, 9. Oktober 2017
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The Philosopher is present

Mit Geoffroy de Lagasnerie sprach am Samstag ein Shooting-Star der französischen Theorie-Szene in der Erfreulichen Palace-Uni. Der abwesende Jean-Luc Nancy war omnipräsent. Ein Kommentar.

Der Philosoph Jean-Luc Nancy. (Bild: faustkultur.de/Corinna Hackel)

Eines der wichtigsten Themen in einer multilingualen Welt ist, man glaubt es kaum, die Übersetzung. Spürbar ist dies in Europa tagtäglich, wenn die Staaten sich noch immer wie Nationen anfühlen müssen, weil die wenigsten befähigt sind, die Presse des Nachbarlandes kritisch zu studieren. Englisch? Ja klar, und doch. Französisch? Die alte Adelssprache, die noch Tolstoi und Dostojewski als Zweitsprache in ihre Werke einflochten, gehört in der suisse orientale nicht unbedingt zum Standard, obwohl Landessprache. Katalanisch, im europäischen Vergleich eher einfach: vergiss es. Und Deutsch, hach was können wir froh sein, die wir es nicht noch lernen müssen. Übersetzer*innen sind allseits gefragte Leute.

Übersetzung war naheliegenderweise auch in der Erfreulichen Uni im Palace Thema am vergangenen Samstag. Der mittlerweile 77-jährige Jean-Luc Nancy, der aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen konnte, wie der Philosoph Thomas Telios einleitend ausrichten musste, schrieb zwei A4 Seiten zur russischen Revolution und deren Verhältnis zum technischen Fortschritt, die von Jeffrey Zuckermann ins Englische übertragen wurden.

Der Übersetzer trug die Zeilen zu Beginn im französischen Original vor, das Publikum las eifrig mit. Nicht wenige wegen dem grossen Denker des Singulär-Pluralen und der linksheideggerianischen politischen Philosophie angereist, der bis zuletzt auch angekündigt blieb, kamen so doch auf ihre Kosten. Denn zwei Seiten Nancy können durchaus gehaltvoll sein.

Einladung an den Abwesenden

Geoffroy de Lagasnerie, längst ein arrivierter Theoretiker, ein typischer Suhrkamp-Autor gewissermassen, ist mit seinem Debut im deutschsprachigen Raum zur Kunst der Revolte – eine Diskussion neuer Formen der Dissidenz, verkörpert in den Whistleblower*innen Manning, Assange und Snowden – auch hierzulande bekannt geworden.

Mit Verurteilen – Der strafende Staat und die Soziologie, wofür er eine geraume Zeit lang Gerichtsverhandlungen beiwohnte, erschien im vergangenen September eine Art theoretischer Reportage, in der er den Rechtsstaat stilistisch beachtlich einer umfassenden Kritik unterzieht, eine Anregung zum Denken bei einem Thema, das selten wirklich hinterfragt wird.

Ende Monat erscheint schliesslich mit Michel Foucaults letzte Lektion Lagasneries Antwort auf die Polemik einer einschlägigen Interpretation, Foucault sei nach 1977 zum Neoliberalisten geworden. Ist er natürlich nicht, Lagasnerie hat sich aber erfreulicherweise die Mühe gemacht, dies durch eine umfassende Lektüre der Schriften auch glaubwürdig nachzuweisen.

Geoffroy de Lagasnerie (Bild: Twitter)

Im Palace referierte er zu seinem Unbehagen mit gewissen Revolutionsbegriffen und bot dem knapp 40 Jahre älteren Kollegen, dem abwesenden Nancy, eine dialektische Steilvorlage zu einer Ausbreitung seines Denkens.

Eine kleine Finte hat er dabei auch noch verpackt. So wartete er mit einem Rundumschlag gegen das «Wir» und Begriffe der Community auf, wohl wissend, dass diese ins Deutsche übertragen sehr problematisch mit «Gemeinschaft» übersetzt werden und damit an die faschistische Staatstheorie erinnern. Begriffe des Gemeinsamen wiederum sind eines der wichtigen Themen im Werk Jean-Luc Nancys, der deswegen im deutschen Sprachraum auch schon für rechts gehalten wurde wegen Übersetzungen wie «Die verleugnete Gemeinschaft».

Kommune Räume

Nancy hätte darauf mit seiner Interpretation des heideggerianischen Mit-Seins reagieren müssen, mit dem Singulär Pluralen als Bedingung eines brauchbaren Gemeinschaftsbegriff, der dann geradezu antifaschistisch konzipiert wäre.

Der Philosoph wäre also vor einem deutschsprachigen Publikum genötigt gewesen, Gemeinschaft zu affirmieren und Heidegger herbeizuziehen (den er nach der Publikation von dessen schwarzen Heften 2015 harsch kommentierte, nachzulesen in Die Banalität Heideggers): es wäre mit Sicherheit spannend geworden.

Lagasneries Nebelgranate ging so im Luftleeren hoch, worauf er die Antwort gleich selbst lieferte. Es ginge darum, von den Commons zu reden.

En commun statt der communauté? Ausserhalb einer Unterscheidung des Instituierenden und des Instituierten, auf welche sich Lagasnerie aber nicht bezieht, ist das konzeptueller Nonsens. Beides geht zurück auf den lateinischen munus, einer Art von Steuer an die Gemeinde, und muss folglich theoretisiert werden, um für die politische Gegenwart anders produktiv gemacht zu werden.

Einfach gesagt: mehr «common» als die Philosophie Nancys geht kaum. Wenn dieser von der communauté spricht, kann das als Theorie in der Tradition der Commons gelesen werden. Eine Übersetzung als «Gemeinschaft» macht wiederum nur mangels besserer deutschen Wörter halbwegs Sinn, inhaltlich näher lägen die Allmende, d.h. gemeinsame (kommune) Räume.

Auch das «Wir» verortet Nancy im Kommunen. Es ist dies ein äusserst kommunistisches Wir, allerdings keines einer avantgardistischen Partei der sozialistischen Übergangsphase. Es geht ihm nicht um Repräsentation, sondern um das Präsentische, dies mit einem starken anarchistischen, da gegen Herrschaft jeglicher Art gerichteten Impetus.

Sind Lagasneries revoltierende Helden allesamt einsame Wölfe oder gar anonyme Multituden, so widerspricht das einem solchen Wir keineswegs. Zur Strukturierung einer Diskussion kann eine solche Dialektik hinzugezogen werden, verbleibt aber, wie ursprünglich alle Dialektik: sophistische Rhetorik. Ohne zumindest den Traum eines Wirs gäbe es für Lagasneries Helden nämlich wenig Grund, sich durch ihre Revolte mit dem Rechtsstaat anzulegen. Einsamkeit ist nicht dasselbe wie Nihilismus, und die einsame Revolte z.B. eines Snowdens, wie damit deutlich wird, eine besonders empathische, engagierte Auslegung eines Mit-Seins.

Ni dieu ni maître!

Von Lagasnerie, der gezwungen war, eine Übersetzung vorzutragen, wobei die Powerpoint-Übersetzung streikte, die dem Publikum das Mitlesen hätte vereinfachen sollen, wird man in Zukunft mit Sicherheit noch hören. Seine Themen sind hochbrisant, seine Auslegungen tiefschürfend und äusserst erfinderisch. In der erfreulichen Universität, wo er sich erst für seinen Akzent entschuldigte, der aber auch ohne Powerpoint-Support gut verständlich war, fehlte ihm zwar der angekündigte Gesprächspartner, die Fragen kamen aber trotzdem auf den Tisch.

Sagte Lenin, wie Nancys Botschaft hervorhebt, Kommunismus hiesse «Soviets plus Elektrizität», so könnte gegenüber der vermehrt kognitiven kapitalistischen Produktionsweise präzisiert werden: HDMI-Verbindungen symbolisch für Datenübertragung, Übersetzung zur Überwindung sprachlicher Grenzen und Erfreuliche Universitäten zur Verhandlung von minoritärem Wissen sind zentral.

Den eingehendsten, wohl auch schwierigsten Satz des Abends liefert der abwesende Nancy, der damit sicherlich eine interessante Diskussion mit Lagasnerie zu dessen Theorie über Snowden und damit zu hochentwickeltster Überwachungstechnologie und der damit einhergehenden technologischen Dystopie beabsichtigte: dass es nämlich unter dem Namen Soviet darum ging, ein Bedürfnis zu bejahen, das nicht aufzuhalten ist, der modernen Welt entstammt und heute noch gültig ist. Es ist dies das Bedürfnis, «dass Menschen zusammenleben können ohne Götter und Herren – auch sogar denjenigen ihrer eigenen Technologien».

Weiter geht es in der Erfreulichen Uni Morgen Dienstag um 20:15 Uhr mit einem Podium zu der Frage «Reform oder Revolte?». Es diskutieren Basil Oberholzer (Junge Grüne), Sämi Assir (anarchokommunistisch), Andrea Scheck (Juso) und ein Klartext-Aktivist. Moderiert wird das Gespräch von Rolf Bossart.

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