Im dunklen Zentrum

Dorothee Elmiger lässt in ihrem vierten Roman Die Holländerinnen einen Erzähldschungel wuchern, in den man sich als Leser unrettbar glücklich verstrickt. Das Buch ist nominiert für den Deutschen Buchpreis.

(Bild: pd/Georg Gatsas)

Ir­gend­wann im letz­ten Drit­tel des Ro­mans ahnt die Er­zäh­le­rin, «dass es hier kei­ne Poin­te ge­ben, dass die Ge­schich­te auf kei­ne Auf­lö­sung, kein En­de zu­lau­fen wür­de». So kommt es denn auch, und wir sind nicht über­rascht, die An­zei­chen wa­ren schon früh da, die Be­fürch­tung, «man ver­lie­re sich im Lauf die­ser licht­lo­sen Lee­re, in der sich al­les auf ein nur noch dunk­les Zen­trum zu­be­we­ge». Und die Au­torin wä­re nicht Do­ro­thee El­mi­ger, wenn sie es sich und uns mit ei­ner ir­gend­wie ge­ar­te­ten Auf­lö­sung ein­fach ma­chen wür­de. Nicht ein­mal in ei­nem «Kri­mi», wie es ein­mal im Buch heisst. 

Tat­säch­lich sind die Hol­län­de­rin­nen, die dem vier­ten Ro­man der aus In­ner­rho­den stam­men­den, seit ei­ni­ger Zeit in den USA le­ben­den Au­torin den Ti­tel ge­ben, ein cold ca­se: Vor zehn Jah­ren sind die zwei jun­gen Frau­en im süd­ame­ri­ka­ni­schen Dschun­gel ver­schol­len. Ein be­kann­ter Thea­ter­ma­cher, Ver­fech­ter ei­nes, wie es die Au­torin nennt, «hyp­no­ti­schen Rea­lis­mus» à la Mi­lo Rau, will dem Fall vor Ort nach­ge­hen und lädt die Er­zäh­le­rin ein, als ei­ne Art Pro­to­kol­lan­tin an der Ex­pe­di­ti­on teil­zu­neh­men. 

Sie sagt zu, reist mit Flug­zeug, Bus und Boot an den men­schen- und gott­ver­las­se­nen Treff­punkt im Dschun­gel, zu­sam­men mit ei­ner Hand­voll an­de­rer Teil­neh­mer:in­nen. Und stellt rasch fest, dass die Din­ge sich hier, im «Herz der Fins­ter­nis», nicht zu­sam­men­fü­gen, son­dern im­mer mehr aus dem Ru­der lau­fen.

Wu­chern­de Be­dro­hung

In so gran­dio­sen wie ver­stö­ren­den Bil­dern fängt der Ro­man die At­mo­sphä­re der wach­sen­den Be­dro­hung ein. In Fet­zen tau­chen Do­ku­men­te aus den letz­ten Ta­gen der Hol­län­de­rin­nen auf, rät­sel­haft nacht­dunk­le Fo­tos, «kri­ti­sche Nacht­bil­der» ge­nannt, oder ei­ne ab­bre­chen­de Ton­auf­nah­me. Sie über­la­gern sich mit den Er­leb­nis­sen der Thea­ter­grup­pe. Un­fäl­le pas­sie­ren, die No­ti­zen der Er­zäh­le­rin wischt der tro­pi­sche Re­gen weg, un­heim­li­che Ge­räu­sche ver­schre­cken Au­torin und Le­ser. In ei­ner be­klem­men­den Apo­theo­se macht sich die Grup­pe schliess­lich auf die Spur der Ver­schol­le­nen im zu­neh­mend weg­lo­sen Dschun­gel.

El­mi­ger bleibt zwar an der Chro­no­lo­gie der Er­eig­nis­se dran, bricht sie aber auf mit stän­dig neu­en Er­zäh­lun­gen und Er­zähl­an­läu­fen. Auf den tro­pisch ver­schlun­ge­nen We­gen oder beim Nacht­la­ger no­tiert die Er­zäh­le­rin, was an­de­re ihr be­rich­ten, Angst- und Schuld­ge­schich­ten, An­ek­do­ten aus drit­ter Hand oder Bruch­stü­cke aus Bü­chern, in de­ren un­ab­läs­sig la­by­rin­thi­schen Ver­schlau­fun­gen sich die Er­fah­rung ver­dich­tet, dass sich die Welt nur noch in Split­tern und «blitz­haf­ten» Sze­nen, wenn über­haupt, fas­sen lässt.

Un­ter den Epi­so­den, die al­le­samt die schlech­test­mög­li­che Wen­dung neh­men, ist die «Zie­gen­ge­schich­te» be­son­ders ver­stö­rend. Ei­ne Mit­rei­sen­de, die «Schwei­ze­rin» ge­nannt, er­zählt: Sie ha­be es vor ei­ni­ger Zeit über­nom­men, auf ei­nem Hof im Rhein­tal die Zie­gen­her­de ei­nes Be­kann­ten für ein paar Wo­chen zu hü­ten. Was sich lo­cker an­lässt, wird zur Apo­ka­lyp­se, als ei­ne Zie­ge nach der an­de­ren ein to­tes oder nicht le­bens­fä­hi­ges Kitz ge­bärt. Die jun­ge Frau ge­rät in ein «höl­li­sches Spek­ta­kel», das un­er­klärt bleibt. Aber les­bar ist als Sinn­bild ei­ner Na­tur, die in die­sem Ro­man auf al­len Ebe­nen aus dem Lot ge­ra­ten ist.

«Fast aus­ser­ir­disch»

In der Rah­men­hand­lung hält die Er­zäh­le­rin ein Se­mi­nar an ei­ner ame­ri­ka­ni­schen Uni, wo sie über ihr Schrei­ben und ih­re Poe­to­lo­gie be­rich­ten soll. Statt­des­sen er­klärt sie ein­lei­tend, wie sich ihr «ei­gent­li­ches» Schrei­ben auf­ge­löst ha­be, ihr gan­zes Schaf­fen im Dschun­gel ei­nen Pro­zess der Frag­men­tie­rung durch­ge­macht ha­be, der es ihr un­mög­lich ma­che, ei­ne Theo­rie ih­res Schaf­fens vor­zu­le­gen, son­dern höchs­tens ei­ne Theo­rie der Auf­lö­sung, des Ab­bre­chens, des Aus­ein­an­der­fal­lens, im Grun­de al­ler­dings letzt­lich über­haupt kei­ne Theo­rie. 

Als kon­se­quen­te Fol­ge die­ser Er­zäh­le­rin­nen-Pre­spek­ti­ve ist der gan­ze Ro­man in in­di­rek­ter Re­de ver­fasst. Das er­zeugt beim Le­sen pa­ra­do­xer­wei­se so­wohl ei­ne Di­stan­zie­rung als auch ei­nen nar­ra­ti­ven Sog, als zö­ge ei­nen der er­zähl­te Dschun­gel mit je­der Sei­te mehr in sei­ne Lia­nen-Um­ar­mun­gen und sei­ne sint­flut­ar­ti­gen Wol­ken­brü­che her­ein. Und las­se nicht mehr los.

El­mi­gers vier­ter Ro­man ist ein klu­ges, la­by­rin­thi­sches, ver­track­tes Le­se­aben­teu­er. Dass man mit ihm an kein En­de kommt, ver­bin­det uns Le­sen­den mit dem Schick­sal der Teil­neh­mer:in­nen der Ex­pe­di­ti­on – «je län­ger sie ge­gan­gen sei­en, des­to mehr hät­ten sie se­hen kön­nen, des­to mehr hät­ten sie be­grif­fen, und doch sei ih­nen al­les noch im­mer un­le­ser­lich, fast aus­ser­ir­disch vor­ge­kom­men.» 

Das klingt wie ein spä­tes Echo auf Hof­mannst­hals Brief des Lord Chan­dos, dem Do­ku­ment ei­ner Sprach- und Ge­sell­schafts­kri­se an der vor­letz­ten Jahr­hun­dert­wen­de: Ihm faul­ten die Wor­te im Mund wie mod­ri­ge Pil­ze, «al­les zer­fiel in Tei­le, die Tei­le wie­der in Tei­le, und nichts mehr liess sich mit ei­nem Be­griff um­span­nen». 

Kei­ne Auf­lö­sung, kein si­che­rer Be­griff in Sicht – das sei, wie die Er­zäh­le­rin in ih­rer Vor­le­sung fest­hält, «im Licht der ge­gen­wär­ti­gen Ver­hält­nis­se» auch ein­leuch­tend, «Ver­hält­nis­se, die frag­los und im viel­fa­chen Sinn schlecht, ja töd­lich sei­en». El­mi­gers Er­zähl-Dschun­gel ist das Por­trät ei­ner aus­weg­lo­sen Ge­gen­wart.

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen, Hanser Verlag 2025

Buchvernissage: 1. Oktober, Literaturhaus St.Gallen

ARTK CT4 9783446282988 0001
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