, 17. Februar 2012
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Vom Aufbau und Zusammensturz des Kartenhaus-Lebens

Kumpane «Small pieces of truth whispered on the kitchen floor» Eine Tanztheater-Kritik  von Fabienne Naegeli Auf der Bühne steht ein schwarz-weisser Kasten, eine weitere Bühne, bestehend aus rechteckigen Platten. Ein Knistern ist zu hören und schon werden zwei dieser Rechtecke rausgedrückt. Heraus rollen zwei schwarze, menschliche Knäuel. Sie erheben sich langsam, kugeln sich erneut zusammen, blicken […]

Kumpane «Small pieces of truth whispered on the kitchen floor»
Eine Tanztheater-Kritik  von Fabienne Naegeli

Auf der Bühne steht ein schwarz-weisser Kasten, eine weitere Bühne, bestehend aus rechteckigen Platten. Ein Knistern ist zu hören und schon werden zwei dieser Rechtecke rausgedrückt. Heraus rollen zwei schwarze, menschliche Knäuel. Sie erheben sich langsam, kugeln sich erneut zusammen, blicken stumm, mit schreckhaftem Gesichtsausdruck kurz ins Publikum und verstecken sich wieder unter ihren Kapuzen.
Dann packt er sie plötzlich ruckartig bei den Haaren, dreht sie wie eine Puppe, wuchtet sie hoch. Auf den Boden zurückgesackt beginnt sie sich – begleitet von leicht verzerrten Gitarrenklängen – zu seinem Erstaunen selbst zu bewegen. Sich leicht anstupsend und beim Balztanz gegenseitig entdeckend, folgen sie einander schliesslich in ihren Bewegungen und werden zu einem Paar.

Auf die Mensch-Werdung folgt der gemeinsame Lebensentwurf
Das Paar fasst einen Plan und baut sich eine farbig moderne Küche, seit Urzeiten das Zentrum menschlichen Zusammenlebens. Backofen, Kochherd, Wasserhahn, Wand- und Kühlschrank werden durch Umdrehen der Pappkartonwände errichtet. Freudig lächelnd wie in einem Möbelhauskatalog sitzen die beiden in ihrem urbanen Nest; sie mit überschlagenen Beinen auf der Küchenzeile, er entspannt an den Kühlschrank gelehnt.
Kurze Zeit später klingelt das Telefon das idyllische Paar in den Alltag. Keiner hebt den Hörer ab, weshalb sich nach einiger Zeit die Telefonbeantworter-Dame einschaltet. Esther ist am Apparat und fragt, ob sie schon auf dem Weg zu ihr und Lars seien oder noch zu Hause im Bad stehen. Die Party sei nämlich bereits in vollem Gange. Die beiden folgen der Einladung nicht, sondern bleiben in der Kartenhaus-Küche und beginnen ihre eigene erzählte, getanzte Abendunterhaltung.

Partys nach Muster
Mit lästerndem Unterton fantasieren sie über die Party-Gäste, deren Verhaltensweisen, immergleichen Gespräche, Beziehungen und Lebensarten. So spiegeln sie die eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Ängste.

Da ist Robert, der über Kathrin spricht und dabei versucht sich Julia zu nähern, oder Eva vor dem Büchergestell, die niemand kennt und die auf den noch nicht eingetroffenen Kaspar wartet. Auf dem Balkon stehen Lisa und Roman mit Hannah und Sven, die heute ohne ihre Tochter endlich mal wieder einen Abend nur zu zweit verbringen können.

Sie umarmen sich, legen sich auf der Küchenablage aufeinander, er drückt sie weg, hoch in die Ecke, sie liegen wie in Etagenbetten, sie stellt sich auf seine Schultern, setzt sich neben das Telefon und er lehnt an den Kühlschrank.

Arthur will ein Bier, bemerkt Lisbeth nicht, die aber erblickt Martin und stürmt auf ihn zu. Sie lässt sich langsam in seine Arme fallen, klettert an ihm herum, er stützt sie, sie wirft sich ihm entgegen, sie drehen sich verführerisch und rollen fest umschlungen über den Küchenboden.

Sie lehnt an das Regal, drängt ihn plötzlich in die Enge, worauf er sich aufs Heftigste wehrt und sie zu Boden wirft. Sie nehmen distanziert voneinander Platz, stossen aneinander. Lars will mit Esther nicht mehr reden. Sie soll endlich sagen, was sie will. Er, Opfer des Lebensentwurfs eines anderen Menschen, wird wütend, aggressiv. Da reisst sie den Telefonstecker raus und ein Küchenelement fällt runter. Der Streit lässt nicht nur das traute Glück des Paares auseinanderbrechen, auch die Küche wird bis auf das nackte Gerüst zerstört, so dass der dahinterliegende Raum sichtbar wird.

Alleine, jeder auf sich selbst zurückgeworfen, beobachten wir mit ihnen am Ende hoffnungsvoll einen Schwarm Seeschwalben am Himmel.

Akrobatisch wie klassisch
«Small pieces of truth whispered on the kitchen floor», die siebte Produktion der Schweizer Gruppe Kumpane, deren Arbeiten aus dem Zusammenwirken von Tanz/Bewegung, Text/Sprache und Musik entstehen, befasst sich mit dem Prinzip Lebensentwurf. Die kurzen, humorvollen, manchmal leicht skurrilen und poetischen Dialekttexte (von Andri Beyeler), die im Wechsel erzählt werden, einmal er (Sebastian Krähenbühl), dann wieder sie (Tina Beyeler), fliessen über in akrobatische Bewegungen, die teils Anleihen an Elementen des klassischen Paartanzes aufweisen.
In der überraschend vielseitigen Bühnenkonstruktion (von Angelica Paz Soldan) ergänzen, illustrieren und verdichten sich die unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksmittel auf wunderbare Weise und machen die Entwicklung von sowie den Umgang mit Lebensplänen sinnlich wahrnehmbar.

Kumpane «small pieces of truth whispered on the kitchen floor»
Samstag 18.2.2012, 20:15 Uhr im
Phönix-Theater 81 (Steckborn)

Von/mit: Tina Beyeler, Sebastian Krähenbühl. Dramaturgie/Text: Andri Beyeler. Musik: Frank Gerber. Bühne: Angelica Paz Soldan. Stimmen: Anna-Katharina Müller, Thomas Müller. Kostüme: Inge Gill Klossner. Licht: Fiona Zolg. Oeil extérieur: Caroline Minjolle.

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