Kunst als kontinuierliche Neuverortung

Als St.Galler Manorkunstpreisträger:in 2025 verwandelt marce norbert hörler flüchtige Erfahrungen in vielschichtige Wahrnehmungsräume. Mit «slant», der Einzelausstellung im Kunstmuseum St.Gallen, manifestiert sich eine künstlerische Praxis, die beständig nach neuen Formen der Orientierung sucht.

marce norbert hörler. (Bild: Ladina Bischof)

mar­ce nor­bert hör­ler be­wegt sich an den Schwel­len zwi­schen Kör­per und Spra­che, zwi­schen al­pi­ner Folk­lo­re und quee­rer Zu­kunft. 1989 in Ap­pen­zell ge­bo­ren und in Gon­ten auf­ge­wach­sen, war hör­lers Kind­heit von ei­ner länd­li­chen Um­ge­bung ge­prägt, in der Kul­tur ab­seits in­sti­tu­tio­nel­ler Struk­tu­ren ge­lebt wur­de. Die­se So­zia­li­sie­rung fliesst in hör­lers künst­le­ri­sche Ar­beit ein: Auch folk­lo­ris­ti­sche For­men der Re­gi­on wie das Rug­gu­s­e­li (Jo­del) oder die Ap­pen­zel­ler Tracht wer­den mit­un­ter durch que­e­re Ele­men­te neu ver­floch­ten. Be­son­ders in­ter­es­sie­ren hör­ler da­bei Zwi­schen­räu­me: «Zwi­schen dem Ge­leb­ten und dem Spe­ku­la­ti­ven öff­net sich ein Schwel­len­raum. Dort ord­nen ma­gi­sche For­meln oder wort­lo­se Ge­sän­ge die zeit­li­chen und räum­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten neu.»

Schon früh zeig­te sich bei hör­ler ein Drang in zwei Rich­tun­gen: zu Spra­chen und zur Kunst. Sei dies im Thea­ter, im Chor oder in mu­si­ka­li­schen En­sem­bles, die hör­ler be­reits wäh­rend der Schul­zeit in Ap­pen­zell be­such­te. Die­ser Weg führ­te zu­nächst zum Stu­di­um von Spra­chen und Kunst­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Zü­rich. Es folg­ten ein Ba­che­lor in bil­den­der Kunst in Ba­sel so­wie zwei prä­gen­de Aus­land­se­mes­ter in War­schau. Ein Mas­ter am Dutch Art In­sti­tu­te in Arn­hem run­de­te die aka­de­mi­sche Aus­bil­dung ab, be­vor hör­ler kurz vor Be­ginn der Co­ro­na-Pan­de­mie nach Ber­lin kam. «Die Pan­de­mie­mass­nah­men so­wie die Not­wen­dig­keit, Lohn­ar­beit zu leis­ten, lies­sen mir zu Be­ginn mei­ner Zeit in Ber­lin aber nur we­nig Raum, mich in­ten­siv der Kunst zu wid­men.»

An­eig­nung als künst­le­ri­sches Ver­fah­ren 

Nach der Pan­de­mie ver­än­der­te sich ei­ni­ges: Für spell for *bluescht, ei­ne mul­ti­sen­so­ri­sche Per­for­mance aus Duft, Ge­sang, Re­zi­ta­ti­on und Be­we­gung, kehr­te hör­ler 2021 ins Kunst­mu­se­um Ap­pen­zell zu­rück. 2022 er­hielt hör­ler ei­nen Lehr­auf­trag an der Burg Gie­bi­chen­stein Kunst­hoch­schu­le Hal­le und war 2023 für das Vor­dem­ber­ge-Gil­de­wart-Sti­pen­di­um no­mi­niert. Zu die­sem An­lass zeig­te hör­ler die Ar­beit he­ca­te­an li­nes im Kunst­mu­se­um Ap­pen­zell. Re­si­den­zen in Ar­me­ni­en, Ge­or­gi­en, Chi­na und zu­letzt Li­tau­en er­wei­ter­ten hör­lers künst­le­ri­sches Spek­trum um neue geo­gra­fi­sche und po­li­ti­sche Per­spek­ti­ven.

Be­reits wäh­rend des Stu­di­ums fand hör­ler In­spi­ra­ti­on in quee­ren Theo­rien, et­wa in je­nen des ku­ba­nisch-ame­ri­ka­ni­schen Kunst­his­to­ri­kers Jo­sé Es­te­ban Mu­ñoz. Der dar­in ver­mit­tel­te An­satz wur­de für hör­ler zu ei­nem «Sinn­ma­chungs­werk­zeug» und zu ei­nem Mit­tel der Über­set­zung zwi­schen Kör­per, Um­welt und Kul­tur: «Mu­ñoz be­schreibt Que­er­ness als ei­nen Ho­ri­zont des Mög­li­chen, als et­was, das noch nicht hier ist, aber be­reits spür­bar wird. Mei­ne Ar­beit ver­sucht, sol­che Mo­men­te des Zu­künf­ti­gen in ih­rer Flüch­tig­keit im Jetzt er­fahr­bar zu ma­chen.»

Im­mer wie­der tau­chen bei hör­ler flüch­ti­ge, schwer fass­ba­re Ele­men­te auf: Ge­ruch, Stim­me und Be­we­gung. Oft er­schei­nen sie wie Re­fe­ren­zen, die durch ver­schie­de­ne Me­di­en wan­dern: ein Mo­tiv im Text, das in der Aus­stel­lung als Duft wie­der­kehrt oder als Text­frag­ment von der Wand, auf der es ge­schrie­ben steht, ins Per­for­ma­ti­ve über­geht. Vie­le Wer­ke exis­tie­ren nur im Mo­ment, ver­schwin­den wie­der und hin­ter­las­sen höchs­tens Frag­men­te oder Er­in­ne­run­gen. Die­ses Spiel von Re­so­nan­zen, Über­set­zun­gen und Neu­po­si­tio­nie­run­gen ist Teil ei­ner «World ma­king»-Stra­te­gie, die ge­mäss hör­ler do­mi­nan­te Nar­ra­ti­ve hin­ter­fragt und al­ter­na­ti­ve Ord­nun­gen er­probt.

Die Schräg­heit des Blicks 

Für die Ein­zel­aus­stel­lung «slant», die hör­ler im Rah­men der Aus­zeich­nung mit dem auf 15’000 Fran­ken do­tier­ten Man­or­kunst­preis im Kunst­mu­se­um St.Gal­len um­setzt, ist ei­ne raum­grei­fen­de In­sze­nie­rung vor­ge­se­hen, die die Ar­chi­tek­tur des Mu­se­ums neu er­fahr­bar macht. Die gros­se Säu­len­hal­le und der an­gren­zen­de Raum in der un­te­ren Eta­ge wer­den da­bei nicht ein­fach be­spielt, son­dern trans­for­miert: Die Be­su­cher:in­nen sind ge­fragt, sich ih­ren Weg durch den Raum zu er­schlies­sen, sich ge­wis­ser­mas­sen selbst dar­in zu po­si­tio­nie­ren, wäh­rend trans­pa­ren­te Stof­fe und räum­lich ver­scho­be­ne Ele­men­te die Wahr­neh­mung sub­til ver­än­dern. Hin­zu kom­men olfak­to­ri­sche Er­gän­zun­gen, für die hör­ler das Mo­le­kül He­di­on, ei­nen na­tür­li­chen Be­stand­teil des Jas­min­öls, aus­ge­wählt hat.

«slant» stellt die «Schräg­heit des Blicks» in den Mit­tel­punkt, in An­leh­nung an Sa­ra Ah­meds «Que­er Phe­no­me­no­lo­gy». «slant» wird da­bei als Ge­gen­ent­wurf zu ver­in­ner­lich­ten he­te­ro­nor­ma­ti­ven Ein­stel­lun­gen und Sicht­wei­sen ver­stan­den und drückt das Be­dürf­nis aus, die­se neu aus­zu­rich­ten. Die Aus­stel­lung ist zu­dem stark per­for­ma­tiv an­ge­legt: Die ei­gens ent­wi­ckel­te Per­for­mance re­a­ding a room as a bo­dy ver­han­delt Fra­gen von Räum­lich­keit, Ar­chi­tek­tur, per­sön­li­chem Af­fekt und spe­ku­la­ti­ven Mög­lich­kei­ten.


«slant»: 1. No­vem­ber bis 3. Mai 2026, Kunst­mu­se­um St.Gal­len.
kunst­mu­se­umsg.ch

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