Die Schweiz verletzt Menschenrechte, weil sie nicht genug gegen die Klimakrise tut. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vergangenes Jahr. Der bedeutsame Sieg für mehr Klimagerechtigkeit ist das Ergebnis jahrelanger Vorbereitung, die im Buch in 14 Kapiteln ausführlich beschrieben wird.
Die drei Autorinnen Brigitte Hürlimann, Cordelia Bähr und Elisabeth Stern bringen verschiedene Perspektiven mit. Hürlimann fasst die vielen Geschichten, die weit über die juristischen Aspekte hinausgehen, im journalistischen Stil zusammen. Bähr, die als Anwältin die Klimaseniorinnen unterstützte, erklärt im Buch alle Details zu den gerichtlichen Prozessen. Stern bringt Anekdoten und Erlebnisse rein und erzählt, wie der Verein sich organisiert und entwickelt hat.
Jedes Kapitel beginnt mit dem Porträt einer Klimaseniorin, unter anderem von den Ostschweizerinnen Pia Hollenstein und Rita Schirmer-Braun. Besonders beeindruckend ist das Porträt der Zürcherin Ruth Schaub, die eine der Einzelklägerinnen vor dem EGMR werden sollte. Sie schildert, wie Hitzewellen ihr Leben zunehmend einschränken: Zusammenbrüche, verschobene Tagesabläufe, soziale Isolation. Am 15. Juli 2021 stirbt sie mit 90 Jahren – das Urteil aus Strassburg erlebt sie nicht mehr.
Ihr Sohn André Seidenberg übernimmt ihre Rolle als Kläger. Im Engagement seiner Mutter sieht er einen direkten Zusammenhang mit ihrer jüdischen Familiengeschichte und der Erfahrung, wie gefährlich es ist, wenn Menschenrechte politisch relativiert werden.
Eine junge Anwältin gibt den Anstoss
Über die verschiedenen Kapitel wird die Biografie von Cordelia Bähr erzählt. Sie arbeitete beim Bundesamt für Umwelt im Rechtsdienst Klima – jenem Amt, das sie später als Anwältin der Klimaseniorinnen in Strassburg juristisch bekämpft. Sie erkennt früh die Verbindung von Klimaschutz und Grundrechten und legt damit eine zentrale juristische Grundlage für die Klagen der Klimaseniorinnen. Weil man inzwischen weiss, dass ältere Frauen besonders stark durch Hitze gefährdet sind, schlägt Bähr sie als Klägerinnen vor.
Immer wieder werden die Hitzesommer erwähnt. Neue Temperaturrekorde werden gebrochen, während die Schweiz die Klimakrise verschläft. Und auch medial wird die Lage heruntergespielt: «Die Gletscher sind heuer ins Schwitzen gekommen», schreibt die NZZ im Jahr 2015. Es ist das Jahr, als das Pariser Abkommen unterzeichnet wurde. Die Schweizer Politik schafft es nicht, Antworten auf die Krise zu finden. Das abgelehnte CO₂-Gesetz ist ein Beispiel dafür. Der Verein der Klimaseniorinnen plant während dieser Zeit politische Aktionen, macht Medientrainings, zieht das Anliegen von einer Instanz zur nächsten.
Bähr beschreibt das juristische Hin und Her detailliert und verständlich: das Gesuch beim UVEK, die Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, beim Bundesgericht und schliesslich die Klage beim EGMR. Erst in Strassburg hat das Gericht als erste Instanz überhaupt die zentrale Frage – die der Verbindung zwischen den Treibhausgasemissionen und der staatlichen Schutzpflicht – geprüft.
Die Diplomaten schwitzen
Das Kapitel 12 ist der wohl unterhaltsamste Teil im Buch: Showdown in Strassburg heisst es. Es beschreibt, wie die Schweizer Diplomatie keine Antworten fand auf die Fragen aus Strassburg. Als der Richter Darian Pavli aus Albanien nach dem CO₂--Budget der Schweiz fragt, reagiert der Schweizer Umweltbotschafter Franz Perrez überfordert. Die Autorinnen beschreiben, wie dieser ein Durcheinander mit den Sprachen macht und den Überblick bei seinen Unterlagen verliert.
Die charismatischen Klimaseniorinnen, die man aus dem Fernsehen oder Instagram kennt, kommen in manchen Kapiteln etwas zu kurz. Doch das Buch ist eben kein weiterer «Grosis verklagen die Schweiz»-Bericht. Von der Tatsache mal abgesehen, dass gar nicht alle Aktivistinnen Grosskinder haben, war vieles, das über die Klimaseniorinnen im Voraus berichtet wurde, heruntergespielt. Wie schon in der NZZ zu den schwitzenden Gletschern. Ins Schwitzen kamen die Klimaseniorinnen nicht, sie hatten Recht. Das Buch ist deswegen vielmehr die Geschichte aus eigener Perspektive: mit Fakten, Erlebnissen und bemerkenswerten Biografien.
Brigitte Hürlimann, Elisabeth Stern, Cordelia Bähr: Als die Schweiz ins Schwitzen kam – Die Klimaseniorinnen. Limmat Verlag, Zürich 2025.
Lesung und Gespräch mit Brigitte Hürlimann und Elisabeth Stern: 2. Dezember, 19 Uhr, Palace, St.Gallen.
limmatverlag.ch