, 20. Mai 2015
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Sinnkrise auf dem Velo

Der rasante Dok-Film Cyclique folgt Velokurieren durch Lausannes Strassen – und auch durch ihre Krisen: Wie kommt man von der Sucht Velofahren los? Und ist ein Bürojob wirklich besser?

«Sie haben Herz, Seele, Liebe und Leidenschaft.» So beschreibt ein Mann in Cyclique die Velokuriere. Der rasante Dokumentarfilm – er dauert knapp 70 Minuten – porträtiert die drei Lausanner Kuriere Caroline, Raph und Matila. Zumindest Raph und Caroline haben noch etwas ganz anderes im Bauch: Nämlich drängende Fragen und Angst vor der Zukunft.

Denn Cyclique – ein Leben als Kurier ist ein Film, der sich nicht in erster Linie um die Velokurier-Kultur dreht, sondern vor allem ums Erwachsenwerden und um Sinnkrisen. Und die Frage, wie man etwas hinter sich lassen kann, das man liebt: Für Caroline und Raph, sie seit sieben, er seit neun Jahren am fahren, ist es der Kurierjob. Er definiert ihre Wesen und war zugleich eine Ausrede dafür, sich (noch) keinen «ernsthaften» Job zu suchen. «Wenn ich auf dem Velo bin, habe ich manchmal das Gefühl, zu fliegen», beschreibt Caroline jenen speziellen Moment, den jeder Velofahrer kennt. «Es ist, als würde ich die Welt von oben sehen.»

Der Trailer zum Film:

Eine Droge, von der man nicht wegkommt

Caroline spürt aber auch, dass sie ihr Leben ändern will. «Eine Stimme in mir sagt mir, ich solle mit dem Fahren aufhören. Ich weiss nicht, ob das ein Teufel oder ein Engel ist.» Seit längerem sucht sie einen Job als Journalistin, hat aber auch Angst davor, ihre Tage im Büro verbringen zu müssen. «Das Gefühl von Freiheit, das mir das Velo gibt, macht süchtig», sagt sie. Deswegen kommt es auch zum Streit zwischen Caroline und ihrer Familie: Wieso macht die Tochter, die Schwester nicht vorwärts, sondern bleibt beim Kurierjob kleben?

Der Genfer Filmemacher Frédéric Favre kennt das emotionale Auf und Ab und den stressigen Alltag der Kuriere gut: Er selber war neun Jahre mit dem Velo als Bote unterwegs. «Viele Kuriere vergleichen ihren Beruf mit einer Droge, von der sie sich nicht lösen können», sagt Favre. Seiner Erfahrung verdankt Cyclique auch seine aussergewöhnlichen Bilder: Favre folgte den Kurieren mit der Kamera selber auf dem Velo durch den dichten Stadtverkehr auf den ruppigen Lausanner Hügeln. Die Kamera bleibt so nah am Fahrer und lässt den Zuschauer das Freiheits- und Suchtgefühl empfinden.

Porträt einer verplanten Generation

Oft genug ist der Beruf aber auch einfach Stress: Zeitdruck, Auto-Terror, Regenwetter setzen den Fahrern zu. Auch Raph, ein altgedienter Veteran der Lausanner Velokuriere, sagt: «In letzter Zeit habe ich das Gefühl, ich brenne aus.» (auf französisch schön wörtlich gesagt: Je me grille.)  Tagsüber hetzt Raph mit dem Velo durch die Strassen, danach kifft er in seiner vergammelten WG und feiert die Nacht durch. Aber auch er fühlt sich rast- und ruhelos, will sein Leben ändern: Er plant, nach Montréal abzuhauen, «nur ich, mein Velo und eine Tasche». Doch Raph hat auch viel zu verlieren: Seine Freundin Josephine etwa, in die er sehr verliebt ist. Oder eben das Kurierleben, das ihm noch immer viel gibt. «Sobald ich mich aufs Velo setze, bin ich jemand anders.»

Favre zeichnet mit seinem Film auch ein feines Porträt von zwei Vertretern der oft beschworenen «Generation Y»: Gut ausgebildete Menschen Ende 20, die vor lauter Freiheit die Orientierung verloren haben – und sich lustvoll leidend Sinnfragen und -krisen hingeben. «Was ist Erfolg überhaupt? Und was soll ich nur tun?», sagt Caro in einer Szene.

Schön ist auch, wie offen und ungeschönt die Kuriere vor Favres Kamera reden und leben: Favre hat dabei wohl davon profitiert, dass er seine Darsteller von früher kannte und selber Teil der Kurierszene war und ist.

Raph, der gegen Ende des Films seinen Job hinschmeisst und zu neuen Ufern aufbricht, ist mittlerweile wieder in der Schweiz. Wie der «Bund» in einem Porträt schreibt arbeitet er seit kurzem in Bern als – Velokurier. «Ich will noch lange als Kurier arbeiten», sagt er.

«Cyclique – ein Leben als Kurier» läuft ab Donnerstag, 21. Mai, im Kinok.

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