Wir alle kennen vermutlich diese Situationen, wenn wir einem Menschen begegnen und in diesem Moment nicht wissen, woher wir ihn kennen. Man unterhält sich dann möglichst ungezwungen, versucht angestrengt unverfänglichen Smalltalk zu führen, während im Hintergrund das Erinnerungsvermögen auf Hochtouren recherchiert, woher man dieses Gesicht kennen könnte. Meistens fällt es einem dann ein paar Stunden später wieder ein. Sehr unangenehm, diese Momente, wenn das eigene Gedächtnis nicht mehr verlässlich ist.
Willkommen in der Welt von André, einem älteren Herrn, der die zentrale Figur im Theaterstück Vater (Le Père) von Florian Zeller ist. André ist verwitwet, im Ruhestand und lebt allein in einer großen Wohnung in Paris. Seine Tochter Anne kümmert sich um ihn, doch schnell zeigt sich, dass sie damit überfordert ist, denn der Vater kommt nicht mehr gut zurecht. Die letzte Pflegerin hat das Handtuch geschmissen, nachdem er sie beschimpfte und bedrohte.
André kann sich daran nicht wirklich erinnern. Und das wird zum zentralen Punkt, denn er vergisst immer mehr, seine Realität verschiebt sich, es tauchen Personen in seiner Wohnung auf, die er nicht kennt, Ereignisse vermischen sich – seine Wahrnehmung ist wie ein wilder Fiebertraum. Und das Publikum wird auf diese Reise mitgenommen, denn das Stück nimmt keine Außenperspektive ein, sondern erzählt aus Sicht des Betroffenen. Die Wahrnehmung von André steht im Zentrum, und man erhält im Laufe des Stückes einen kleinen Einblick, wie eine Demenzerkrankung sich anfühlen könnte – als erkrankte, aber auch als angehörige Person.
Im Gegensatz zur Verfilmung The Father (2020), in der Anthony Hopkins und Olivia Colman die Hauptrollen spielen, setzt das Theater Konstanz nicht auf ein düsteres Ambiente – im Gegenteil. Das Bühnenbild (Johann Brigitte Schima) ist in einem fröhlichen Lavendel-Türkis-Kontrast gehalten, was dem Stück guttut, denn das Thema an sich ist schon dunkel genug. Und die Dunkelheit erscheint, untermalt von dramatischer Klaviermusik (Jan Roth), auch immer wieder plastisch auf der Bühne, als eine schwarze Ecke, die sich auszubreiten droht, je weiter André in seinem Vergessen verschwindet.
Zwischen Einsamkeit und Erschöpfung
Odo Jergitsch gelingt ein atemberaubender Hauptcharakter, der zwischen cholerischem Patriarchen und zartem Kind changiert. Er bringt mit André eine Figur auf die Bühne, die immer mehr in sich zerfällt und zerbröckelt. Man erkennt noch gut den gestandenen Ingenieur, den autoritären Vater, den Macho und den Geschäftsmann, der sein Leben, seine Arbeit und seine Familie im Griff hatte. Und jetzt entgleist ihm all das und noch viel mehr. Wie seine Uhr, die er ständig verlegt, verflüchtigen sich alle Elemente seiner Erinnerung, und es wirkt, als würde man ein Puzzle immer wieder schütteln, und kurz bevor es zusammenpasst, fliegen alle Teile wieder durcheinander. Seine eigene Unzulänglichkeit macht André anfangs wütend, dann immer verzweifelter.
Anna Lisa Grebe und Odo Jergitsch.
Neben ihm steht die Tochter Anne, die gerne einen Neustart im Leben wagen würde – mit einer neuen Partnerschaft, in einer neuen Stadt –, aber gebunden ist an den Vater, für den sie als einzige Angehörige allein verantwortlich ist. Für diese grosse Aufgabe wird ihr aber nicht Dank entgegengebracht, sondern eine permanente Abwertung und ein Vergleich mit ihrer verstorbenen Schwester, die der Vater viel mehr geliebt hat, was er nicht müde wird zu betonen. Sylvana Schneider und Anna Lisa Grebe teilen sich die Rolle der Tochter, die für den Vater immer schwerer zu erkennen ist.
Ihre Überforderung und Erschöpfung wächst, und da hilft auch nicht die neue Pflegerin Laura, die mit viel jugendlichem Elan wieder frischen Wind in die von Trauer, Einsamkeit und Erschöpfung verstaubten Wände bringt. Maria Lehberg zeigt in dieser Rolle viel Herzenswärme und Optimismus und mischt mit ihren farbenfrohen Outfits die beige-braune Garderobe der anderen Figuren auf. Der Partner von Anne, dargestellt von Jonas Pätzold und Ingo Biermann, ist für den Vater ein Fremder und kommt mit dieser Zuschreibung nicht besonders gut zurecht: «Wie lange willst du uns eigentlich noch verarschen?!», fragt er mehrfach und zeigt damit, dass das Verständnis für die Erkrankung im Umfeld nicht vorhanden ist – und er dennoch versucht, Anne eine Unterstützung zu sein.
Ein Stück mit Relevanz für verschiedene Generationen
Die Thematik berührt verschiedene Generationen auf unterschiedliche Weise. Je nach eigener Lebenssituation identifiziert man sich mehr mit der Tochter- oder der Vater-Ebene, doch dem Stück unter der Regie von Mia Constantine und der Dramaturgie von Annika Hilger gelingt es, beide miteinander zu verbinden und jede Perspektive für sich zu erzählen. Für alle bleibt gleich, dass es kein Happy End gibt und keine gute Lösung gefunden werden kann. André ist am Schluss in einem Pflegeheim untergebracht und versteht dort die Welt noch viel weniger. Seine Situation mit Blick auf einen Park und einer Pflegekraft (Anna Lisa Grebe), die sich zweimal täglich Zeit für Spaziergänge nimmt, ist sehr privilegiert, vergleicht man sie mit der Kapazität von Standardeinrichtungen, und führt trotzdem zu einem tiefen Schmerz auf Seiten aller Beteiligten.
Im Laufe des Abends wird man als zuschauende Person selbst immer wieder darauf zurückgeworfen, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen. Hatte die Tochter nicht einen anderen Pullover an? Wo ist die Weste von André, die er eben noch trug? War der Stuhl nicht vorhin noch kleiner? Wurde die Teekanne nicht zuvor zum Blumengießen verwendet? Man muss sich konzentrieren, um diese Veränderungen im Blick zu behalten – was nicht gerade leicht ist, da das Bühnenbild sich immer wieder dreht und die Räumlichkeiten sich dadurch minimal verändern, Personen verschwinden und wieder auftauchen, ebenso wie einzelne Requisiten und Kostüme.
Und so bleibt man nach einem herzzerreissend berührenden Ende mit der Frage zurück: Kann ich mich auf meine Wahrnehmung wirklich verlassen? Und wann fängt es an, dass ich selbst ein wenig ver-rückt werde? Vielleicht sind ja die kleinen Momente der Vergesslichkeit erste Hinweise? Oder merke ich es selbst erst zuletzt? Und was bleibt von mir, wenn meine Erinnerung geht? Vielleicht erhält man in diesem Stück eine erste Ahnung davon, wie fragil die eigene Wirklichkeit wirklich ist.
Vater (Le Père): bis 10. Januar, Theater Konstanz.
theaterkonstanz.de