«Sie sprengte das appenzellische Mass»
Mit knapp 40, im gleichen Alter wie Margrit Schriber ihre Zweitkarriere als Schriftstellerin gestartet hat, war die Protagonistin ihres neuen Romans längst eine arrivierte Unternehmerin im grossen New York. Maria Antonia Räss (1893–1980) hat sich buchstäblich mit eigenen Händen ein Imperium erschaffen. Unter den berühmten Appenzellerinnen habe Räss zu den exzentrischsten gehört, schreibt Margrit Schriber im Vorwort ihres neuen Romans Die Stickerin. «Sie war tüchtig, klug und eigenwillig. Eine Freundin berühmter Künstler, eine Frau von Welt und Gönnerin der Kirche. Sie hat sich aus dem Nichts zu den Sternen katapultiert.»
Der Aufruhr war jeweils gross, wenn Maria Antonia Räss, «Die reiche Tante in Amerika», die «Crazy-Woman», mit ihrem Wochen zuvor verschifften Cadillac de Ville samt Schwarzem Chauffeur in der alten Heimat einfuhr und im Hotel Hecht in Appenzell abstieg, wo sie natürlich in der Suite residierte und ihre Verwandten in einem wuchtigen Sessel empfing, nach Coco Chanel duftend. Und danach mit dem Taxi nach Paris abrauschte. Räss war überall zuhause, pflegte ein globales Beziehungsnetz. Dabei hätte ihr Leben auch ganz anders aussehen können.
Die Stobete
Margrit Schriber ist eher zufällig auf das Leben dieser bemerkenswerten Frau gestossen, 1980 lag es plötzlich ausgebreitet vor ihr, auf einem Tisch voller Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündeln und einer vernagelten Kiste Dom Pérignon. Dieser Tisch war alles, was Räss hinterlassen hatte, und Schriber, die damals als Notariatsassistentin arbeitete, sollte diese Hinterlassenschaft im Rahmen der Erbteilung Räss’ versammelter Verwandtschaft übergeben. Die Erblasserin wollte darin aber keinen Teilungsakt sehen, sondern eine «Stobete». Danach wartete im Hotel Hecht ein Gala-Diner, bezahlt von der Verstorbenen.
35 Leute haben sich eingefunden, festlich herausgeputzt, denn sie rechneten mit einem ziemlichen Zapfen Geld. Die Erbteilungsstobete war ein denkwürdiger Anlass, der auch den roten Faden des Buchs bildet. Die Geschichte der «Crazy-Woman» habe sie nie mehr losgelassen, erklärt Schriber im Nachwort. Ihr damaliges Protokoll der Erbteilung sei jedoch unbrauchbar gewesen, also habe sie die Lücken anderweitig zu füllen versucht, unter anderem mithilfe von Räss’ Gottenkind Hulda Zellweger, die jahrelang alles über ihre Gotte gesammelt hatte. Als Hulda überraschend starb, war die Geschichte immer noch lückenhaft, also musste Schriber ihr «noch einige Fantasie-Schlenker zufügen».
Kein Märchen
Die Kurzfassung geht ungefähr so: Maria Antonia Räss, die Tochter von Geissbauern auf dem Grüt, kann schon mit vier Jahren die feinste Nadel einfädeln, mit fünf beherrscht sie den Blattstich. Zusammen mit ihren Schwestern trägt sie als Stickerin zum Unterhalt der Familie bei. Mit 16 wird sie in die Gilde der Schaustickerinnen aufgenommen und bereist Europa. Mit 27 verkündet sie: «I go west!» und dampft auf eigene Faust mit dem Schiff nach New York. Dort dauert es nicht lang, bis sie ihr erstes Broderiehaus eröffnet, das wächst und wächst und schon wenige Jahre später im Rockefeller Center an der 5th Avenue seine luxuriösen Tore neueröffnet, an der besten Adresse New Yorks. Räss fungiert aber nicht nur als verlängerter Arm der Appenzeller Stickereikunst in Übersee, sondern erweist sich als vorausschauende Geschäftsfrau und importiert bald auch Broderien aus China, Madeira und Mexiko. Mit 40 führt sie unter dem Label MRA (Maria Räss Antonia) ein globales Imperium.
Buchvernissage:
17. März, 15 Uhr, Hotel Hof Weissbad, Appenzell. Mit Margrit Schriber, Schauspielerin Karin Enzler, dem «Appenzeller Echo» und Landammann Roland Inauen.
In der Langfassung von Schriber wird schnell klar, dass der glorreiche Aufstieg zur Dollar-Millionärin lange nicht so märchenhaft war, obwohl Walt Disney und seine «Fairytales» auf ihrem Weg ebenfalls eine Rolle spielen. Räss erlebt Wirtschaftskrisen und zwei Weltkriege. Sie verliert ihre Schwester und die Liebe ihres Lebens. Sie ist zwar dank ihrer Importware eine wichtige Arbeitgeberin für die Frauen in den Appenzeller Heemeten, muss aber mitansehen, wie ihnen das Stimmrecht versagt bleibt. Sie gelangt aufgrund eines unsäglichen Gerichtsprozesses an den Rand des Ruins. Und sie arbeitet schon lange vor ihrer Einschulung bis zu zwölf Stunden in Mansers Stickereibetrieb, wo der kleinen Fädlerin fast die Füsse abfrieren.
Der letzte Auftritt
«Jeder Auftritt war filmreif», heisst es im Buch über Räss’ Abstecher in die alte Heimat. «Die Besuche kamen einer explodierenden Granate gleich. Sie sprengte das appenzellische Mass.» Das gilt auch für ihren letzten Auftritt, die Erbteilung. Die reiche Tante aus Amerika liegt zwar längst in Eggerstanden auf dem Friedhof, gebettet in teuerstes Holz und überdeckt mit Blumen aus Nizza, sorgt aber immer noch für Aufruhr. Denn ihre Erbschaft bringt so einiges ans Licht…
Schriber verwebt die Stobete mit den Hinterlassenen geschickt mit der Lebensgeschichte von Maria Antonia Räss. Sie bildet den dramaturgischen Bogen und ermöglicht eine Metaebene, die den Roman von herkömmlichen Biografien abhebt. Schriber hüpft in der Zeit vor und zurück, auch im Sprachstil, arbeitet mit O-Tönen, Erinnerungen, poetischen Bildern und historischen Begebenheiten. Wo genau die «Fantasie-Schlenker» nötig waren, bleibt ihr Geheimnis. Und das ist auch gut so, denn die Geschichte von «Miss Räss» ist so oder so fantastisch. Und lesenswert!