, 12. November 2014
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Lehrplan 21: Planmässig trotz Widerstand

Die St.Galler Regierung will den Lehrplan 21 wie vorgesehen ab 2015 einführen. Die Initiative der rechtskonservativen Gegner ändere daran nichts, sagt Bildungschef Stefan Kölliker.

Die Tonalität war unüberhörbar: Verteidigung und Angriff zugleich. Dem Lehrplan 21 weht politischer Gegenwind entgegen – der St.Galler Regierungsrat Stefan Kölliker reagierte darauf an einer Medienkonferenz am Mittwoch mit der Sprache des Marketings: «Der Lehrplan 21 ist ein sehr gutes Produkt.» An seiner Seite bestätigten Vertreter der Schulträger (Verbandspräsident Thomas Rüegg), der Lehrerschaft (KLV-Präsident Hansjörg Bauer) und der Pädagogischen Hochschule (Dozent Thomas Birri) die breite Zustimmung der Fachleute zum LP 21.

«Weder dick noch teuer»

Was der LP 21 nach Köllikers Worten ist – beziehungsweise was er nicht ist:

  • Der LP 21 gebe Antwort auf die komplexer gewordene Welt, für deren Anforderungen der heute geltende Lehrplan 97 nicht mehr zeitgemäss sei. Eine Revolution bedeute er aber nicht, vielmehr die Weiterentwicklung von der einstigen Stoff- über die heutige Lernziel- bis zur künftigen (und heute schon weitherum praktizierten) Kompetenzorientierung, erläuterte PH-Dozent Birri. Viel gelernt werde weiterhin, denn: «Es gibt keine Kompetenzen ohne Wissen und Können.»
  • Der LP 21 sei seit 2009 breit abgestützt und zusammen mit St.Galler Schulpraktikern erarbeitet worden und nicht «abgeschottet und praxisfern» entstanden. Der Plan schaffe für die Lehrerinnen und Lehrer «Sicherheit und Klarheit», fügte Lehrervertreter Bauer hinzu – und lasse ihnen dennoch Methodenfreiheit.
  • Der LP 21 ist nicht umfangreicher als der heute geltende Lehrplan – was Kölliker mit den beiden Plänen in der Hand auch gleich demonstrierte. 470 Seiten (statt bisher 516) für 11 Schuljahre: Damit sei der Lehrplan kein Monster, sondern eine handliche Unterrichtsgrundlage und Leitlinie für neue Lehrmittel, ergänzte Schulträger-Präsident Rüegg.
  • Der LP 21 harmonisiert zwar den Schulbetrieb überkantonal – er lasse aber den Kantonen genügend Spielraum für ihre Eigenheiten. Und er komme, mit der halben Million Franken, welche St.Gallen dazu beisteure, entscheidend billiger, als wenn der Kanton auf eigene Faust einen neuen Lehrplan entwickeln müsste.

Aus all den Gründen hält die Regierung am vorgesehenen Zeitplan fest: Im Januar 2015 berät der Erziehungsrat in erster Lesung, danach gibt es eine Vernehmlassung u.a. zu den Lektionentafeln, im Mai und Juni soll ihn der Erziehungsrat erlassen und die Regierung genehmigen, danach wird er schrittweise bis 2017/18 eingeführt – bei 93 Schulträgern und rund 6000 Lehrpersonen im ganzen Kanton «eine logistische und inhaltliche Herausforderung».

Initiative verhindert LP 21 nicht

Noch härter dürfte die politische Herausforderung werden – auf verschiedenen Ebenen. Zum einen wird im Thurgau und in St.Gallen gefordert, dass künftig die Kantonsparlamente und nicht mehr der Erziehungsrat für die Lehrpläne zuständig sein sollen. Für Kölliker keine gute Idee – in 14 Tagen entscheidet der St.Galler Kantonsrat darüber.

Zum andern laufen insbesondere rechtskonservative Kreise gegen den LP 21 grundsätzlich Sturm. Sie sammeln unter dem Titel «Starke Volksschule St.Gallen – ohne Lehrplan 21» seit dem 4. November Unterschriften für eine Initiative. Diese fordert den Ausstieg St.Gallens aus dem Harmos-Konkordat. Eine solche Initiative hätte jedoch, im Widerspruch zu ihrem Titel, keinen direkten Einfluss auf den LP 21, sagte Kölliker. Sollte es zu einem Ausstieg kommen, so könnte der Kanton den neuen Lehrplan gleichwohl einführen.

Auch die Diskussion um eine oder zwei Fremdsprachen in den Primarschulen solle nicht mit der Debatte um den Lehrplan 21 verknüpft werden, hiess es an der Medienkonferenz. Harmos erkläre zwar die umstrittene Fremdsprachenregelung für verbindlich – würde sich aber der Widerstand gegen das Frühfranzösische durchsetzen, so müsste man den LP 21 halt anpassen.

Achtung: Indoktrinierung?

Differenziert diskutieren statt Schwarz-weiss-Malen: Das war die Botschaft an der Medienkonferenz. Von den Gegnern ist solches allerdings kaum zu erwarten – ihr Argumentarium gegen den LP 21 greift ins Volle. «Massiver Bildungsabbau» oder «dramatische Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit» werden an die Wand gemalt – die Schimpfwörter heissen «Indoktrinierung», «Ideologisierung» und «Genderisierung» der Schule. Der Lehrplan greife die «natürliche Geschlechterordnung und die Familien» an, die Schweiz und ihre Institutionen würden in Frage gestellt und im Gegenzug «internationale Interessen propagiert».

Dem neuen Lehrplan wird insgesamt ein wertezersetzendes Weltbild unterstellt. Konkret? Darauf gibt die Website des Vereins Starke Volksschule St.Gallen keine Antwort. Vielleicht im Lehrplan für die Oberstufe, vielleicht in der Abteilung «Räume, Zeiten, Gesellschaften», vielleicht im Kompetenzbereich «Demokratie und Menschenrechte verstehen und sich dafür engagieren»? Darin lautet Ziel 3: «Die Schülerinnen und Schüler können die Schweizer Demokratie erklären und mit anderen Systemen vergleichen.» Staatszersetzend?

Oder im Bereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft»? Hier versteckt sich das aus ewiggestriger Warte umstrittenste Thema: Geschlechterrollen. Eines der Kompetenzziele heisst: «Die Schülerinnen und Schüler kennen Faktoren, die Diskriminierung und Übergriffe begünstigen und reflektieren ihr eigenes Verhalten.» Genderistisch? Näher liegt der Verdacht, dass sich die Lehrplangegner vor informierten und selber denkenden Schülerinnen und Schülern fürchten.

Regierungsrat Stefan Kölliker äusserte sich an der Medienkonferenz moderater, aber unzweideutig: Den Gegnern gehe es offensichtlich darum, mit allen Mitteln und auch mit Falschinformationen Unsicherheit zu schüren. Dabei sei der Lehrplan die zeitgemässe «Grundlage für das Wissen und Können und Handeln unserere nächsten Generationen».

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