Der indische Asket und Pazifist Mahatma Gandhi versuchte im frühen 20. Jahrhundert, Indiens Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft alleine durch konsequenten Gewaltverzicht zu erreichen. Für Gandhi war Gewaltfreiheit die einzig richtige Protest- und Widerstandsform gegen die herrschenden Briten. Im Sommer 1947 hatte Gandhi sein Ziel erreicht: Die britische Kolonialherrschaft endete. Gleichzeitig wurde das Land in die beiden Staaten Indien, das hinduistisch geprägt ist, sowie in den neu gegründeten Staat Pakistan geteilt, in dem fortan die muslimische Bevölkerung leben sollte.
Weniger als ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeit und der Teilung wurde Gandhi im Januar 1948 im Garten seines Anwesens von einem hindu-nationalistischen Extremisten ermordet. Sein Attentäter war wütend auf ihn, weil er sich für die Versöhnung zwischen Hindus und Muslimen engagierte.
Ein halbes Jahr nach der Ermordung Gandhis, im Sommer 1948, ist im südlichen Teil Indiens Rajagopal Puthan Veetil, kurz Rajagopal, auf die Welt gekommen. Die Ideen und Philosophien Gandhis und dessen Gewaltlosigkeit sollten sein späteres Leben massgeblich prägen und beeinflussen. Bereits als junger Mann engagiert sich Rajagopal, dessen Vater ein Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit Indiens war, gegen Gewalt und Verbrechen.
Schwerverbrecher lassen sich friedlich entwaffnen
So war Rajagopal bereits in den 1970er-Jahren entscheidend an der gewaltlosen Entwaffnung von mehr als 500 Banditen, sogenannten «Dacoits», beteiligt. Die gewalttätigen Männer übergaben teils an öffentlich inszenierten Zeremonien freiwillig ihre Waffen der Polizei. Ausserdem erklärten die Gesetzlosen, sich wieder friedlich in die Gesellschaft integrieren zu wollen. Es war das erste reale und erfolgreiche Erlebnis von gewaltfreier Konfliktlösung im Leben Rajagopals.
Mohandas Karamchand Gandhi (Mahatma Gandhi 1869–1948): indischer Rechtsanwalt, Publizist, Asket und politischer Aktivist, der sich als Pazifist für die Unabhängigkeitsbewegung einsetzte und zum Vorbild Rajagopals wurde. (Bild: Wikipedia)
Welche Bedeutung Gewaltfreiheit bei der Konfliktlösung zukommt, hat Rajagopal vergangene Woche in Trogen in einem einwöchigen Seminar, der Peace Summer School, vermittelt. Das Seminar wurde von einer generationenübergreifenden Gruppe von Menschen und Aktivist:innen aus dem Raum St.Gallen organisiert. Mehr als 20 interessierte Teilnehmer:innen jeglichen Alters lebten während einer Woche gemeinsam in einem Haus und beschäftigten sich tagsüber mit gewaltfreien Protestformen oder der Frage, welche Rolle Demokratien in Europa zur globalen Friedensbildung beitragen können. Der 77-jährige berichtete auch von seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Friedensaktivist.
Im Gespräch mit Saiten erzählt Rajagopal, wie er 1991 die Organisation Ekta Parishad (Forum der Einheit) gegründet hatte, die sich für Landrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe der indigenen Bevölkerung Indiens einsetzt. Die Bewegung orientiert sich an den Prinzipien von Satyagraha (Wahrhaftigkeit) und Ahimsa (Gewaltlosigkeit) – den Grundpfeilern Gandhis Philosophie.
Märsche als Mittel des gewaltfreien Protests
Um den Anspruch der Bauern und Indigenen auf eigenes Land gegenüber dem indischen Staat durchzusetzen, belebte Rajagopal zu Beginn des neuen Jahrtausends eine Protestform neu, die ebenfalls auf Gandhi zurückgeht. Beim berühmten Salzmarsch im Jahr 1930 marschierte Gandhi mit Menschen aus allen Schichten – Bauern, Studenten und Frauen – zu Fuss 240 Kilometer bis an die Küste von Dandi, um dort symbolisch kleine Mengen Salz herzustellen. Vor der Unabhängigkeit hatte nämlich die britische Kolonialmacht das Monopol auf die Salzherstellung.
Bei der Neuauflage 2006 marschierten etwa 500 Menschen in die Hauptstadt Neu-Delhi, um bei der indischen Regierung ihre Landrechte einzufordern. «Wir haben der Regierung damals gesagt, ‹wenn ihr nicht handelt, kommen wir mit mehr Menschen zurück›», erinnert sich Rajagopal. Tatsächlich wollte die Regierung nicht hören: Als Konsequenz marschierten im folgenden Jahr beim sogenannten Janadesh-Marsch 25’000 Menschen während eines ganzen Monats von Gwalior eine Strecke von 350 Kilometern Richtung Neu-Delhi.
Gandhi (Bildmitte, mit gesenktem Haupt und nacktem Oberkörper) während des Salzmarsches im Jahr 1930. (Bild: Wikipedia)
Eine Demonstration in Bhopal der Friedensbewegung Ekta Parishad. (Bild: Wikipedia)
«Die Menschen schliefen, assen und tanzten auf den Strassen und Autobahnen. Es war ein politisches Festival, es wurde gefeiert und getanzt.» Als Folge des friedlichen Massenprotests setzte die Regierung den Forest Rights Act um, mit dem über eine halbe Million Familien Landrechte erhielten. In den darauf folgenden Jahren organisierte Rajagopals Bewegung Ekta Parishad weitere Märsche für andere politische Anliegen, an denen noch mehr Menschen teilnahmen.
Europas Rolle und die Verantwortung durch Neutralität
Für Rajagopal ist Gewaltfreiheit keine Theorie, sondern eine erlernbare Praxis. In Gesprächen mit Polizisten bei Märschen erlebte er, dass viele nicht wüssten, wie sie auf gewaltfreie Proteste reagieren sollten. «Staaten und die Polizei, insbesondere autoritäre Regime, sind auf gewaltsame Proteste vorbereitet, nicht aber auf gewaltfreie», erklärt er. In Trogen zeigte er, wie die gewaltfreie Methode Menschen helfen kann, Konflikte zu verstehen und zu lösen – in einer Welt voller Gewalt: von Gaza über die Ukraine bis Myanmar.
Staaten würden Milliarden in Militär und Polizei investieren, aber wenig bis nichts in Frieden. «Warum haben wir ein Verteidigungsministerium, aber kein Friedensministerium?», fragt er verständnislos. Weltweit sei in den Köpfen der Menschen die Haltung verankert, Polizei und Armee brächten Frieden. Das sei ein Trugschluss.
Rajagopal sieht Europa in einer besonderen Verantwortung – vor allem die Schweiz. Ihre Neutralität biete einen wertvollen Rahmen für Dialog und Diplomatie. Aber Neutralität bedeutet auch, keine Profite mit Rüstung zu machen. An die Adresse der Schweizer Regierung zitiert Rajagopal Gandhi: «Man kann nicht neutral sein, wenn man in Waffen investiert.» Er fordert von Ländern wie der Schweiz, nicht nur Gastgeberin für Friedensgespräche zu sein, sondern auch aktiv eine Friedenskultur zu fördern. «Wir brauchen keine Rüstungsindustrie, wir brauchen vielmehr eine Friedensindustrie.» Auch die Medien und die Filmindustrie nimmt er in die Pflicht, für die Gewalt lediglich ein Konsumgut sei. «Jedes Medienunternehmen hat einen Kriegsreporter oder eine Kriegsreporterin, aber keine Friedensreporter:innen.»
Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen die Natur
Gewaltfreiheit betrifft für Rajagopal nicht nur Kriege, sondern auch das Verhältnis zur Natur. Die Klimakrise sei eine Folge der systematischen Gewalt an der Erde. Rüstungsindustrie, Ölkonzerne, Minengesellschaften – sie alle hätten mit unglaublicher Gier gehandelt und würden unseren Lebensraum zerstören. Frieden heisse auch: Frieden mit dem Planeten. Es gebe keinen Planet B. «Elon Musk hat mit dem Mars vielleicht einen Planet B gefunden, aber alle anderen müssen auf der Erde leben», so der Aktivist und Sozialarbeiter. Die ökologische Krise sei Teil der Friedensbewegung.
Rajagopal sieht die Schweiz in besonderer Verantwortung. (Bild: Philipp Bürkler)
Auf die Frage, ob eine gewaltfreie Welt eine Utopie sei und überhaupt jemals Realität werde, antwortet er: «Es wird immer Konflikte geben, in der Familie oder in der Gesellschaft, aber die eskalierende Gewalt muss ein Ende haben.» Den Schlüssel für eine friedlichere Welt sieht er in einer neuen globalen Bewusstseinsebene. Die Menschheit müsse erkennen, dass Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen den Planeten nicht zielführend seien. Wenn eine solche Bewusstseinsebene erreicht sei, werde die Welt auch nicht mehr von Verrückten wie Putin oder Trump regiert. «Vielleicht erleben wir das sogar noch in den nächsten Jahrzehnten, also noch zu unseren Lebzeiten», gibt er sich optimistisch und hoffnungsvoll.
Sein Appell: Die Menschen in reichen und demokratischen Ländern müssen den ärmeren und unterdrückten Menschen helfen. Während Menschen in Ländern wie Bangladesch oder Kolumbien mit dem Überleben und der täglichen Nahrungsbeschaffung beschäftigt seien, hätten Schweizer:innen Bildung, Zeit und finanzielle Ressourcen – und damit auch die Pflicht, sich für globale Gerechtigkeit einzusetzen.
Die Gleichgültigkeit des Nordens gegenüber Mensch und Natur müsse aufhören. Gleichgültigkeit sei der Nährboden für Ungerechtigkeit und Gewalt. Nur wer sich engagiere und nicht gleichgültig sei, könne die Welt verändern.