert­vol­le Bücher, wird in die West­schweiz ge­bracht. Bei der An­mel­dung in Lau­sanne gibt Charles Lem­men­mei­er als Be­ruf Kauf­mann an. Wie er in die­ser Zeit sein Geld ver­dient, bleibt un­klar.

Klar ist hin­ge­gen, dass im Au­gust 1949 ei­ne «il­le­gi­ti­me Toch­ter» von Charles ge­bo­ren wird. Das Zi­vil­ge­richt Lau­sanne ver­ur­teilt ihn 1951 zu Ali­men­ten­zah­lun­gen. Die­ser Ver­pflich­tung kommt er in den fol­gen­den Jah­ren un­re­gel­mässig nach, denn von nun an ist er dau­ernd un­ter­wegs.

Im März 1950 mel­det sich Charles Lem­men­mei­er bei der Lau­san­ner Ein­woh­ner­kon­trol­le ab nach Pa­ris. Glei­chen­tags zieht er an­geb­lich an ei­ne neue Adres­se in Lau­sanne. In die neue Woh­nung zieht wohl sei­ne Ehe­frau, während Char­ly im No­vem­ber glei­chen Jah­res in der Schwei­zer Bot­schaft in Athen auf­taucht. Von Nord­afri­ka kom­mend, be­an­tragt er ein Vi­sum für Ägyp­ten, denn er will als künst­le­ri­scher Lei­ter der be­kann­ten Sänge­rin Lu­ci­en­ne Boy­er Kon­zer­te in Alex­an­dria und Kai­ro or­ga­ni­sie­ren. Da­bei macht ihn die Bot­schaft dar­auf auf­merk­sam, dass er im Schwei­ze­ri­schen Po­li­zei­an­zei­ger we­gen Un­ter­schla­gung und Ver­trau­ens­bruch aus­ge­schrie­ben sei. Charles zeigt sich über­rascht, gibt an, nichts Un­rech­tes ge­tan zu ha­ben, und ver­spricht, nach sei­ner Ägyp­ten­rei­se in die Schweiz zu­rück­zu­keh­ren.

In Ägyp­ten mel­det er sich nicht. Da­ge­gen erhält er an­fangs De­zem­ber 1950 vom bra­si­lia­ni­schen Ge­ne­ral­kon­su­lat in Pa­ris ein Vi­sum als «im­pres­sa­rio». Ei­nen Mo­nat später fliegt er von São Pau­lo zu­sam­men mit Lu­ci­en­ne Boy­er und dem Kom­po­nis­ten und Ar­ran­geur Noel Reg­ney nach New York, wo die Sänge­rin im be­rühm­ten chi­ne­si­schen Re­stau­rant und Nacht­klub Dan Foo auf­tritt. Fort­an ar­bei­tet er für Lu­ci­en­ne Boy­er, die mit ih­rem Lied Par­ler moi d’amour von 1930 Welt­be­rühmt­heit er­langt hat. Wie Char­ly zu die­ser Auf­ga­be kommt, ist un­ge­wiss. Lu­ci­en­ne Boy­er, die sich 1950 von ih­rem Mann, dem Sänger Jac­ques Pills, schei­den lässt, be­zeich­net ihn in ih­ren Brie­fen als Freund.

Lucienne Boyer an einem Auftritt am 30. November 1945 im Amsterdamer City Theater (Bild: Niederländisches Nationalarchiv)

Der künst­le­ri­sche Lei­ter wohnt fort­an in Pa­ris und be­glei­tet Lu­ci­en­ne Boy­er auf ih­ren Tour­neen. In der Schweiz taucht er nicht mehr auf. Sei­ne Ehe­frau lebt in äus­serst be­schei­de­nen Verhält­nis­sen in Lau­sanne. 1957 stirbt sie im Al­ter von 78 Jah­ren in Pril­ly VD. An ih­rer Aus­sa­ge «Was Char­ly tut, ist wohl­ge­tan!» hält sie gemäss Fa­mi­li­en­sa­ga trotz al­ler Be­schwer­nis­se fest.

Charles Lem­men­mei­er er­krankt un­heil­bar an Krebs. Im Ja­nu­ar 1958 stirbt er 51-jährig in der Kli­nik Hart­mann in Neuil­ly na­he Pa­ris. Lu­ci­en­ne Boy­er kommt für die Krank­heits- und Be­er­di­gungs­kos­ten von 400’000 Francs auf. Sie will die­se Aus­la­gen ge­genüber den Er­ben gel­tend ma­chen, wo­bei sie auf ge­sperr­te Ver­mögens­wer­te von Charles Lem­men­mei­er in Ost­deutsch­land im Um­fang von 35'000 bis 40’000 Fran­ken hin­weist. Da die Ge­schwis­ter als ge­setz­li­che Er­ben das Er­be aus­schla­gen und das zus­tändi­ge Be­zirks­ge­richt Münchwi­len die Ver­mögens­wer­te in Ost­deutsch­land für zwei­fel­haft hält, wird die An­ge­le­gen­heit nicht wei­ter­be­ar­bei­tet.

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An­mer­kun­gen des Au­tors: Ich ha­be mei­nen On­kel nicht ge­kannt. Er starb, als ich sie­ben Jah­re alt war. Das Ur­teil mei­ner Fa­mi­lie schwank­te zwi­schen Be­wun­de­rung und Miss­be­ha­gen. Was bleibt? Er­schre­cken über die Nor­ma­li­tät der Ko­ope­ra­ti­on mit dem fa­schis­ti­schen Staat? Be­stürzung über den all­tägli­chen und selbst­ver­s­tänd­li­chen An­ti­se­mi­tis­mus? Er­stau­nen über den rück­sichts­lo­sen männ­li­chen Op­por­tu­nis­mus? Und heu­te?

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