«Bei uns wird das Velo für politische Stimmungsmache missbraucht»

Hat vor 20 Jahren Pro Velo mitbegründet: Michael Städler (Bilder: Andri Vöhringer)

Pro Velo St.Gallen-Appenzell setzt sich seit 20 Jahren für die Interessen der Velofahrer:innen ein. Im Gespräch zum Jubiläum spricht Vorstandsmitglied Michael Städler über sichere Velowege, Ideologie und die eigenartiv aggressive Schweizer Fehler- und Vorwurfskultur.

Sai­ten: Man hat den Ein­druck, dass sich seit 2005 in Sa­chen Ve­lo­fah­ren viel ge­tan hat.

Mi­cha­el Städ­ler: Ja, der Ein­druck stimmt si­cher. Vie­le Ver­bes­se­run­gen konn­ten rea­li­siert wer­den. Po­si­tiv ist, dass wir mit dem Ve­lo­weg­ge­setz des Bun­des heu­te ei­nen po­li­ti­schen Auf­trag fürs Ve­lo ha­ben. Aus­ser­dem wur­den in Ab­stim­mun­gen ver­schie­de­ne Vor­la­gen, die uns hel­fen, an­ge­nom­men – et­wa das Re­gle­ment für nach­hal­ti­ge Ver­kehrs­ent­wick­lung. Da­mit be­ka­men Vel­o­an­lie­gen ei­nen hö­he­ren Stel­len­wert. Das führt da­zu, dass wir mit Be­hör­den auf Au­gen­hö­he dis­ku­tie­ren und Fach­pla­ner:in­nen un­se­re An­lie­gen ernst neh­men.

Die Ver­kehrs­de­bat­ten im St.Gal­ler Kan­tons­rat zei­gen, dass die gu­te Stim­mung fürs Ve­lo nicht über­all an­ge­kom­men ist.

Ei­ne po­si­ti­ve Ent­wick­lung stel­len wir vor al­lem in der Stadt St.Gal­len fest. Beim Kan­ton hat es Luft nach oben. Die Um­set­zung von Ve­lo­pro­jek­ten «auf dem Land» ist nicht nur ei­ne Fra­ge der Fi­nan­zen, son­dern oft auch des Know hows. Die Un­ter­stüt­zung des Kan­tons für die Ge­mein­den ist un­ge­nü­gend. Vel­o­an­lie­gen wer­den so zu oft aus­ge­bremst statt ge­för­dert.

Hat das da­mit zu tun, dass das Ve­lo als Ver­kehrs­mit­tel nicht ernst ge­nom­men wird?

Wir von Pro Ve­lo ver­ste­hen die Hal­tung bür­ger­li­cher Po­li­ti­ker:in­nen, et­wa im Kan­tons­rat, nicht. Das Ve­lo ist kein lin­kes An­lie­gen. Min­des­tens 80 Pro­zent der Ve­lo­fah­rer:in­nen fah­ren auch Au­to. An­de­re Län­der ma­chen es vor: Dort sind das Ve­lo und die Ver­kehrs­wen­de, die es brin­gen soll, kein The­ma für po­li­ti­sches Ge­zänk, son­dern mehr­heit­lich ei­ne Fra­ge des ge­mein­sa­men Auf­bruchs. Bei uns wird das Ve­lo – ge­nau wie Tem­po 30 – für po­li­ti­sche Stim­mungs­ma­che miss­braucht.

Apro­pos Ver­kehrs­wen­de: Der An­teil des Ve­los am Ge­samt­ver­kehr be­lief sich in der Stadt St.Gal­len 2021 auf ge­ra­de 7 Pro­zent. In Ba­sel wa­ren es aber 21, in Zü­rich 19,2 Pro­zent. Wir hin­ken hin­ter­her.

Und doch war bei uns der An­teil 2021 dop­pelt so hoch wie 2005. An­ge­sichts stei­gen­der Zah­len bei Ve­lo­zäh­lun­gen oder bei der Aus­las­tung der Ve­lo­par­kie­rungs­an­la­gen den­ke ich, dass in­zwi­schen noch­mals ein Sprung nach oben statt­ge­fun­den hat. Mit dem Aus­bau der In­fra­struk­tur dürf­te der Ver­kehrs­an­teil des Ve­los spä­tes­tens 2035 die 20-Pro­zent-Mar­ke kna­cken. Die durch­gän­gi­ge, si­che­re und be­que­me In­fra­struk­tur, auf die die Stadt hin­ar­bei­tet, wird vie­le um­stei­gen las­sen, die sich heu­te das Ve­lo­fah­ren nicht zu­trau­en.

Das ist jetzt Zweck­op­ti­mis­mus des Pro-Ve­lo-Ver­tre­ters.

Nein, de­fi­ni­tiv nicht. Wenn man sieht, wer täg­lich wie lan­ge auf dem Ve­lo sitzt, stellt man fest, dass sich das Ve­lo als All­tags­ver­kehrs­mit­tel eta­bliert hat. Frü­her fuhr kaum je­mand im Win­ter Ve­lo; die Zahl je­ner, die es ganz­jäh­rig nut­zen, ist stark ge­stie­gen. Das gilt auch für je­ne, die mit dem Ve­lo zum Ein­kau­fen fah­ren oder mit dem Car­go­ve­lo un­ter­wegs sind. Da hat sich et­was ver­än­dert. Wir wer­den die Ver­kehrs­wen­de schaf­fen, wenn wir den ge­sell­schaft­li­chen Rück­halt da­für ha­ben ...

... al­so in der Stadt. Aus­ser­halb ist das un­wahr­schein­lich, oder?

Das wä­re bis 2035 auch in ein­zel­nen Ag­glo­me­ra­tio­nen im Kan­ton St.Gal­len mög­lich. Ich den­ke an Buchs, wo das Ve­lo ei­nen ho­hen Ver­kehrs­an­teil hat. Da­für bräuch­te es im Kan­tons­rat aber wie­der ver­mehrt Po­li­ti­ker:in­nen, die Ver­kehrs­po­li­tik sach­ori­en­tiert und nicht ideo­lo­gisch be­trei­ben.

Wo lie­gen die Hin­der­nis­se fürs Um­stei­gen aufs Ve­lo?

Wir ha­ben 40 bis 60 Pro­zent Ver­kehrs­teil­neh­mer:in­nen, die in­ter­es­siert wä­ren, Ve­lo zu fah­ren oder öf­ter Ve­lo zu fah­ren. Da­von traut sich ein Gross­teil an­ge­sichts der Ver­kehrs­ver­hält­nis­se das Um­stei­gen nicht zu. Das ist ein Rie­sen­po­ten­zi­al in den Grup­pen von Frau­en, Ju­gend­li­chen und Men­schen mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund. Bei den Ju­gend­li­chen hängt der Ent­scheid fürs Ve­lo oft mit dem Life­style zu­sam­men. Bei den an­de­ren Grup­pen schreckt die Angst vor mög­li­chen Ge­fah­ren ab. Da ist die In­fra­struk­tur der Schlüs­sel. Das stellt man in Städ­ten fest, die schon viel fürs Ve­lo ge­tan ha­ben.

Es wird da­von ge­träumt, der Aus­bau der Ve­lo­in­fra­struk­tur ma­che die Eng­pass­be­sei­ti­gung auf der Stadt­au­to­bahn über­flüs­sig ...

... das ist kein Traum! Rund 50 Pro­zent des Ver­kehrs auf der Stadt­au­to­bahn ist Quell- und Ziel­ver­kehr in und aus der Stadt und den an­gren­zen­den Ge­mein­den. Das sind ge­nau je­ne, die oft pro­blem­los vom Au­to aufs Ve­lo oder E-Bike um­stei­gen könn­ten. Da­zu zäh­len Pend­ler:in­nen, die wäh­rend ih­res Auf­ent­halts in der Stadt mit dem Au­to in­ner­städ­tisch un­ter­wegs sind. Und für die vie­len Pend­ler:in­nen, die aus Ror­schach, Gos­sau oder He­ris­au in die Stadt fah­ren, müss­te man als An­reiz zum Um­stei­gen ver­mehrt in der Kom­bi von ÖV und Ve­lo den­ken, und im Ta­rif­ver­bund kon­kur­renz­fä­hi­ge ÖV-An­ge­bo­te schaf­fen.

Man hört oft die Kla­ge, Ve­lo­fah­rer:in­nen hiel­ten sich nicht an Re­geln.

Das Tra­gi­sche ist, dass die klei­ne Grup­pe von Ve­lo­fah­rer:in­nen, die sich nicht be­neh­men kann, stark auf­fällt und ei­nen prä­gen­den Ein­druck hin­ter­lässt. Mit den Be­geg­nungs­zo­nen hat man kla­re Re­geln für das kor­rek­te Ver­hal­ten auf zwei Rädern und auf zwei Bei­nen ge­schaf­fen. Je­ne, die sich heu­te nicht an die­se Re­geln hal­ten, ha­ben sich auch früher nicht dar­an ge­hal­ten. 

Was rich­tig ist, das Pro­blem aber nicht löst ... 

Wir als Ge­sell­schaft müssen grund­sätz­lich in ei­ne freund­li­che­re Ver­kehrs­kul­tur in­ves­tie­ren. Das ist ein Pro­zess. Da­bei müssen wir her­vor­he­ben, was gut läuft, und nicht im­mer schlech­te Bei­spie­le in den Vor­der­grund stel­len. Wir müssen das Po­si­ti­ve fördern. Das tun wir nicht, wenn wir de­nen, die sich auf dem Ve­lo an die Re­geln hal­ten, die Durch­fahrt durch die Stadt ver­weh­ren, weil ein paar we­ni­ge No­to­ri­sche sich nicht kor­rekt ver­hal­ten. 

Die Ver­bes­se­rung der Ver­kehrs­kul­tur geht weit übers Ve­lo hin­aus? 

Ja, klar. Und ein gros­ses Hin­der­nis da­bei ist, dass wir in der Schweiz ei­ne ei­gen­ar­ti­ge Feh­ler- und Vor­wurfs­kul­tur pfle­gen. Wir su­chen die Feh­ler im­mer bei den an­de­ren. Wir al­le ma­chen aber Feh­ler, und man muss den Men­schen zu­ge­ste­hen, Feh­ler ma­chen zu dürfen. Wich­tig ist, dass wir al­le aus Feh­lern ler­nen und an­de­ren ih­re Feh­ler ver­zei­hen. Em­pa­thie wäre das Schlüssel­wort für den Um­gang mit die­sem Pro­blem. 

Gibt es über­haupt die Chan­ce auf ei­ne sol­che Ve­rände­rung? 

Da ist nicht Hop­fen und Malz ver­lo­ren. Wir müssen dar­an ar­bei­ten, und zwar ge­ra­de auch in der Po­li­tik. Wir müssen wie­der auf­ein­an­der zu­ge­hen, wir müssen das Mit­ein­an­der und nicht das kom­pro­miss­lo­se Ge­gen­ein­an­der pfle­gen. Ei­ne Ur­sa­che des Ell­bögelns im All­tag liegt dar­in, dass heu­te Po­li­tik und Wirt­schaft im­mer mehr nur noch am Ell­bögeln sind und ge­sell­schaft­li­che Wer­te in den Hin­ter­grund rücken. 

Wie star­tet man so ei­nen Dis­kurs? 

Pro Ve­lo the­ma­ti­siert das in den Ve­lo­kur­sen für El­tern und Kin­der. Wenn der Nach­wuchs im Ve­lo­p­ar­cours Ge­schick­lich­keits­auf­ga­ben löst, be­spre­chen wir sol­che Fra­gen mit den Er­wach­se­nen. Et­wa auch zur Feh­ler­kul­tur: Es gibt im­mer noch Au­to­fah­rer:in­nen, die hu­pen, wenn Ve­lo­fah­rer:in­nen er­laub­ter­wei­se an ei­nem Rot­licht nach rechts ab­bie­gen. Statt sich zu freu­en, dass ein Hin­der­nis we­ni­ger vor ei­nem steht, ärgert man sich, dass der ei­ne et­was mehr darf als man sel­ber. Oder statt dass man Freu­de hat, den Feh­ler ei­nes an­de­ren vor­aus­ge­se­hen und ei­nen Un­fall ver­hin­dert zu ha­ben, flucht man über den an­de­ren. Das müssen wir ändern. 

2045 wird Pro Ve­lo St.Gal­len 40 Jah­re alt. Ist die Kan­tons­haupt­stadt dann ei­ne Velo­ville? 

Ja, das glau­be ich fest. Je­ne, die sich in den Ve­lo­sat­tel schwin­gen, und das wer­den im­mer mehr sein, spüren, wie Ve­lo­fah­ren glück­lich macht, dass sie ge­sünder sind und vor al­lem auch die Be­geg­nun­gen im All­tag viel schöner sind. Das ist Le­bens­qua­li­tät. Das mer­ken im­mer mehr Men­schen, und je mehr das mer­ken, des­to mehr wer­den aufs Ve­lo um­stei­gen. 

Und wie sieht es mit der Zu­kunft von Pro Ve­lo aus? 

Wie al­le an­de­ren Ver­ei­ne, müssen wir die Jun­gen nach­ho­len. Da­für muss es ge­lin­gen, der nächs­ten Ve­lo­ge­nera­ti­on zu ver­mit­teln, dass sie ih­ren Le­bens­raum mit ih­rem En­ga­ge­ment bei Pro Ve­lo prägen kann. Al­ler­dings den­ken die heu­ti­gen Jun­gen viel we­ni­ger in Ver­kehrs­ka­te­go­rien. Kon­flik­te zwi­schen den Ver­kehrs­mit­teln sind für die­se Ge­ne­ra­ti­on viel we­ni­ger ein The­ma. Ich fin­de das ist ein gu­ter An­satz, der aber noch in der Po­li­tik an­kom­men muss.

Mi­cha­el Städ­ler, 1976, ge­hörte 2005 zu den In­iti­ant:in­nen und Gründungs­mit­glie­dern von Pro Ve­lo St.Gal­len Ap­pen­zell. Bis heu­te ist er im Vor­stand der Or­ga­ni­sa­ti­on und be­schäftigt sich mit Fra­gen der Ve­lo­in­fra­struk­tur und der Pla­nung. Seit Frühling die­ses Jah­res sitzt der haupt­be­ruf­li­che Ver­kehrs­pla­ner zu­dem für die SP im St.Gal­ler Stadt­par­la­ment.

2025 wird Pro Ve­lo Schweiz 40 und Pro Ve­lo St.Gal­len-Ap­pen­zell 20 Jah­re alt. Be­gan­gen wer­den die Ju­bi­läen ge­mein­sam, und zwar am 28. No­vem­ber mit Ju­bi­läums­fei­er und Po­di­um in der St.Gal­ler Lok­re­mi­se. Im Jah­res­pro­gramm von Pro Ve­lo fi­gu­rie­ren zu­dem am 8. Au­gust ein Abend im So­lar­ki­no, am 6. und 7. Sep­tem­ber die Schwei­zer Meis­ter­schaf­ten der Ve­lo­ku­rie­re und im Ve­lo­po­lo im St.Gal­ler Mu­se­ums­quar­tier so­wie am 13. Sep­tem­ber der Mo­bi­li­täts­markt im St.Gal­ler Stadt­zen­trum.

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