Wandermenagerien, fahrbare Kleinzoos mit Tieren aus aller Welt, gastierten im St.Gallen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig. Die Textil- und Handelsstadt mit wichtigen Zentrumsfunktionen war eine lohnende Station auf dem Tourneeplan. Standort waren meist der Frühlings- und der Herbstjahrmarkt. Bei der Bevölkerung waren diese Vorläufer von Zoo und Zirkus mit ihrer Mischung aus Entertainment und Belehrung sehr populär. Ihre Geschichte ist für St.Gallen trotzdem kaum aufgearbeitet, im Gegensatz zu den Völkerschauen, Shows mit «exotischen» Menschen, die ebenfalls oft in St.Gallen Station machten und heute sehr kritisch beurteilt werden.
Warum die Menagerien bis jetzt so wenig interessieren – darüber lässt sich nur spekulieren. Dasselbe gilt für die Geschichte der Tiere und der Mensch-Tier-Beziehung in St.Gallen. Auch zu ihr wird praktisch nicht publiziert und referiert.
Die Frage nach dem Tierwohl als dunkler Schatten
Spannend genug wäre das Thema allemal. Bei diesen Menagerien lokalisieren sich beispielsweise wichtige historische Entwicklungen in der Massenunterhaltung, im Tierhandel oder im Umgang mit einer sich globalisierenden Welt. Über dem Ganzen liegt allerdings auch ein Schatten: die Frage nach dem Tierwohl. War dieses Leben für die Tiere nicht trist, machte es sie nicht krank? Die engen Käfige, die ständigen Transporte, die vielen Besucher:innen, die wechselnden Wetterlagen – man muss davon ausgehen, dass sie vielen Tieren zusetzten. Krankheiten, Verletzungen und Todesfälle waren nicht selten.
Andererseits gab es sicher Tiere, die mit dieser Menagerie-Existenz besser zurechtkamen. Und natürlich spielte auch eine Rolle, wie eine Menagerie geführt wurde. Hier gab es Diskrepanzen. In der damaligen Lokalpresse war dies immer wieder ein Thema. So schreibt das «St.Galler Tagblatt» vom 17. Oktober 1853 über die Menagerie Kreutzberg: «Nirgend tritt das ausgehungerte, käfig-abgetriebene Wesen, welches gar oft in kleineren Menagerien die Lust am Anschauen mindert, dem Naturfreunde entgegen. Alle Tiere sind kräftig, wohlgenährt und zeugen von sorgfältiger Pflege. Möchte man vielleicht mancher der eingesperrten Bestien eine etwas grössere Zelle wünschen, um ihre freiere Bewegung ungestört beobachten zu können, so begreift man jedoch auch, dass die ohnehin bedeutende Bagage dieses Etablissements das Reisen mit derselben schon genugsam erschweren mag.»
Unterschiede gab es auch bei den Nummern, die mit den Tieren einstudiert wurden. Am 27. Oktober 1886 etwa lobte der «St.Galler Stadtanzeiger» die Menagerie Kleeberg: «Die Tierbändiger treten den Tieren kühn, aber ohne überflüssige Strenge gegenüber und wollen nicht auf Kosten der Tiere glänzen.» Kommentare zu den Zuständen in den Menagerien findet man in der Tagespresse öfters. Kritisiert wurden auch die «Marktschreierei» und «Effekthascherei» gewisser Menagerien. Eine grundsätzliche Kritik fehlt aber in den bekannten Quellen. Nahe kommt ihr einzig ein Bericht, den die «Ostschweiz» am 23. Oktober 1884 abdruckte: «In der Menagerie lassen sich natürlich die Tiere nicht so unterbringen, dass sie sich auch nur einigermassen daheim fühlen, wie z.B. in Tiergärten, und können die Käfige den Gewohnheiten, Eigentümlichkeiten und der Lebensweise der meisten Tiere nicht entsprechen, so dass die Tiernatur an solchen Zellengefangenen kaum studiert werden kann. Auch die Dressur zeigt eigentlich nur, wie weit weg von ihren natürlichen Gewohnheiten und zu welcher Verleugnung der angeborenen Eigenschaften der Mensch selbst die Unvernünftigen bringt.»
Heute würde man sagen: Die Tiere können in einer solchen Menagerie kein artgerechtes Leben führen.
Praktisch inexistent sind auch Quellen, die explizit die Perspektive der Menagerie-Tiere einnehmen. Zu den raren Belegen gehört ein Satz aus dem Jahresbericht 1878/79 der St.Gallischen Naturwissen-schaftlichen Gesellschaft. Bernhard Wartmann, Direktor des Naturmuseums St.Gallen, schreibt: «Wer behaglich vor einem Menageriekäfig steht, der ahnt wahrhaftig nicht, was die eingesperrten Tiere und deren Bezwinger über ihre Schicksale zu erzählen wüssten.»
Berichtet werden dafür Episoden wie jene im «St.Galler Stadtanzeiger» vom 1. Juni 1886: Ein junger Elefant der Menagerie Böhme erhält vom Wirt des «Franziskaner» eine scherzhafte Einladung zum Frühschoppen. Die Menagerie nimmt sie an, eine Angestellte erscheint mit dem Tier, dem darauf Bier und Kartoffelsalat aufgetischt werden. Am Nachmittag büxt der Elefant in der Menagerie aus und erscheint wieder im «Franziskaner». Er will einen Vesperimbiss und erhält ihn auch. Wie würde sich diese Episode aus Sicht des Elefanten präsentieren, innerhalb seines Menagerielebens?
Eine Inszenierung der Dominanz Europas über die Welt
Dass die Menagerien auffällige Analogien zu den Völkerschauen hatten, wurde schon angetönt. Es gab sogar Völkerschauen, bei denen sich diese Aspekte überschnitten, etwa bei «Gebrüder Hagenbecks Indienschau», die 1905 in St.Gallen gastierte. Hier wurden die präsentierten Menschen – gewollt oder ungewollt – in die Nähe des Tierischen gerückt. Wie die Völkerschauen inszenierten die Menagerien die Dominanz Europas über die Welt: Die europäische Zivilisation stehe an der Spitze der Menschheitsentwicklung. Die Menagerien inventarisierten, ordneten und erklärten die gewaltige Fülle der Tierwelt, sie zähmten «wilde Bestien», zivilisierten sie, ähnlich wie indigene Ethnien.
Ein eindrücklicher Beleg dafür ist die beliebte Nummer des «Afrikanischen Gastmahls»: Der Tierbändiger speiste mit ausgewählten Raubtieren am Tisch, etwa Hyäne, Panther und Leopard. Die Tiere sassen auf Stühlen, hatten die Vorderpfosten auf dem Tisch und leerten ihre Teller. Der Dompteur hatte sie nicht nur gezähmt, er hatte sie «zivilisiert». In St.Gallen konnte man ein «Afrikanisches Gastmahl» etwa auf dem Herbstjahrmarkt 1853 bestaunen, präsentiert von der Menagerie Kreutzberg. Es ist paradox: Das Tier faszinierte vor allem in den Extremen, entweder als «wilde Bestie» oder als möglichst an die «zivilisierte» Welt der Menschen herangerückt. Der Dompteur oder die Dompteurin – auch sie gab es – ergänzte damit die Arbeit der Kolonialbeamten, Kolonialsoldaten und Missionare. Sie holten auch die Tiere in die europäische «Zivilisation», stellten sie dort auf einen klar definierten Platz.
Und ein letzter wichtiger Punkt: Wie die Völkerschau-Menschen stammten die Menagerie-Tiere vielfach direkt aus einem kolonialen Kontext. Ihre Bestände in den Herkunftsländern litten oft – sei es durch intensive Bejagung, sei es durch die Schädigung ihrer Lebenswelt. Unbekannt war das in St.Gallen nicht. Belege dafür gibt es in der damaligen Tagespresse.
Von echtem Interesse bis zu herablassendem Dünkel
Das führt zu einer weiteren wichtigen Frage: Warum waren diese Menagerien in St.Gallen so populär? Konkrete Belege, etwas Tagebuchnotizen, fehlen. Allgemein kann man formulieren: Das Wissen um ferne, exotische Lebenswelten erweiterte sich auch in St.Gallen im 19. Jahrhundert laufend. Das Meiste davon war allerdings medial vermittelt. Ferien und gar Fernreisen waren für die meisten noch in weiter Ferne. Die Menagerien und die Völkerschauen auf dem Jahrmarkt schienen konkrete Fenster in fremde Welten zu öffnen.
Wie bei den Völkerschauen dürfte der Umgang mit den fremden Welten unterschiedlich gewesen sein. Die Palette reichte von echtem Interesse bis zu herablassendem Dünkel oder zumindest zu einem wohltuenden Überlegenheitsgefühl, wie es in der absolutistischen königlichen Menagerie im Jardin de Plantes in Paris präsent gewesen war: Die Erdteile erwiesen den Besucher:innen mit einer Auswahl besonderer Tiere ihre Huldigung. Oft vermischten sich die Sichtweisen auf die Menagerie-Tiere wohl – wie das auch heute der Fall ist. Überlegenheitsgefühl, Interesse, Faszination und Mitgefühl waren gleichzeitig präsent.
Auch ausserhalb der Jahrmarktzeit unterwegs
Ganz wichtig war sicher der reine Unterhaltungswert der Menagerien für Menschen aller Altersstufen. In den Lokalzeitungen zeigte sich dies auch ausserhalb der Jahrmarktszeit. Es gab dort immer wieder Meldungen von einer Menagerie, die irgendwo in Europa unterwegs war: Ein Dompteur wurde von einem seiner Tiere angefallen, ein Eisenbahnwagen mit Menagerie-Tieren verunfallte, ein Tier riss aus – Geschichten solcher Art. Der Dompteur und noch mehr die Dompteurin waren zudem populäre Held:innenfiguren, aufgeladen mit allerlei Klischees, und nicht ohne Momente von Erotik und Sexualität. Das «St.Galler Tagblatt» schlug am 22. Oktober 1853 sogar einen überraschenden Bogen ins Appenzellerland: «Im nächsten Augenblick sieht man Hrn. Kreutzberg in aufgestreiften Hemdärmeln, lächelnden Blickes in der Zelle des Löwenpaares oder des Bastardes erscheinen, unbesorgt, wie der Senn in seinen Stall zu den Haustieren tritt.»
Noch aufregender wurde es, wenn der Dompteur sogar aus der Ostschweiz stammte. Das bekannteste Beispiel ist Emil Schläpfer (1859-1887) aus Rehetobel, der einen Teil seiner Jugend im Waisenhaus in St.Gallen verbracht hatte. Seine erfolgversprechende Karriere endete allerdings abrupt: Mit 28 Jahren wurde er beim Training von seinen vier Löwenmännchen schwer verletzt und starb an den Folgen dieser Verletzungen.
Streufunde zeigen zudem, dass die Menagerien auch in der Alltagskommunikation präsent waren, als kritisches, satirisches Spiegelbild für uns Menschen. «Was musste der Zuschauer denken, wenn er aufrichtig sein wollte, wenn er sah, wie grosse Tiere den kleinen ihr Portiönchen egoistisch vor der Nase wegschnappten?», fragte zum Beispiel der «St.Galler Stadtanzeiger» am 31. Oktober 1886. «Er konnte den Grund wohl einsehen, warum der Mensch auch zu den Säugetieren gezählt wird, weil eben Einer den andern aussaugt.»