Vom Verschwinden der eigenen Welt

Sylvana Schneider (hinten) spielt die Tochter, Maria Lehberg die Pflegekraft und Odo Jergitsch den Vater im Stück Le Père. (Bilder: Ilja Mess) 

Das Stück Vater (Le Père) am Theater Konstanz zeigt das Thema Demenz aus der Innenperspektive. Wie ist es, wenn sich die eigene Wahrnehmung verschiebt und Erinnerungen nicht mehr verlässlich sind? Ein Theaterabend, der sehr ans Herz geht und zum Reflektieren einlädt.

Wir al­le ken­nen ver­mut­lich die­se Si­tua­tio­nen, wenn wir ei­nem Men­schen be­geg­nen und in die­sem Mo­ment nicht wis­sen, wo­her wir ihn ken­nen. Man un­ter­hält sich dann mög­lichst un­ge­zwun­gen, ver­sucht an­ge­strengt un­ver­fäng­li­chen Small­talk zu füh­ren, wäh­rend im Hin­ter­grund das Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen auf Hoch­tou­ren re­cher­chiert, wo­her man die­ses Ge­sicht ken­nen könn­te. Meis­tens fällt es ei­nem dann ein paar Stun­den spä­ter wie­der ein. Sehr un­an­ge­nehm, die­se Mo­men­te, wenn das ei­ge­ne Ge­dächt­nis nicht mehr ver­läss­lich ist. 

Will­kom­men in der Welt von An­dré, ei­nem äl­te­ren Herrn, der die zen­tra­le Fi­gur im Thea­ter­stück Va­ter (Le Pè­re) von Flo­ri­an Zel­ler ist. An­dré ist ver­wit­wet, im Ru­he­stand und lebt al­lein in ei­ner gro­ßen Woh­nung in Pa­ris. Sei­ne Toch­ter An­ne küm­mert sich um ihn, doch schnell zeigt sich, dass sie da­mit über­for­dert ist, denn der Va­ter kommt nicht mehr gut zu­recht. Die letz­te Pfle­ge­rin hat das Hand­tuch ge­schmis­sen, nach­dem er sie be­schimpf­te und be­droh­te. 

An­dré kann sich dar­an nicht wirk­lich er­in­nern. Und das wird zum zen­tra­len Punkt, denn er ver­gisst im­mer mehr, sei­ne Rea­li­tät ver­schiebt sich, es tau­chen Per­so­nen in sei­ner Woh­nung auf, die er nicht kennt, Er­eig­nis­se ver­mi­schen sich – sei­ne Wahr­neh­mung ist wie ein wil­der Fie­ber­traum. Und das Pu­bli­kum wird auf die­se Rei­se mit­ge­nom­men, denn das Stück nimmt kei­ne Au­ßen­per­spek­ti­ve ein, son­dern er­zählt aus Sicht des Be­trof­fe­nen. Die Wahr­neh­mung von An­dré steht im Zen­trum, und man er­hält im Lau­fe des Stü­ckes ei­nen klei­nen Ein­blick, wie ei­ne De­menz­er­kran­kung sich an­füh­len könn­te – als er­krank­te, aber auch als an­ge­hö­ri­ge Per­son.

Im Ge­gen­satz zur Ver­fil­mung The Fa­ther (2020), in der An­tho­ny Hop­kins und Oli­via Col­man die Haupt­rol­len spie­len, setzt das Thea­ter Kon­stanz nicht auf ein düs­te­res Am­bi­en­te – im Ge­gen­teil. Das Büh­nen­bild (Jo­hann Bri­git­te Schi­ma) ist in ei­nem fröh­li­chen La­ven­del-Tür­kis-Kon­trast ge­hal­ten, was dem Stück gut­tut, denn das The­ma an sich ist schon dun­kel ge­nug. Und die Dun­kel­heit er­scheint, un­ter­malt von dra­ma­ti­scher Kla­vier­mu­sik (Jan Roth), auch im­mer wie­der plas­tisch auf der Büh­ne, als ei­ne schwar­ze Ecke, die sich aus­zu­brei­ten droht, je wei­ter An­dré in sei­nem Ver­ges­sen ver­schwin­det.

Zwi­schen Ein­sam­keit und Er­schöp­fung

Odo Jer­gitsch ge­lingt ein atem­be­rau­ben­der Haupt­cha­rak­ter, der zwi­schen cho­le­ri­schem Pa­tri­ar­chen und zar­tem Kind chan­giert. Er bringt mit An­dré ei­ne Fi­gur auf die Büh­ne, die im­mer mehr in sich zer­fällt und zer­brö­ckelt. Man er­kennt noch gut den ge­stan­de­nen In­ge­nieur, den au­to­ri­tä­ren Va­ter, den Ma­cho und den Ge­schäfts­mann, der sein Le­ben, sei­ne Ar­beit und sei­ne Fa­mi­lie im Griff hat­te. Und jetzt ent­gleist ihm all das und noch viel mehr. Wie sei­ne Uhr, die er stän­dig ver­legt, ver­flüch­ti­gen sich al­le Ele­men­te sei­ner Er­in­ne­rung, und es wirkt, als wür­de man ein Puz­zle im­mer wie­der schüt­teln, und kurz be­vor es zu­sam­men­passt, flie­gen al­le Tei­le wie­der durch­ein­an­der. Sei­ne ei­ge­ne Un­zu­läng­lich­keit macht An­dré an­fangs wü­tend, dann im­mer ver­zwei­fel­ter.

Anna Lisa Grebe und Odo Jergitsch. 

Ne­ben ihm steht die Toch­ter An­ne, die ger­ne ei­nen Neu­start im Le­ben wa­gen wür­de – mit ei­ner neu­en Part­ner­schaft, in ei­ner neu­en Stadt –, aber ge­bun­den ist an den Va­ter, für den sie als ein­zi­ge An­ge­hö­ri­ge al­lein ver­ant­wort­lich ist. Für die­se gros­se Auf­ga­be wird ihr aber nicht Dank ent­ge­gen­ge­bracht, son­dern ei­ne per­ma­nen­te Ab­wer­tung und ein Ver­gleich mit ih­rer ver­stor­be­nen Schwes­ter, die der Va­ter viel mehr ge­liebt hat, was er nicht mü­de wird zu be­to­nen. Syl­va­na Schnei­der und An­na Li­sa Gre­be tei­len sich die Rol­le der Toch­ter, die für den Va­ter im­mer schwe­rer zu er­ken­nen ist. 

Ih­re Über­for­de­rung und Er­schöp­fung wächst, und da hilft auch nicht die neue Pfle­ge­rin Lau­ra, die mit viel ju­gend­li­chem Elan wie­der fri­schen Wind in die von Trau­er, Ein­sam­keit und Er­schöp­fung ver­staub­ten Wän­de bringt. Ma­ria Leh­berg zeigt in die­ser Rol­le viel Her­zens­wär­me und Op­ti­mis­mus und mischt mit ih­ren far­ben­fro­hen Out­fits die beige-brau­ne Gar­de­ro­be der an­de­ren Fi­gu­ren auf. Der Part­ner von An­ne, dar­ge­stellt von Jo­nas Pät­zold und In­go Bier­mann, ist für den Va­ter ein Frem­der und kommt mit die­ser Zu­schrei­bung nicht be­son­ders gut zu­recht: «Wie lan­ge willst du uns ei­gent­lich noch ver­ar­schen?!», fragt er mehr­fach und zeigt da­mit, dass das Ver­ständ­nis für die Er­kran­kung im Um­feld nicht vor­han­den ist – und er den­noch ver­sucht, An­ne ei­ne Un­ter­stüt­zung zu sein.

Ein Stück mit Re­le­vanz für ver­schie­de­ne Ge­ne­ra­tio­nen

Die The­ma­tik be­rührt ver­schie­de­ne Ge­ne­ra­tio­nen auf un­ter­schied­li­che Wei­se. Je nach ei­ge­ner Le­bens­si­tua­ti­on iden­ti­fi­ziert man sich mehr mit der Toch­ter- oder der Va­ter-Ebe­ne, doch dem Stück un­ter der Re­gie von Mia Con­stan­ti­ne und der Dra­ma­tur­gie von An­ni­ka Hil­ger ge­lingt es, bei­de mit­ein­an­der zu ver­bin­den und je­de Per­spek­ti­ve für sich zu er­zäh­len. Für al­le bleibt gleich, dass es kein Hap­py End gibt und kei­ne gu­te Lö­sung ge­fun­den wer­den kann. An­dré ist am Schluss in ei­nem Pfle­ge­heim un­ter­ge­bracht und ver­steht dort die Welt noch viel we­ni­ger. Sei­ne Si­tua­ti­on mit Blick auf ei­nen Park und ei­ner Pfle­ge­kraft (An­na Li­sa Gre­be), die sich zwei­mal täg­lich Zeit für Spa­zier­gän­ge nimmt, ist sehr pri­vi­le­giert, ver­gleicht man sie mit der Ka­pa­zi­tät von Stan­dard­ein­rich­tun­gen, und führt trotz­dem zu ei­nem tie­fen Schmerz auf Sei­ten al­ler Be­tei­lig­ten.

Im Lau­fe des Abends wird man als zu­schau­en­de Per­son selbst im­mer wie­der dar­auf zu­rück­ge­wor­fen, die ei­ge­ne Wahr­neh­mung zu über­prü­fen. Hat­te die Toch­ter nicht ei­nen an­de­ren Pull­over an? Wo ist die Wes­te von An­dré, die er eben noch trug? War der Stuhl nicht vor­hin noch klei­ner? Wur­de die Tee­kan­ne nicht zu­vor zum Blu­men­gie­ßen ver­wen­det? Man muss sich kon­zen­trie­ren, um die­se Ver­än­de­run­gen im Blick zu be­hal­ten – was nicht ge­ra­de leicht ist, da das Büh­nen­bild sich im­mer wie­der dreht und die Räum­lich­kei­ten sich da­durch mi­ni­mal ver­än­dern, Per­so­nen ver­schwin­den und wie­der auf­tau­chen, eben­so wie ein­zel­ne Re­qui­si­ten und Kos­tü­me.

Und so bleibt man nach ei­nem herz­zer­reis­send be­rüh­ren­den En­de mit der Fra­ge zu­rück: Kann ich mich auf mei­ne Wahr­neh­mung wirk­lich ver­las­sen? Und wann fängt es an, dass ich selbst ein we­nig ver-rückt wer­de? Viel­leicht sind ja die klei­nen Mo­men­te der Ver­gess­lich­keit ers­te Hin­wei­se? Oder mer­ke ich es selbst erst zu­letzt? Und was bleibt von mir, wenn mei­ne Er­in­ne­rung geht? Viel­leicht er­hält man in die­sem Stück ei­ne ers­te Ah­nung da­von, wie fra­gil die ei­ge­ne Wirk­lich­keit wirk­lich ist.


Va­ter (Le Pè­re): bis 10. Ja­nu­ar, Thea­ter Kon­stanz. 
thea­ter­kon­stanz.de 

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