Die vergessene Welt der Jahrmarkt-Tiere

Ein Zeitungsinserat der Menagerie Böhme von 1886. (Bild: Sammlung Peter Müller) 

Heute beginnt die Olma. Zum Jahrmarkt gehörten im 19. und frühen 20. Jahrhundert immer auch Menagerien mit Tieren aus aller Welt. Ein Blick in die Geschichte der Menagerien in St.Gallen.

Wan­der­me­na­ge­ri­en, fahr­ba­re Klein­zoos mit Tie­ren aus al­ler Welt, gas­tier­ten im St.Gal­len des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts häu­fig. Die Tex­til- und Han­dels­stadt mit wich­ti­gen Zen­trums­funk­tio­nen war ei­ne loh­nen­de Sta­ti­on auf dem Tour­nee­plan. Stand­ort wa­ren meist der Früh­lings- und der Herbst­jahr­markt. Bei der Be­völ­ke­rung wa­ren die­se Vor­läu­fer von Zoo und Zir­kus mit ih­rer Mi­schung aus En­ter­tain­ment und Be­leh­rung sehr po­pu­lär. Ih­re Ge­schich­te ist für St.Gal­len trotz­dem kaum auf­ge­ar­bei­tet, im Ge­gen­satz zu den Völ­ker­schau­en, Shows mit «exo­ti­schen» Men­schen, die eben­falls oft in St.Gal­len Sta­ti­on mach­ten und heu­te sehr kri­tisch be­ur­teilt wer­den. 

War­um die Me­na­ge­ri­en bis jetzt so we­nig in­ter­es­sie­ren – dar­über lässt sich nur spe­ku­lie­ren. Das­sel­be gilt für die Ge­schich­te der Tie­re und der Mensch-Tier-Be­zie­hung in St.Gal­len. Auch zu ihr wird prak­tisch nicht pu­bli­ziert und re­fe­riert.

Die Fra­ge nach dem Tier­wohl als dunk­ler Schat­ten

Span­nend ge­nug wä­re das The­ma al­le­mal. Bei die­sen Me­na­ge­ri­en lo­ka­li­sie­ren sich bei­spiels­wei­se wich­ti­ge his­to­ri­sche Ent­wick­lun­gen in der Mas­sen­un­ter­hal­tung, im Tier­han­del oder im Um­gang mit ei­ner sich glo­ba­li­sie­ren­den Welt. Über dem Gan­zen liegt al­ler­dings auch ein Schat­ten: die Fra­ge nach dem Tier­wohl. War die­ses Le­ben für die Tie­re nicht trist, mach­te es sie nicht krank? Die en­gen Kä­fi­ge, die stän­di­gen Trans­por­te, die vie­len Be­su­cher:in­nen, die wech­seln­den Wet­ter­la­gen – man muss da­von aus­ge­hen, dass sie vie­len Tie­ren zu­setz­ten. Krank­hei­ten, Ver­let­zun­gen und To­des­fäl­le wa­ren nicht sel­ten. 

An­de­rer­seits gab es si­cher Tie­re, die mit die­ser Me­na­ge­rie-Exis­tenz bes­ser zu­recht­ka­men. Und na­tür­lich spiel­te auch ei­ne Rol­le, wie ei­ne Me­na­ge­rie ge­führt wur­de. Hier gab es Dis­kre­pan­zen. In der da­ma­li­gen Lo­kal­pres­se war dies im­mer wie­der ein The­ma. So schreibt das «St.Gal­ler Tag­blatt» vom 17. Ok­to­ber 1853 über die Me­na­ge­rie Kreutz­berg: «Nir­gend tritt das aus­ge­hun­ger­te, kä­fig-ab­ge­trie­be­ne We­sen, wel­ches gar oft in klei­ne­ren Me­na­ge­ri­en die Lust am An­schau­en min­dert, dem Na­tur­freun­de ent­ge­gen. Al­le Tie­re sind kräf­tig, wohl­ge­nährt und zeu­gen von sorg­fäl­ti­ger Pfle­ge. Möch­te man viel­leicht man­cher der ein­ge­sperr­ten Bes­ti­en ei­ne et­was grös­se­re Zel­le wün­schen, um ih­re freie­re Be­we­gung un­ge­stört be­ob­ach­ten zu kön­nen, so be­greift man je­doch auch, dass die oh­ne­hin be­deu­ten­de Ba­ga­ge die­ses Eta­blis­se­ments das Rei­sen mit der­sel­ben schon ge­nug­sam er­schwe­ren mag.» 

Un­ter­schie­de gab es auch bei den Num­mern, die mit den Tie­ren ein­stu­diert wur­den. Am 27. Ok­to­ber 1886 et­wa lob­te der «St.Gal­ler Stadt­an­zei­ger» die Me­na­ge­rie Klee­berg: «Die Tier­bän­di­ger tre­ten den Tie­ren kühn, aber oh­ne über­flüs­si­ge Stren­ge ge­gen­über und wol­len nicht auf Kos­ten der Tie­re glän­zen.» Kom­men­ta­re zu den Zu­stän­den in den Me­na­ge­ri­en fin­det man in der Ta­ges­pres­se öf­ters. Kri­ti­siert wur­den auch die «Markt­schreie­rei» und «Ef­fekt­ha­sche­rei» ge­wis­ser Me­na­ge­ri­en. Ei­ne grund­sätz­li­che Kri­tik fehlt aber in den be­kann­ten Quel­len. Na­he kommt ihr ein­zig ein Be­richt, den die «Ost­schweiz» am 23. Ok­to­ber 1884 ab­druck­te: «In der Me­na­ge­rie las­sen sich na­tür­lich die Tie­re nicht so un­ter­brin­gen, dass sie sich auch nur ei­ni­ger­mas­sen da­heim füh­len, wie z.B. in Tier­gär­ten, und kön­nen die Kä­fi­ge den Ge­wohn­hei­ten, Ei­gen­tüm­lich­kei­ten und der Le­bens­wei­se der meis­ten Tie­re nicht ent­spre­chen, so dass die Tier­na­tur an sol­chen Zel­len­ge­fan­ge­nen kaum stu­diert wer­den kann. Auch die Dres­sur zeigt ei­gent­lich nur, wie weit weg von ih­ren na­tür­li­chen Ge­wohn­hei­ten und zu wel­cher Ver­leug­nung der an­ge­bo­re­nen Ei­gen­schaf­ten der Mensch selbst die Un­ver­nünf­ti­gen bringt.» 

Heu­te wür­de man sa­gen: Die Tie­re kön­nen in ei­ner sol­chen Me­na­ge­rie kein art­ge­rech­tes Le­ben füh­ren. 

Prak­tisch in­exis­tent sind auch Quel­len, die ex­pli­zit die Per­spek­ti­ve der Me­na­ge­rie-Tie­re ein­neh­men. Zu den ra­ren Be­le­gen ge­hört ein Satz aus dem Jah­res­be­richt 1878/79 der St.Gal­li­schen Na­tur­wis­sen-schaft­li­chen Ge­sell­schaft. Bern­hard Wart­mann, Di­rek­tor des Na­tur­mu­se­ums St.Gal­len, schreibt: «Wer be­hag­lich vor ei­nem Me­na­ge­rie­kä­fig steht, der ahnt wahr­haf­tig nicht, was die ein­ge­sperr­ten Tie­re und de­ren Be­zwin­ger über ih­re Schick­sa­le zu er­zäh­len wüss­ten.» 

Be­rich­tet wer­den da­für Epi­so­den wie je­ne im «St.Gal­ler Stadt­an­zei­ger» vom 1. Ju­ni 1886: Ein jun­ger Ele­fant der Me­na­ge­rie Böh­me er­hält vom Wirt des «Fran­zis­ka­ner» ei­ne scherz­haf­te Ein­la­dung zum Früh­schop­pen. Die Me­na­ge­rie nimmt sie an, ei­ne An­ge­stell­te er­scheint mit dem Tier, dem dar­auf Bier und Kar­tof­fel­sa­lat auf­ge­tischt wer­den. Am Nach­mit­tag büxt der Ele­fant in der Me­na­ge­rie aus und er­scheint wie­der im «Fran­zis­ka­ner». Er will ei­nen Ves­pe­r­im­biss und er­hält ihn auch. Wie wür­de sich die­se Epi­so­de aus Sicht des Ele­fan­ten prä­sen­tie­ren, in­ner­halb sei­nes Me­na­ge­rie­le­bens?

Ei­ne In­sze­nie­rung der Do­mi­nanz Eu­ro­pas über die Welt 

Dass die Me­na­ge­ri­en auf­fäl­li­ge Ana­lo­gien zu den Völ­ker­schau­en hat­ten, wur­de schon an­ge­tönt. Es gab so­gar Völ­ker­schau­en, bei de­nen sich die­se Aspek­te über­schnit­ten, et­wa bei «Ge­brü­der Ha­gen­becks In­dien­schau», die 1905 in St.Gal­len gas­tier­te. Hier wur­den die prä­sen­tier­ten Men­schen – ge­wollt oder un­ge­wollt – in die Nä­he des Tie­ri­schen ge­rückt. Wie die Völ­ker­schau­en in­sze­nier­ten die Me­na­ge­ri­en die Do­mi­nanz Eu­ro­pas über die Welt: Die eu­ro­päi­sche Zi­vi­li­sa­ti­on ste­he an der Spit­ze der Mensch­heits­ent­wick­lung. Die Me­na­ge­ri­en in­ven­ta­ri­sier­ten, ord­ne­ten und er­klär­ten die ge­wal­ti­ge Fül­le der Tier­welt, sie zähm­ten «wil­de Bes­ti­en», zi­vi­li­sier­ten sie, ähn­lich wie in­di­ge­ne Eth­ni­en. 

Ein ein­drück­li­cher Be­leg da­für ist die be­lieb­te Num­mer des «Afri­ka­ni­schen Gast­mahls»: Der Tier­bän­di­ger speis­te mit aus­ge­wähl­ten Raub­tie­ren am Tisch, et­wa Hyä­ne, Pan­ther und Leo­pard. Die Tie­re sas­sen auf Stüh­len, hat­ten die Vor­der­pfos­ten auf dem Tisch und leer­ten ih­re Tel­ler. Der Domp­teur hat­te sie nicht nur ge­zähmt, er hat­te sie «zi­vi­li­siert». In St.Gal­len konn­te man ein «Afri­ka­ni­sches Gast­mahl» et­wa auf dem Herbst­jahr­markt 1853 be­stau­nen, prä­sen­tiert von der Me­na­ge­rie Kreutz­berg. Es ist pa­ra­dox: Das Tier fas­zi­nier­te vor al­lem in den Ex­tre­men, ent­we­der als «wil­de Bes­tie» oder als mög­lichst an die «zi­vi­li­sier­te» Welt der Men­schen her­an­ge­rückt. Der Domp­teur oder die Domp­teu­rin – auch sie gab es – er­gänz­te da­mit die Ar­beit der Ko­lo­ni­al­be­am­ten, Ko­lo­ni­al­sol­da­ten und Mis­sio­na­re. Sie hol­ten auch die Tie­re in die eu­ro­päi­sche «Zi­vi­li­sa­ti­on», stell­ten sie dort auf ei­nen klar de­fi­nier­ten Platz. 

Und ein letz­ter wich­ti­ger Punkt: Wie die Völ­ker­schau-Men­schen stamm­ten die Me­na­ge­rie-Tie­re viel­fach di­rekt aus ei­nem ko­lo­nia­len Kon­text. Ih­re Be­stän­de in den Her­kunfts­län­dern lit­ten oft – sei es durch in­ten­si­ve Be­ja­gung, sei es durch die Schä­di­gung ih­rer Le­bens­welt. Un­be­kannt war das in St.Gal­len nicht. Be­le­ge da­für gibt es in der da­ma­li­gen Ta­ges­pres­se.

 Von ech­tem In­ter­es­se bis zu her­ab­las­sen­dem Dün­kel 

Das führt zu ei­ner wei­te­ren wich­ti­gen Fra­ge: War­um wa­ren die­se Me­na­ge­ri­en in St.Gal­len so po­pu­lär? Kon­kre­te Be­le­ge, et­was Ta­ge­buch­no­ti­zen, feh­len. All­ge­mein kann man for­mu­lie­ren: Das Wis­sen um fer­ne, exo­ti­sche Le­bens­wel­ten er­wei­ter­te sich auch in St.Gal­len im 19. Jahr­hun­dert lau­fend. Das Meis­te da­von war al­ler­dings me­di­al ver­mit­telt. Fe­ri­en und gar Fern­rei­sen wa­ren für die meis­ten noch in wei­ter Fer­ne. Die Me­na­ge­ri­en und die Völ­ker­schau­en auf dem Jahr­markt schie­nen kon­kre­te Fens­ter in frem­de Wel­ten zu öff­nen. 

Wie bei den Völ­ker­schau­en dürf­te der Um­gang mit den frem­den Wel­ten un­ter­schied­lich ge­we­sen sein. Die Pa­let­te reich­te von ech­tem In­ter­es­se bis zu her­ab­las­sen­dem Dün­kel oder zu­min­dest zu ei­nem wohl­tu­en­den Über­le­gen­heits­ge­fühl, wie es in der ab­so­lu­tis­ti­schen kö­nig­li­chen Me­na­ge­rie im Jar­din de Plan­tes in Pa­ris prä­sent ge­we­sen war: Die Erd­tei­le er­wie­sen den Be­su­cher:in­nen mit ei­ner Aus­wahl be­son­de­rer Tie­re ih­re Hul­di­gung. Oft ver­misch­ten sich die Sicht­wei­sen auf die Me­na­ge­rie-Tie­re wohl – wie das auch heu­te der Fall ist. Über­le­gen­heits­ge­fühl, In­ter­es­se, Fas­zi­na­ti­on und Mit­ge­fühl wa­ren gleich­zei­tig prä­sent. 

Auch aus­ser­halb der Jahr­markt­zeit un­ter­wegs 

Ganz wich­tig war si­cher der rei­ne Un­ter­hal­tungs­wert der Me­na­ge­ri­en für Men­schen al­ler Al­ters­stu­fen. In den Lo­kal­zei­tun­gen zeig­te sich dies auch aus­ser­halb der Jahr­marktszeit. Es gab dort im­mer wie­der Mel­dun­gen von ei­ner Me­na­ge­rie, die ir­gend­wo in Eu­ro­pa un­ter­wegs war: Ein Domp­teur wur­de von ei­nem sei­ner Tie­re an­ge­fal­len, ein Ei­sen­bahn­wa­gen mit Me­na­ge­rie-Tie­ren ver­un­fall­te, ein Tier riss aus – Ge­schich­ten sol­cher Art. Der Domp­teur und noch mehr die Domp­teu­rin wa­ren zu­dem po­pu­lä­re Held:in­nen­fi­gu­ren, auf­ge­la­den mit al­ler­lei Kli­schees, und nicht oh­ne Mo­men­te von Ero­tik und Se­xua­li­tät. Das «St.Gal­ler Tag­blatt» schlug am 22. Ok­to­ber 1853 so­gar ei­nen über­ra­schen­den Bo­gen ins Ap­pen­zel­ler­land: «Im nächs­ten Au­gen­blick sieht man Hrn. Kreutz­berg in auf­ge­streif­ten Hemd­är­meln, lä­cheln­den Bli­ckes in der Zel­le des Lö­wen­paa­res oder des Bas­tar­des er­schei­nen, un­be­sorgt, wie der Senn in sei­nen Stall zu den Haus­tie­ren tritt.» 

Noch auf­re­gen­der wur­de es, wenn der Domp­teur so­gar aus der Ost­schweiz stamm­te. Das be­kann­tes­te Bei­spiel ist Emil Schl­äp­fer (1859-1887) aus Re­he­to­bel, der ei­nen Teil sei­ner Ju­gend im Wai­sen­haus in St.Gal­len ver­bracht hat­te. Sei­ne er­folg­ver­spre­chen­de Kar­rie­re en­de­te al­ler­dings ab­rupt: Mit 28 Jah­ren wur­de er beim Trai­ning von sei­nen vier Lö­wen­männ­chen schwer ver­letzt und starb an den Fol­gen die­ser Ver­let­zun­gen. 

Streu­fun­de zei­gen zu­dem, dass die Me­na­ge­ri­en auch in der All­tags­kom­mu­ni­ka­ti­on prä­sent wa­ren, als kri­ti­sches, sa­ti­ri­sches Spie­gel­bild für uns Men­schen. «Was muss­te der Zu­schau­er den­ken, wenn er auf­rich­tig sein woll­te, wenn er sah, wie gros­se Tie­re den klei­nen ihr Por­ti­ön­chen ego­is­tisch vor der Na­se weg­schnapp­ten?», frag­te zum Bei­spiel der «St.Gal­ler Stadt­an­zei­ger» am 31. Ok­to­ber 1886. «Er konn­te den Grund wohl ein­se­hen, war­um der Mensch auch zu den Säu­ge­tie­ren ge­zählt wird, weil eben Ei­ner den an­dern aus­saugt.»

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