marce norbert hörler bewegt sich an den Schwellen zwischen Körper und Sprache, zwischen alpiner Folklore und queerer Zukunft. 1989 in Appenzell geboren und in Gonten aufgewachsen, war hörlers Kindheit von einer ländlichen Umgebung geprägt, in der Kultur abseits institutioneller Strukturen gelebt wurde. Diese Sozialisierung fliesst in hörlers künstlerische Arbeit ein: Auch folkloristische Formen der Region wie das Rugguseli (Jodel) oder die Appenzeller Tracht werden mitunter durch queere Elemente neu verflochten. Besonders interessieren hörler dabei Zwischenräume: «Zwischen dem Gelebten und dem Spekulativen öffnet sich ein Schwellenraum. Dort ordnen magische Formeln oder wortlose Gesänge die zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten neu.»
Schon früh zeigte sich bei hörler ein Drang in zwei Richtungen: zu Sprachen und zur Kunst. Sei dies im Theater, im Chor oder in musikalischen Ensembles, die hörler bereits während der Schulzeit in Appenzell besuchte. Dieser Weg führte zunächst zum Studium von Sprachen und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Es folgten ein Bachelor in bildender Kunst in Basel sowie zwei prägende Auslandsemester in Warschau. Ein Master am Dutch Art Institute in Arnhem rundete die akademische Ausbildung ab, bevor hörler kurz vor Beginn der Corona-Pandemie nach Berlin kam. «Die Pandemiemassnahmen sowie die Notwendigkeit, Lohnarbeit zu leisten, liessen mir zu Beginn meiner Zeit in Berlin aber nur wenig Raum, mich intensiv der Kunst zu widmen.»
Aneignung als künstlerisches Verfahren
Nach der Pandemie veränderte sich einiges: Für spell for *bluescht, eine multisensorische Performance aus Duft, Gesang, Rezitation und Bewegung, kehrte hörler 2021 ins Kunstmuseum Appenzell zurück. 2022 erhielt hörler einen Lehrauftrag an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle und war 2023 für das Vordemberge-Gildewart-Stipendium nominiert. Zu diesem Anlass zeigte hörler die Arbeit hecatean lines im Kunstmuseum Appenzell. Residenzen in Armenien, Georgien, China und zuletzt Litauen erweiterten hörlers künstlerisches Spektrum um neue geografische und politische Perspektiven.
Bereits während des Studiums fand hörler Inspiration in queeren Theorien, etwa in jenen des kubanisch-amerikanischen Kunsthistorikers José Esteban Muñoz. Der darin vermittelte Ansatz wurde für hörler zu einem «Sinnmachungswerkzeug» und zu einem Mittel der Übersetzung zwischen Körper, Umwelt und Kultur: «Muñoz beschreibt Queerness als einen Horizont des Möglichen, als etwas, das noch nicht hier ist, aber bereits spürbar wird. Meine Arbeit versucht, solche Momente des Zukünftigen in ihrer Flüchtigkeit im Jetzt erfahrbar zu machen.»
Immer wieder tauchen bei hörler flüchtige, schwer fassbare Elemente auf: Geruch, Stimme und Bewegung. Oft erscheinen sie wie Referenzen, die durch verschiedene Medien wandern: ein Motiv im Text, das in der Ausstellung als Duft wiederkehrt oder als Textfragment von der Wand, auf der es geschrieben steht, ins Performative übergeht. Viele Werke existieren nur im Moment, verschwinden wieder und hinterlassen höchstens Fragmente oder Erinnerungen. Dieses Spiel von Resonanzen, Übersetzungen und Neupositionierungen ist Teil einer «World making»-Strategie, die gemäss hörler dominante Narrative hinterfragt und alternative Ordnungen erprobt.
Die Schrägheit des Blicks
Für die Einzelausstellung «slant», die hörler im Rahmen der Auszeichnung mit dem auf 15’000 Franken dotierten Manorkunstpreis im Kunstmuseum St.Gallen umsetzt, ist eine raumgreifende Inszenierung vorgesehen, die die Architektur des Museums neu erfahrbar macht. Die grosse Säulenhalle und der angrenzende Raum in der unteren Etage werden dabei nicht einfach bespielt, sondern transformiert: Die Besucher:innen sind gefragt, sich ihren Weg durch den Raum zu erschliessen, sich gewissermassen selbst darin zu positionieren, während transparente Stoffe und räumlich verschobene Elemente die Wahrnehmung subtil verändern. Hinzu kommen olfaktorische Ergänzungen, für die hörler das Molekül Hedion, einen natürlichen Bestandteil des Jasminöls, ausgewählt hat.
«slant» stellt die «Schrägheit des Blicks» in den Mittelpunkt, in Anlehnung an Sara Ahmeds «Queer Phenomenology». «slant» wird dabei als Gegenentwurf zu verinnerlichten heteronormativen Einstellungen und Sichtweisen verstanden und drückt das Bedürfnis aus, diese neu auszurichten. Die Ausstellung ist zudem stark performativ angelegt: Die eigens entwickelte Performance reading a room as a body verhandelt Fragen von Räumlichkeit, Architektur, persönlichem Affekt und spekulativen Möglichkeiten.
«slant»: 1. November bis 3. Mai 2026, Kunstmuseum St.Gallen.
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