«Der Wolf schafft Arbeitsplätze»

Die Bilder hat Daria Frick im Spätsommer auf einer Alp in St.Gallen fotografiert. 

Aline und Peter* sind Hirt:innen auf einer Alp im Kanton St.Gallen. Der Wolf hat den Beruf stark verändert. Wie und weshalb Herdenschutz ein heikles Thema ist, erklären sie im Gespräch.

Sai­ten: Seit wann seid ihr hier auf die­ser Alp?

Ali­ne: Meis­tens kom­me ich das ers­te Mal im Mai vor­bei und dann An­fang Ju­ni so rich­tig. Die Scha­fe kom­men dann Mit­te Ju­ni.

Und wie kommt ihr an Es­sen? Muss manch­mal je­mand run­ter-wan­dern?

Pe­ter: Wir ha­ben al­les hier oben. An­fang Som­mer fliegt der He­li, der muss ja auch Hun­de­fut­ter und Ma­te­ri­al hoch­brin­gen. Der fliegt auch un­ser per­sön­li­ches Zeug hoch und das Es­sen, das man la­gern kann. Schwie­ri­ger sind dann Frisch­wa­ren. Da­für ha­ben wir Freun­de und Fa­mi­lie, die uns be­su­chen und Ge­mü­se und But­ter brin­gen.

Wie wird man Hir­tin oder Hir­te?

Ali­ne: Man lernt haupt­säch­lich durch Er­fah­rung. Es gibt mitt­ler­wei­le in der Schweiz ei­ne Schaf­hirt:in­nen-Aus­bil­dung. Im Zu­sam­men­hang mit den Gross­raub­tie­ren wur­de vie­les pro­fes­sio­na­li­siert. Aber die Aus­bil­dung ist nicht zwin­gend nö­tig, wenn man auf ei­ner Scha­falp ar­bei­ten möch­te.

Pe­ter: Wenn man als völ­li­ges Green­horn kommt, dann stösst man schon an sei­ne Gren­zen. Die Ar­beit mit den Tie­ren, dem Hund, aber auch den Scha­fen braucht Zeit. Man muss sich erst ken­nen­ler­nen. Die ers­ten Mo­na­te al­lei­ne hier oben wa­ren stres­sig, zum Bei­spiel wenn ich die Scha­fe ein­fach nicht in den Pferch trei­ben konn­te und es lang­sam dun­kel wur­de.

Könnt ihr vom Hir­ten le­ben?

Ali­ne: Das ist ei­ne schwie­ri­ge Fra­ge, wir hat­ten bei­de noch an­de­re Jobs, aber der Lohn fürs Hir­ten ist sehr un­ter­schied­lich. Im Ver­gleich zu vor drei Jah­ren ist mein Lohn heu­te viel hö­her, weil die Bei­trä­ge für Her­den­schutz mas­siv hoch­ge­gan­gen sind. Es gibt aber auch Fak­to­ren wie die Grös­se der Her­de, die Er­fah­rung, die man als Hir­tin oder Hir­te hat, oder wel­che Tie­re man hü­tet. Aber die­sen Job macht man nicht we­gen des Gel­des.

Vie­le Land­wirt:in­nen sa­gen, sie könn­ten die Hirt:in­nen nicht be­zah­len, weil es we­gen des Wol­fes mehr Leu­te brau­che.

Pe­ter: Es gibt ei­nen Man­gel an Hirt:in­nen, das stimmt. Das ver­än­dert sich zur­zeit kon­ti­nu­ier­lich. Wä­ren die Bei­trä­ge hö­her, wä­re der Be­ruf si­cher at­trak­ti­ver. Es wür­de aber auch je­ne Men­schen ver­än­dern, die sich die­sen Be­ruf vor­stel­len kön­nen. Mitt­ler­wei­le gibt es viel mehr Frau­en in dem Be­ruf als frü­her. Vie­le Hirt:in­nen ha­ben be­reits ei­ne Aus­bil­dung oder ein Stu­di­um hin­ter sich. Zur­zeit ver­net­zen sie sich. Die­se Ver­än­de­run­gen ha­ben si­cher Ur­sa­chen in der Ge­sell­schaft, aber auch der Wolf trägt da­zu bei – pa­ra­do­xer­wei­se hat al­so der Wolf hier ei­nen po­si­ti­ven Ein­fluss. Der Wolf schafft Ar­beits­plät­ze.

Aber hat sich der Job per se durch den Wolf ver­än­dert?

Ali­ne: Si­cher! Das Zäu­nen, die Nacht­pfer­che, das stän­di­ge Be­hir­ten, das hat in den letz­ten Jah­ren stark zu­ge­nom­men. Die Hirt:in­nen sind viel wich­ti­ger ge­wor­den, glau­be ich. Aber ich ken­ne die Si­tua­ti­on nicht oh­ne den Wolf. Seit ich 2016 das ers­te Mal auf die­ser Alp war, wur­de Her­den­schutz so be­trie­ben, wie wir es heu­te ma­chen.

Pe­ter: Un­se­re Auf­ga­ben las­sen sich in drei Be­rei­che auf­tei­len: Her­den­schutz, al­so die Tie­re vor dem Wolf schüt­zen; Tier­ge­sund­heit, die Tie­re vor Krank­hei­ten schüt­zen oder pfle­gen; und Wei­den­ma­nage­ment, al­so schau­en, dass die Tie­re dort sind, wo sie sein soll­ten, zu fres­sen ha­ben und nicht ab­hau­en.

Was macht ihr kon­kret, um die Her­de vor dem Wolf zu schüt­zen?

Ali­ne: Un­se­re Haupt­auf­ga­be und das, was am meis­ten Auf­wand macht, aber auch am meis­ten Schutz bringt, ist das Pfer­chen in der Nacht. Je­den Abend sam­meln wir die Schäf­li ein und pfer­chen sie in we­ni­ge Flex­i­net­ze auf klei­nem Raum zu­sam­men mit den Her­den­schutz­hun­den. Die kön­nen bes­ser ar­bei­ten, wenn die Scha­fe nah bei­ein­an­der sind. Mor­gens las­sen wir sie dann wie­der raus. Bei je­dem Wet­ter. Wir zäu­nen auch sonst sehr viel und müs­sen so we­ni­ger durch­ge­hend hü­ten. Das Ge­län­de ist auch nicht so prak­tisch, um die gan­ze Zeit die Scha­fe rum­zu­trei­ben – wir bräuch­ten dann auch mehr als ei­nen Treib­hund.

Pe­ter: Wir ma­chen hier mehr, als vor­ge­schrie­ben ist. Wenn man Her­den­schutz­hun­de hat, braucht man kei­nen Pferch, da­mit die Her­de of­fi­zi­ell als ge­schützt gilt. Aber der Wolf hält sich nicht im­mer ans Re­gle­ment.

Und was macht ihr, wenn der Wolf kommt?

Ali­ne: Ver­mut­lich schla­fen. Er ist haupt­säch­lich nacht­ak­tiv. Dann hö­ren wir manch­mal, dass die Hun­de re­agie­ren. Oder der Hir­te auf der an­de­ren Sei­te des Tals er­zählt uns, dass sei­ne Hun­de in der Nacht ge­bellt ha­ben, dann wis­sen wir, dass ver­mut­lich ein Wolf da war.

Pe­ter: Er kommt bei Nacht oder bei Ne­bel und Schlecht­wet­ter – Wolfs­wet­ter. Es ist je­weils gut zu wis­sen, dass er da war und wir kei­ne Ris­se hat­ten. Das heisst, wir ma­chen un­se­ren Job gut. Es geht beim Her­den­schutz nicht dar­um, zu war­ten, bis der Wolf an­greift, und dann zu re­agie­ren – dann ist es zu spät. Wir müs­sen ihm ei­nen Schritt vor­aus sein. Der Wolf geht den Weg des ge­rings­ten Wi­der­stands. Wenn flä­chen­de­ckend gu­ter Her­den­schutz be­trie­ben wür­de, wür­de sich der Wolf auf das Wild be­schrän­ken. Und das wä­re das Ziel.

Al­so seid ihr nicht be­waff­net oder so?

Ali­ne: Nein.

Pe­ter: Wir dürf­ten den Wolf ja auch nicht schies­sen. Ich wür­de ihn lie­ber fo­to­gra­fie­ren. Mir wur­de aber schon das ei­ne oder an­de­re Ge­wehr an­ge­bo­ten, mit Be­loh­nung, wenn ich es be­nut­ze. Es wä­re im Üb­ri­gen auch nicht leicht, ei­nen Wolf zu fin­den, ich ha­be noch nie ei­nen ge­se­hen.

Es scheint, als sei die De­bat­te um den Wolf auch hier oben eher hit­zig?

Ali­ne: Wenn wir Men­schen be­geg­nen, möch­ten sie wis­sen, wie es für uns ist mit dem Wolf. Ich den­ke, oft wol­len sie hö­ren, dass es schlimm sei.

Pe­ter: Vie­le be­rich­ten von ih­ren ei­ge­nen Er­fah­run­gen hier in der Um­ge­bung und die sind eben eher ne­ga­tiv ge­prägt. Wenn man dann vor­sich­tig er­wähnt, dass hier der Her­den­schutz funk­tio­niert, wol­len das die Leu­te gar nicht hö­ren.

Wenn ihr al­so sagt, dass der Her­den­schutz funk­tio­niert, macht ihr euch kei­ne Freun­de?

Pe­ter: Da sind schon Be­den­ken, dass wir auf ei­ner an­de­ren Alp kei­ne An­stel­lung mehr fin­den, wenn wir uns öf­fent­lich äus­sern. Ei­ni­ge Bau­ern und ein Teil der länd­li­chen Be­völ­ke­rung wol­len das nicht hö­ren. Sie sind der Mei­nung, dass der Her­den­schutz nicht funk­tio­niert. Wenn man das Ge­gen­teil sagt, wird man so­fort im an­de­ren La­ger ge­se­hen. Da­bei se­he ich mich auch nicht dort. Über­haupt möch­te ich mich gar nicht po­si­tio­nie­ren. Ich bin viel­mehr in­ter­es­siert dar­an, wirk­lich gu­te Lö­sun­gen zu fin­den, als ra­di­kal und blind ei­ne Mei­nung zu ver­tre­ten. Die Schweiz muss po­li­tisch und ge­sell­schaft­lich ei­nen Kom­pro­miss fin­den.

Ali­ne: Der Wolf soll­te die­sel­be Exis­tenz­be­rech­ti­gung ha­ben wie al­le an­de­ren Le­be­we­sen auch.

Pe­ter: Dann tei­len wir uns halt den Le­bens­raum. Es kom­men vie­le be­rech­tig­te In­ter­es­sen zu­sam­men: von der Land­wirt­schaft über den Na­tur­schutz bis zum Tou­ris­mus.

Hät­tet ihr die Kon­se­quen­zen zu tra­gen, wenn der Wolf ein Schaf reisst un­ter eue­rer Auf­sicht?

Ali­ne: Nein. Aber klar, das ist im­mer ein Ri­si­ko. Wir kön­nen nie das gan­ze Ge­biet gleich­zei­tig über­bli­cken. Na­tür­lich lau­fen wir al­les ab, da­mit wir al­le Schäf­li er­wi­schen, aber es kann im­mer sein, dass wir ei­nes nicht fin­den. Wenn et­was pas­siert, über­legt man sich, was man hät­te bes­ser oder an­ders ma­chen kön­nen.

Pe­ter: Es geht viel­leicht eher um ei­ne Art Hir­ten­eh­re, um ei­ne mo­ra­li­sche Schuld – nicht nur dem Bau­ern ge­gen­über, son­dern auch dem Schaf. In an­de­ren Be­ru­fen hat man auch Ver­ant­wor­tung, oh­ne dass man pri­vat für Re­sul­ta­te haf­tet. Wir ha­ben den An­spruch, die­se Ar­beit gut zu ma­chen. Un­se­ren Er­folg mes­sen wir dar­an, mög­lichst vie­le Tie­re ge­sund vom Berg zu brin­gen. Ver­lus­te hat man im­mer, je­des Jahr.

Wo­durch?

Ali­ne: Stein­schlag, Ab­stür­ze oder Krank­hei­ten. Un­ge­fähr zwei bis fünf Pro­zent der Tie­re ster­ben pro Alp­som­mer, das ist nor­mal.

Pe­ter: Auch im Tal ster­ben Scha­fe durch Krank­heit oder an­de­res.

Pe­ter, du hast den Tou­ris­mus vor­hin als In­ter­es­sen­be­reich an­ge­spro­chen. Wes­halb?

Pe­ter: Manch­mal mi­schen sich Alp­wei­den mit Wan­der­ge­bie­ten. Da sind angst­ein­flös­sen­de Her­den­schutz­hun­de nicht will­kom­men. Hin­zu kommt, dass Tou­rist:in­nen oft nicht wis­sen, wie sie sich ver­hal­ten sol­len ge­gen­über den Her­den­schutz­hun­den (sie­he da­zu die Emp­feh­lun­gen in der In­fo­box). De­ren Auf­ga­be ist es hin­ge­gen, al­le Ein­dring­lin­ge an­zu­bel­len.

Ali­ne: Sie wur­den mit den Scha­fen auf­ge­zo­gen, ihr Job ist es, sie zu schüt­zen. Sie kön­nen zwar un­ter­schei­den zwi­schen Mensch und Wolf, aber wenn man quer durch die Her­de geht, ren­nen gros­se Hun­de bel­lend auf ei­nen zu, das macht Angst. Wenn Wan­dern­de falsch re­agie­ren, ma­chen sie die Hun­de zu­sätz­lich ner­vös.

Pe­ter: Her­den­schutz be­deu­tet oft auch Sen­si­bi­li­sie­rung von Men­schen. Das ist ein Teil un­se­rer Ar­beit, auch das Re­agie­ren, wenn je­mand von den Hun­den be­drängt wird. Vie­le Si­tua­tio­nen mit Bi­ker:in­nen oder Hun­den sind noch schlim­mer. Aber man kann ja nicht gan­ze Ge­bie­te sper­ren. Städ­ter:in­nen wün­schen sich ei­ne in­tak­te Um­welt mit Platz für den Wolf. Wie weit sind sie aber be­reit, sel­ber Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen, in­dem sie bei­spiels­wei­se grös­se­re Um­we­ge um Her­den ma­chen? Die Hun­de der Tou­rist:in­nen auf den Wan­der­we­gen zu ver­bie­ten, gä­be auch ei­nen Auf­schrei. Das ist schon viel Kon­flikt­po­ten­zi­al. Oder Po­ten­zi­al für ei­ne ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lung, wie man bes­ser zu­sam­men­le­ben kann.

Was ist das Schöns­te an eu­rem Be­ruf?

Pe­ter: Man ist draus­sen.

Ali­ne: Die Ver­bin­dung mit der Na­tur und dem Le­bens­kreis­lauf. Es ist sehr in­ten­siv.

Pe­ter: Es ist sehr un­mit­tel­bar, was wir ma­chen. Wenn wir ei­nen Feh­ler ma­chen, ha­ben wir di­rekt die Quit­tung. Ge­nau­so, wenn wir et­was gut ma­chen.

Ali­ne: Das macht den Be­ruf sehr at­trak­tiv, aber man muss auch da­mit le­ben kön­nen, fal­sche Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Ein Schaf stirbt, weil man es falsch be­han­delt hat, oder man schickt den Hund falsch und ein Schaf stürzt ab. Da­mit muss man um­ge­hen kön­nen.

Ali­ne, 37, ist die Ru­he in Per­son, geht schon seit vie­len Jah­ren z’Alp und schätzt die Ge­räusch­ku­lis­se der Ber­ge.

Pe­ter, 38, ehe­mals im Ge­sund­heits­we­sen tä­tig, stellt vie­les in­fra­ge, in­ter­es­siert sich für nach­hal­ti­ge, sinn­vol­le und ge­sun­de Le­bens­wei­sen.

*Ali­ne und Pe­ter möch­ten auf­grund der auf­ge­la­de­nen De­bat­te nur mit Vor­na­men er­wähnt wer­den.

Verhaltensregeln beim Wandern

Die Auf­ga­be der Her­den­schutz­hun­de ist es, Ein­dring­lin­ge von der Her­de fern­zu­hal­ten. Da­her sind ge­wis­se Grund­re­geln nö­tig, da­mit die Be­geg­nun­gen mit Her­den­schutz­hun­den si­cher sind: 

– Ru­hig blei­ben 

– War­ten, bis der Hund ru­hig ist 

– Lang­sam um die Her­de her­um ge­hen 

– Für Moun­tain­bi­ker:in­nen: ab­stei­gen und schie­ben 

–  Für Hun­de­hal­ter:in­nen: Be­geg­nun­gen mit Her­den­schutz­hun­den am bes­ten ver­mei­den.

– Falls un­um­gäng­lich: Hund an die Lei­ne

pro­na­tu­ra.ch/de/2015/si­che­re-be­geg­nun­gen-mit-her­den­schutz­hun­den


Ver­hal­tens­re­geln für Be­geg­nun­gen mit dem Wolf:

Ru­hig blei­ben, sich gross ma­chen und be­stimmt auf sich auf­merk­sam ma­chen 

– In die Hän­de klat­schen oder laut ru­fen 

–  Lang­sam rück­wärts ge­hen, oh­ne den Wolf aus den Au­gen zu ver­lie­ren 

–  Nie­mals ren­nen! Der Jagd­in­stinkt der Tie­re wird durch Weg­ren­nen ge­trig­gert 

– Hun­de an die Lei­ne neh­men und nah bei sich hal­ten

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