Der Aargauer Musiker Dino Brandão ist vielen bekannt als Teil des Trios Brandão Faber Hunger, mit dem er 2020 dank des Albums Ich liebe dich den Durchbruch feierte. Weniger bekannt ist, dass der 34-Jährige unter einer Schizophrenie, Multipler Sklerose und einer bipolaren Störung leidet. Im Film I Love You, I Leave You, der jetzt in den Deutschschweizer Kinos anläuft, hat ihn Filmemacher Moris Freiburghaus, der gleichzeitig auch Brandãos bester Freund ist und im Film selber eine Hauptrolle spielt, bei einer manischen Episode begleitet.
Diese löst eine Reise nach Angola aus, das Heimatland von Brandãos Vater. «Konfrontiert mit dessen Vergangenheit und Fragen zur eigenen Identität», heisst es als Begründung für die manische Episode im Pressekit, mehr erschliesst sich auch aus dem Film nicht. Man sieht Brandão, wie er in Angola mit dem Skateboard rumkurvt oder das Grab seiner Grossmutter besucht. Er begiesst es mit Wein, singt in eine Muschel, tanzt und trommelt sich dabei auf die Beine und legt sich schliesslich, die Arme auf der Brust verschränkt, auf den Gehweg neben dem Grab. Ein Ritual? Oder bereits der Beginn der manischen Episode?
Dino Brandão neben dem Grab seiner Grossmutter in Angola.
«Alles, was du mir erzählt hast, was du in Angola erlebt hast …», sagt sein Vater an einer späteren Stelle im Film. «Es war so eine komische Reise», meint Brandão selber dazu. Was genau sie meinen, bleibt offen. Wichtig ist aber ohnehin das, was danach passiert.
Wenige Tage nach der Rückkehr in die Schweiz trifft sich Brandão in einem Zürcher Strassencafé mit seinem Vater und Till Ostendarp, dem Toggenburger Musiker, mit dem er in der Band von Faber spielt. Schnell wird deutlich, dass Brandão psychisch angeschlagen ist. Er erzählt, dass er kaum geschlafen hat, seine Bankkarten hat er der Schwester gegeben, einkaufen kann er aber immer noch übers Handy, «ich habe ein bisschen geschummelt». Der Peak der manischen Episode sei zwei Tage nach der Rückkehr gewesen, erzählt er. Doch in den nächsten Tagen wird es noch schlimmer. Wegen Selbst- und Fremdgefährdung wird er in einer psychiatrischen Klinik er fürsorgerisch untergebracht. Brandão büxt mehrmals aus, es entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen ihm, seinem Umfeld, der Polizei und dem Klinikpersonal.
Was ist Hilfe, was Vertrauensbruch?
I Love You, I Leave You zeigt ungeschminkt die Hilflosigkeit, der Brandãos Freund:innen und Familie ausgesetzt sind – so sehr sie auch helfen wollen und es versuchen. «Es tut einfach weh, diese Zustände mit dir durchzumachen», sagt Freiburghaus an einer Stelle. Schon ein paar Monate zuvor, als Brandão seine letzte manische Episode hatte und in die Klinik eingewiesen wurde, kam das persönliche Umfeld an seine Grenzen.
Die Überforderung mit der Situation wird mehrmals greifbar, gerade auch das Dilemma von Moris Freiburghaus, was Hilfe ist und was ein Vertrauensbruch. So sagt der Regisseur in einem Telefongespräch mit dem Vater, er werde seinen Freund nicht der Polizei ausliefern. Deshalb weigert er sich zunächst, ihr die Adresse des Proberaums ins Schlieren, der für Brandão ein Safe Space ist und in den er sich nach seiner Flucht aus der Klinik zurückzieht, preiszugeben. Doch nachdem Brandão aus der Klinik geflohen ist und ankündigt, nach Paris abzuhauen, macht Freiburghaus dessen Standort mittels Handyortung aus und informiert die Polizei. Und später sieht er keine andere Lösung, als der Polizei doch die Adresse des Ateliers bekanntzugeben.
Auch der Realitätsverlust, mit dem Betroffene zu kämpfen haben, kommt im Film zur Geltung. Brandão bleibt tage- beziehungsweise nächtelang wach, erzählt von Unsterblichkeit oder von einem bevorstehenden Treffen mit Barack Obama, und weigert sich, Medikamente zu nehmen – «ich sterbe lieber». Dabei zeigen sich immer wieder die typischen Verhaltensmuster: Die Lügen und leeren Versprechen, mit denen das persönliche Umfeld immer wieder manipuliert wird; das Leugnen der Tatsache, dass man die Kontrolle über sich selbst verloren hat; das vermeintliche Wissen darüber, was gerade richtig ist und wie man diese Situation selbst lösen kann. «Ich hätte euch geboxt, ich hätte euch vielleicht umgebracht», sagt Brandão in einer Szene, als er betont, er wisse genau, was er zu tun habe.
Ganz nah, aber nicht voyeuristisch
Die enge Freundschaft zwischen Brandão und Freiburghaus ermöglichte es dem Filmemacher einerseits, ganz nah dabei zu sein, auch in jenen Momenten, in denen Brandão ganz verletzlich ist. Andererseits sorgte sie dafür, dass der Film nichts Voyeuristisches hat, selbst in jenen Szenen, in denen das Zuschauen unangenehm sein mag – und solche gibt es immer wieder. Man fühlt in den Extremsituationen mit, sowohl mit Brandão als auch mit Moris Freiburghaus oder dem Vater, die sichtlich unter der Situation leiden.
Brandãos Vater leidet unter der Manie seines Sohnes.
Mit I Love You, I Leave You ist Moris Freiburghaus ein beeindruckender und sehr berührender Dokumentarfilm gelungen. Dieser war eine Idee von Dino Brandão selber. Und soll dazu beitragen, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren.
Am diesjährigen Zürich Filmfestival erhielt der Film das «Goldene Auge» für den besten Dokumentarfilm sowie den Publikumspreis – als erster Schweizer Film überhaupt. «So etwas haben wir noch nie gesehen. Mit seinem mutigen Regiedebüt, in dem er den Kampf seines besten Freundes mit manischen Episoden dokumentiert, gewährt Moris Freiburghaus einen unverblümten Einblick in psychische Erkrankungen und in die unerschütterliche Kraft von Freundschaft und Familie», hiess es in der Begründung der Jury.
Parallel zum Film entstand, quasi als Soundtrack dazu, ein neues Album von Dino Brandão, das diesen Freitag erscheint.
I Love You, I Leave You: 6. Oktober, 20 Uhr, Kinok, St.Gallen (Gespräch mit Regisseur Moris Freiburghaus und Editor Michael Karrer, Dino Brandão musste kurzfristig absagen; Moderation: Livia Vonaesch, Filmemacherin); 12. November, 19.30 Uhr, Kino Cameo, Winterthur (Gespräch mit Dino Brandão und Moris Freiburghaus; Moderation: Laura Walde, Kino Cameo).