Wer den ersten Raum im Kunstmuseum Appenzell betritt, könnte im ersten Moment meinen, in einem archäologischen Museum gelandet zu sein. An der Wand hängen Wasserspeiher und Keramikmasken, die an Funde aus einer Epoche aus vorchristlicher Zeit erinnern. Bei genauerem Hinschauen wird klar: Die Objekte haben keine Risse und die Glasuren glänzen wie frisch aus dem Brennofen. Es sind Keramikkunstwerke von Shahpour Pouyan und Martin Chramosta. Sie sind zwei der insgesamt 13 internationalen Künstler:innen, die in der Ausstellung «Klang der Erde / Keramik in der zeitgenössischen Kunst» ihre Werke zeigen. Sie alle setzen Keramik als zentrales künstlerisches Medium ein. Es ist die erste Ausstellung in der Schweiz, die sich mit aktueller Kunst aus Keramik auseinandersetzt.
Jeder der insgesamt elf Räume widmet sich einer anderen Thematik, wo sich Werke von verschiedenen Künstler:innen gegenüberstehen. Im zweiten Raum ist die Architektur im Fokus, beispielsweise mit einem Werk aus der Reihe false ruins and lost innocence von Isa Melsheimer. Es zeigt einen Rohbau von Le Corbusier mit einem grossen Pferdekopf in der Mitte, der mehrere Stockwerke einnimmt und dessen Maul aus dem Gebäude herausragt. Ein makaberes Bild, dass an die ikonische Szene in Der Pate erinnert, als der aufstrebende Sänger Johnny Fontane den Kopf seines Rennpferds in seinem Bett findet. Im Raum liegen ausserdem zwei Walherzen, ebenfalls von Melsheimer, die die blutige und architektonische Sprache des Pferdekopfs weiterführen und ein Labyrinth von Venen und Arterien zeigen. Für solche Konstruktionen arbeitet die Künstlerin mit Stützen, damit die Hohlräume vor dem Brennen nicht in sich zusammenfallen.
Was Keramik alles kann
Die Künstler:innen arbeiten mit unterschiedlichen Techniken, die teilweise aus der traditionellen japanischen Porzellanherstellung stammen. Zudem kommen verschiedene Materialien wie Terrakotta und flüssige Industriekeramik zum Einsatz. Auch die Farben sind eine Wissenschaft für sich, da sie vor dem Brennen oft nicht sichtbar sind. Die Grenze zwischen Handwerk und Kunst lösen sich in der Ausstellung auf. Das zeigen auch die Kunstwerke von Paloma Proudfoot. Im fünften Raum hängt das Relief Gardening. Es zeigt sechs Frauen, die stereotypisierten Tätigkeiten wie Nähen oder Bügeln nachgehen. Das Werk veranschaulicht eindrücklich, dass Keramik teilweise auch wie Textil, Glas, Metall oder Kunststoff aussehen kann.
In den übrigen Räumen werden Themen wie Natur, Humor, Lyrik oder Geometrie verhandelt. Ins Auge stechen unter anderem die verwesten Objekte von Lindsey Mendick. Eine von Spinnen übersäte Handtasche, Frösche mit Zigaretten im Mund, die auf leeren Bierdosen klettern, und eine Vase, aus der Penisse wachsen und Hände kriechen, zeigen Keramik in einer grotesken und wimmelbildartigen Form.

Lindsey Mendick Wasted (2023) (Bild: pd/Courtesy of the artist and Carl Freedman Gallery)
Man kommt zum Schluss: Die Keramik wird unterschätzt. Seit einigen Jahren erfährt sie jedoch ein Revival und findet zunehmend auch auf internationaler Ebene Beachtung – jüngst etwa in der Hayward Gallery in London oder im Musée d'Art Moderne in Paris. Es ist ein Material, dass erst im Feuer seine vollkommene Form findet. Bei Temperaturen, bei denen Stahl weich wird.
Wo früher Feuer war
Ortswechsel: Ein paar hundert Meter weiter glühte einst Keramik, die auf Appenzeller Dächern verbaut wurde. Die Kunsthalle Ziegelhütte zeigt in der Ausstellung «Roman Signer, Filme» über 130 Filme des Aktionskünstlers. Im ganzen Haus, unter anderem in den Tunnels des alten Rundbrennofens, lassen sich die Super-8-Filme des Künstlers anschauen. Zu sehen sind Klassiker wie Wettlauf mit der Rakete, Tisch mit Ballonen oder Fensterladen mit Raketen. Es sind flüchtige Momente, in denen Naturkräfte wie Feuer, Wasser oder die Schwerkraft ihre Wirkung an Alltagsgegenständen entfalten. Stets mit einem Plan setzt Signer sie miteinander in Verbindung und provoziert sowohl lausbübische Explosionen als auch überraschende Verpuffungen.

Roman Signer, Bürostuhl (2006) (Bild: pd/Tomasz Rogowiec)
Aufgewachsen in Appenzell, gleich an der Sitter, führte der heute 87-Jährige schon früh Experimente durch, die er rückblickend als «künstlerische Übungen» bezeichnet. Die Sitter ist eine wichtige Protagonistin in vielen seiner Filme und durchquert auch seinen jetzigen Wohnort St.Gallen. Bei seinem Umzug 1989 zog er eine über 20 Kilometer lange Zündschnur von Appenzell nach St.Gallen. Sie führte den Bahngleisen entlang und explodierte alle 100 Meter. Der Film dazu ist im ersten Stock der Kunsthalle zu sehen.
Neue Sprachen finden
Als 1975 der Filmemacher Hartmut Kaminski Signers Skulptur Grosser Tropfen filmte, entdeckte der Künstler den Super-8-Film. Die kleinen Kassetten waren perfekt für seine kurzen und oft tonlosen Filmprojekte, die danach folgten. Er fand eine Kommunikationsmethode, die seine oft sehr kurzlebigen Skulpturen und Installationen in eine neue Sprache übersetzten und sie für viele Menschen zugänglich machten. Das Flimmern, die warmen Farben und die körnigen Bilder schufen eine neue Ästhetik, die inzwischen auch Nostalgie auslöst.
Im obersten Raum sind zum ersten Mal alle 20 Filme des Werks Gebärdensprache zu sehen. Signer liess ausgewählte Filme von Gebärdensprachdolmetscher:innen übersetzen, was den Aktionen eine neue visuelle Ebene eröffnet. Es ist eine weitere Fortentwicklung seiner Arbeit, die seine teils fast 50 Jahre alten Filme gut altern lässt.
Anlässlich der Ausstellung erscheint ein vollständiges Werkverzeichnis der Super-8-Filme mit Texten von Roman Signer, Stefanie Gschwend (Direktorin Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell) und Stephan Kunz (Direktor Bündner Kunstmuseum). Gemeinsam mit Felicity Lunn kuratierte Gschwend die Keramikausstellung im Kunstmuseum. Laut ihr ist es kein Zufall, dass zwei vollkommen unterschiedliche Ausstellungen im selben Zeitraum stattfinden: Zwei diametral verschiedene Projekte machen den Besuch spannender und zeigen die Vielfalt des künstlerischen Schaffens.
«Klang der Erde – Keramik in der zeitgenössischen Kunst»: bis 14. September, Kunstmuseum Appenzell.
saiten.ch/kalender
Roman Signer – «Filme»: bis 14. September, Kunsthalle Appenzell.
saiten.ch/kalender