Saiten: Man hat den Eindruck, dass sich seit 2005 in Sachen Velofahren viel getan hat.
Michael Städler: Ja, der Eindruck stimmt sicher. Viele Verbesserungen konnten realisiert werden. Positiv ist, dass wir mit dem Veloweggesetz des Bundes heute einen politischen Auftrag fürs Velo haben. Ausserdem wurden in Abstimmungen verschiedene Vorlagen, die uns helfen, angenommen – etwa das Reglement für nachhaltige Verkehrsentwicklung. Damit bekamen Veloanliegen einen höheren Stellenwert. Das führt dazu, dass wir mit Behörden auf Augenhöhe diskutieren und Fachplaner:innen unsere Anliegen ernst nehmen.
Die Verkehrsdebatten im St.Galler Kantonsrat zeigen, dass die gute Stimmung fürs Velo nicht überall angekommen ist.
Eine positive Entwicklung stellen wir vor allem in der Stadt St.Gallen fest. Beim Kanton hat es Luft nach oben. Die Umsetzung von Veloprojekten «auf dem Land» ist nicht nur eine Frage der Finanzen, sondern oft auch des Know hows. Die Unterstützung des Kantons für die Gemeinden ist ungenügend. Veloanliegen werden so zu oft ausgebremst statt gefördert.
Hat das damit zu tun, dass das Velo als Verkehrsmittel nicht ernst genommen wird?
Wir von Pro Velo verstehen die Haltung bürgerlicher Politiker:innen, etwa im Kantonsrat, nicht. Das Velo ist kein linkes Anliegen. Mindestens 80 Prozent der Velofahrer:innen fahren auch Auto. Andere Länder machen es vor: Dort sind das Velo und die Verkehrswende, die es bringen soll, kein Thema für politisches Gezänk, sondern mehrheitlich eine Frage des gemeinsamen Aufbruchs. Bei uns wird das Velo – genau wie Tempo 30 – für politische Stimmungsmache missbraucht.
Apropos Verkehrswende: Der Anteil des Velos am Gesamtverkehr belief sich in der Stadt St.Gallen 2021 auf gerade 7 Prozent. In Basel waren es aber 21, in Zürich 19,2 Prozent. Wir hinken hinterher.
Und doch war bei uns der Anteil 2021 doppelt so hoch wie 2005. Angesichts steigender Zahlen bei Velozählungen oder bei der Auslastung der Veloparkierungsanlagen denke ich, dass inzwischen nochmals ein Sprung nach oben stattgefunden hat. Mit dem Ausbau der Infrastruktur dürfte der Verkehrsanteil des Velos spätestens 2035 die 20-Prozent-Marke knacken. Die durchgängige, sichere und bequeme Infrastruktur, auf die die Stadt hinarbeitet, wird viele umsteigen lassen, die sich heute das Velofahren nicht zutrauen.
Das ist jetzt Zweckoptimismus des Pro-Velo-Vertreters.
Nein, definitiv nicht. Wenn man sieht, wer täglich wie lange auf dem Velo sitzt, stellt man fest, dass sich das Velo als Alltagsverkehrsmittel etabliert hat. Früher fuhr kaum jemand im Winter Velo; die Zahl jener, die es ganzjährig nutzen, ist stark gestiegen. Das gilt auch für jene, die mit dem Velo zum Einkaufen fahren oder mit dem Cargovelo unterwegs sind. Da hat sich etwas verändert. Wir werden die Verkehrswende schaffen, wenn wir den gesellschaftlichen Rückhalt dafür haben ...

... also in der Stadt. Ausserhalb ist das unwahrscheinlich, oder?
Das wäre bis 2035 auch in einzelnen Agglomerationen im Kanton St.Gallen möglich. Ich denke an Buchs, wo das Velo einen hohen Verkehrsanteil hat. Dafür bräuchte es im Kantonsrat aber wieder vermehrt Politiker:innen, die Verkehrspolitik sachorientiert und nicht ideologisch betreiben.
Wo liegen die Hindernisse fürs Umsteigen aufs Velo?
Wir haben 40 bis 60 Prozent Verkehrsteilnehmer:innen, die interessiert wären, Velo zu fahren oder öfter Velo zu fahren. Davon traut sich ein Grossteil angesichts der Verkehrsverhältnisse das Umsteigen nicht zu. Das ist ein Riesenpotenzial in den Gruppen von Frauen, Jugendlichen und Menschen mit Migrationshintergrund. Bei den Jugendlichen hängt der Entscheid fürs Velo oft mit dem Lifestyle zusammen. Bei den anderen Gruppen schreckt die Angst vor möglichen Gefahren ab. Da ist die Infrastruktur der Schlüssel. Das stellt man in Städten fest, die schon viel fürs Velo getan haben.
Es wird davon geträumt, der Ausbau der Veloinfrastruktur mache die Engpassbeseitigung auf der Stadtautobahn überflüssig ...
... das ist kein Traum! Rund 50 Prozent des Verkehrs auf der Stadtautobahn ist Quell- und Zielverkehr in und aus der Stadt und den angrenzenden Gemeinden. Das sind genau jene, die oft problemlos vom Auto aufs Velo oder E-Bike umsteigen könnten. Dazu zählen Pendler:innen, die während ihres Aufenthalts in der Stadt mit dem Auto innerstädtisch unterwegs sind. Und für die vielen Pendler:innen, die aus Rorschach, Gossau oder Herisau in die Stadt fahren, müsste man als Anreiz zum Umsteigen vermehrt in der Kombi von ÖV und Velo denken, und im Tarifverbund konkurrenzfähige ÖV-Angebote schaffen.
Man hört oft die Klage, Velofahrer:innen hielten sich nicht an Regeln.
Das Tragische ist, dass die kleine Gruppe von Velofahrer:innen, die sich nicht benehmen kann, stark auffällt und einen prägenden Eindruck hinterlässt. Mit den Begegnungszonen hat man klare Regeln für das korrekte Verhalten auf zwei Rädern und auf zwei Beinen geschaffen. Jene, die sich heute nicht an diese Regeln halten, haben sich auch früher nicht daran gehalten.
Was richtig ist, das Problem aber nicht löst ...
Wir als Gesellschaft müssen grundsätzlich in eine freundlichere Verkehrskultur investieren. Das ist ein Prozess. Dabei müssen wir hervorheben, was gut läuft, und nicht immer schlechte Beispiele in den Vordergrund stellen. Wir müssen das Positive fördern. Das tun wir nicht, wenn wir denen, die sich auf dem Velo an die Regeln halten, die Durchfahrt durch die Stadt verwehren, weil ein paar wenige Notorische sich nicht korrekt verhalten.
Die Verbesserung der Verkehrskultur geht weit übers Velo hinaus?
Ja, klar. Und ein grosses Hindernis dabei ist, dass wir in der Schweiz eine eigenartige Fehler- und Vorwurfskultur pflegen. Wir suchen die Fehler immer bei den anderen. Wir alle machen aber Fehler, und man muss den Menschen zugestehen, Fehler machen zu dürfen. Wichtig ist, dass wir alle aus Fehlern lernen und anderen ihre Fehler verzeihen. Empathie wäre das Schlüsselwort für den Umgang mit diesem Problem.
Gibt es überhaupt die Chance auf eine solche Veränderung?
Da ist nicht Hopfen und Malz verloren. Wir müssen daran arbeiten, und zwar gerade auch in der Politik. Wir müssen wieder aufeinander zugehen, wir müssen das Miteinander und nicht das kompromisslose Gegeneinander pflegen. Eine Ursache des Ellbögelns im Alltag liegt darin, dass heute Politik und Wirtschaft immer mehr nur noch am Ellbögeln sind und gesellschaftliche Werte in den Hintergrund rücken.
Wie startet man so einen Diskurs?
Pro Velo thematisiert das in den Velokursen für Eltern und Kinder. Wenn der Nachwuchs im Veloparcours Geschicklichkeitsaufgaben löst, besprechen wir solche Fragen mit den Erwachsenen. Etwa auch zur Fehlerkultur: Es gibt immer noch Autofahrer:innen, die hupen, wenn Velofahrer:innen erlaubterweise an einem Rotlicht nach rechts abbiegen. Statt sich zu freuen, dass ein Hindernis weniger vor einem steht, ärgert man sich, dass der eine etwas mehr darf als man selber. Oder statt dass man Freude hat, den Fehler eines anderen vorausgesehen und einen Unfall verhindert zu haben, flucht man über den anderen. Das müssen wir ändern.
2045 wird Pro Velo St.Gallen 40 Jahre alt. Ist die Kantonshauptstadt dann eine Veloville?
Ja, das glaube ich fest. Jene, die sich in den Velosattel schwingen, und das werden immer mehr sein, spüren, wie Velofahren glücklich macht, dass sie gesünder sind und vor allem auch die Begegnungen im Alltag viel schöner sind. Das ist Lebensqualität. Das merken immer mehr Menschen, und je mehr das merken, desto mehr werden aufs Velo umsteigen.
Und wie sieht es mit der Zukunft von Pro Velo aus?
Wie alle anderen Vereine, müssen wir die Jungen nachholen. Dafür muss es gelingen, der nächsten Velogeneration zu vermitteln, dass sie ihren Lebensraum mit ihrem Engagement bei Pro Velo prägen kann. Allerdings denken die heutigen Jungen viel weniger in Verkehrskategorien. Konflikte zwischen den Verkehrsmitteln sind für diese Generation viel weniger ein Thema. Ich finde das ist ein guter Ansatz, der aber noch in der Politik ankommen muss.
Michael Städler, 1976, gehörte 2005 zu den Initiant:innen und Gründungsmitgliedern von Pro Velo St.Gallen Appenzell. Bis heute ist er im Vorstand der Organisation und beschäftigt sich mit Fragen der Veloinfrastruktur und der Planung. Seit Frühling dieses Jahres sitzt der hauptberufliche Verkehrsplaner zudem für die SP im St.Galler Stadtparlament.
2025 wird Pro Velo Schweiz 40 und Pro Velo St.Gallen-Appenzell 20 Jahre alt. Begangen werden die Jubiläen gemeinsam, und zwar am 28. November mit Jubiläumsfeier und Podium in der St.Galler Lokremise. Im Jahresprogramm von Pro Velo figurieren zudem am 8. August ein Abend im Solarkino, am 6. und 7. September die Schweizer Meisterschaften der Velokuriere und im Velopolo im St.Galler Museumsquartier sowie am 13. September der Mobilitätsmarkt im St.Galler Stadtzentrum.
