Die Grösse eines Albums zeigt sich oft erst im Kleinen. Nicht in den unwiderstehlichen Refrains, der massiven Instrumentierung oder einer möglichst üppigen Produktion. Sondern in den liebevollen Details, die man bei jedem neuen Hördurchgang entdeckt, in dezenten Ausschmückungen, die nicht sofort ins Ohr springen – oder in bewussten Auslassungen.
Das trifft auch auf Young Bones zu, das Debüt von Mel D. Die 29-jährige Musikerin aus Maienfeld, die schon länger in Zürich lebt, ist vielen als eine Hälfte des st.gallisch-bündnerischen Elektro-Pop-Duos Mischgewebe bekannt, mit dem sie 2019 den Nachwuchswettbewerb BandXOst gewann, oder als Sängerin in der Band von Faber. Ihr melancholischer Indie-Pop schöpft viel Kraft aus der Reduktion, aus der Besinnung auf das Wesentliche. Lieber mal ein Ton zu wenig als einer zu viel. Dennoch – oder gerade deshalb – ist es ein Album, das man nicht oberflächlich erfassen kann, sondern in das man eintauchen muss. Je öfter man es tut, desto tiefer zieht es einen hinein.
Die ersten vier Songs von Young Bones hatte Mel D bereits vor einem knappen Jahr als EP Not Crazy digital veröffentlicht. Nun kommen weitere fünf hinzu. Ein übliches Vorgehen im Zeitalter von Streamingportalen, gerade bei jungen Musiker:innen, die ihre Musik häppchenweise veröffentlichen (müssen), um besser wahrgenommen zu werden und bei Konzertanfragen etwas vorweisen zu können.
Als ganzer Happen – auf Vinyl, CD oder digital – ist Young Bones allerdings wesentlich genussvoller. So hübsch Not Crazy für sich allein war und ist, so sehr profitiert jeder einzelne Track von der Wirkung, die das Album nur in seiner Gesamtheit entfaltet. Die neun Songs ergeben zusammen ein kohärentes Werk. Ein Werk, dem man anhört, dass es von Anfang an als Ganzes konzipiert war.
Viel Raum für die Stimme
Die Songs sind fein austariert und sehr sorgfältig arrangiert. Besonders schön ist, dass die Instrumente der Stimme von Mel D viel Raum geben, um sich zu entfalten. Das Eröffnungsstück Changing beginnt mit einem minimalistischen Drumstick-Pattern, über das sich nach einer halben Minute ihr gefühlvoller Gesang ergiesst. Nach zweieinhalb Minuten setzt das Cello ein, die Gitarre nimmt man mehr als Gefühl wahr denn als Klang. In Soft begleitet eine sanft gezupfte Gitarre den Gesang zwei Minuten lang, ehe Bass und Schlagzeug einsetzen. Viele Songs sind so aufgebaut, oft ergänzt nur ein Instrument die Stimme.
Inhaltlich geht es um die Liebe, um Trennung und Verlust, um Erschöpfung, um das Erwachsenwerden, um Selbstfindung und Identität. So singt Mel D in Slowly Growing:
Nobody told me it was gonna be this hard
I lost a piece of me right where I grew up
Put my childhood in boxes and boxes over boxes in a basement
Where I forget
That when I’m coming home I still don’t know where do I belong
Bring The Witches Back handelt von der Überforderung mit der Welt, von Entfremdung statt Solidarität – und von Hexentum und Magie als Mittel dagegen.
Viele Lyrics lassen sich aber unterschiedlich interpretieren. Doch wie persönlich sind sie? «Dieses Album ist das Persönlichste, was ich je gemacht habe», antwortet Mel D. Wie autobiografisch die Songs sind, lässt sie offen. «Ich möchte die Geschichten hinter den Songs nicht erklären müssen. Sie sind auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sich die Hörer:innen daraus etwas aneignen können, was sie brauchen oder was sie berührt.»
Zu zweit, aber kein Duo
Eine zentrale Figur für die Musik von Mel D ist Dino Brandão. Sie lernte den Aargauer Multiinstrumentalisten im Sommer 2020 kennen, nach einem Konzert von Brandão Faber Hunger in der Roten Fabrik. Noch am selben Abend verabredeten sie sich, um in seinem Tonstudio gemeinsam an ihren Songs zu arbeiten; später öffnete ihr Brandão auch die Tür in die Band von Faber.
Die beiden entwickelten schnell eine gemeinsame musikalische Sprache. Und obwohl sie zusammen intensiv an den Songs arbeiteten, seien sie kein Duo: «Ich komme mit einem Skelett aus Lyrics und Melodien, die Haut und das Kleid ziehen wir dann zusammen an», sagt Mel D. Nur den Song We Win haben sie gemeinsam geschrieben und singen ihn auch gemeinsam.
Über Monate hinweg arrangierten Mel D und Dino Brandão die Songs, nahmen sie auf und produzierten sie. «Wir wussten: Das ist das Beste, das wir machen können, aber es geht noch besser. Das Album braucht jemanden, der es mischt, aber auch mit neuen Ohren hört, um gewisse Sachen zu verbessern.»
Mel D erstellte eine Liste mit ihren Lieblingsproduzenten. Zuoberst stand der Name Renaud Letang, der Produzent ihres Lieblingsalbums Pleasure von Feist. Sie kontaktierte ihn, und ein paar Tage später rief er sie tatsächlich an. Sie verabredeten sich in Paris, um sich kennenzulernen. «Er sagte mir, dass er das unbedingt machen will.» So erhielt Young Bones während zweier Monate in Paris den Feinschliff. «Als ich das Resultat hörte, konnte ich es nicht glauben. Ich hatte meine Stimme noch nie so gehört.»
Ein künstlerisches Ventil für die Emotionen
Inzwischen lebt Mel D von der Musik. Dabei sei sie relativ spät zum Musikmachen gekommen, erzählt sie. Sie war etwas mehr als 20 Jahre alt, als sie mit Bill Bühler Mischgewebe ins Leben rief. Und der Beginn ihrer Solokarriere war ein regelrechter Kaltstart: Weil Bühler für ein bereits geplantes Konzert verhindert war, sagte Mel D kurzfristig für einen Soloauftritt zu – ohne ein Programm zu haben. In nur zwei Wochen schrieb sie ein paar Songs und brachte sich das Gitarrespielen bei. «Da habe ich gemerkt, dass es mir guttut, etwas zu haben, wo ich komplett unabhängig bin.» Früher sei das Tanzen ihr kreativer Output gewesen. «Ich brauchte schon immer ein künstlerisches Ventil für meine Emotionen, denn ich habe ein überdurchschnittliches emotionales Spektrum.»
Heute ist die Musik dieses Ventil. Und nicht zuletzt die Emotionen sind es, die Young Bones zu einem ergreifenden Album machen.
Mel D: Young Bones (Two Gentlemen), seit 5. September auf Vinyl, CD und digital erhältlich.
Live: 29. Oktober, 20 Uhr, Werkstatt, Chur.
meldmusic.com