Weltfrieden: Die Menschheit braucht eine neue Bewusstseinsstufe

In Trogen hat der bekannte indische Friedensaktivist Rajagopal während der Peace Summer School Methoden gewaltfreier Protestformen sowie Ideen für ein verstärktes Engagement der Schweiz in der globalen Friedensbewegung vermittelt.

Rajagopal an der Peace Summer School in Trogen. (Bild: Philipp Bürkler)

Der in­di­sche As­ket und Pa­zi­fist Ma­hat­ma Gan­dhi ver­such­te im frü­hen 20. Jahr­hun­dert, In­di­ens Un­ab­hän­gig­keit von der bri­ti­schen Ko­lo­ni­al­herr­schaft al­lei­ne durch kon­se­quen­ten Ge­walt­ver­zicht zu er­rei­chen. Für Gan­dhi war Ge­walt­frei­heit die ein­zig rich­ti­ge Pro­test- und Wi­der­stands­form ge­gen die herr­schen­den Bri­ten. Im Som­mer 1947 hat­te Gan­dhi sein Ziel er­reicht: Die bri­ti­sche Ko­lo­ni­al­herr­schaft en­de­te. Gleich­zei­tig wur­de das Land in die bei­den Staa­ten In­di­en, das hin­du­is­tisch ge­prägt ist, so­wie in den neu ge­grün­de­ten Staat Pa­ki­stan ge­teilt, in dem fort­an die mus­li­mi­sche Be­völ­ke­rung le­ben soll­te.

We­ni­ger als ein hal­bes Jahr nach der Un­ab­hän­gig­keit und der Tei­lung wur­de Gan­dhi im Ja­nu­ar 1948 im Gar­ten sei­nes An­we­sens von ei­nem hin­du-na­tio­na­lis­ti­schen Ex­tre­mis­ten er­mor­det. Sein At­ten­tä­ter war wü­tend auf ihn, weil er sich für die Ver­söh­nung zwi­schen Hin­dus und Mus­li­men en­ga­gier­te.

Ein hal­bes Jahr nach der Er­mor­dung Gan­dhis, im Som­mer 1948, ist im süd­li­chen Teil In­di­ens Ra­jag­o­pal Puthan Ve­etil, kurz Ra­jag­o­pal, auf die Welt ge­kom­men. Die Ideen und Phi­lo­so­phien Gan­dhis und des­sen Ge­walt­lo­sig­keit soll­ten sein spä­te­res Le­ben mass­geb­lich prä­gen und be­ein­flus­sen. Be­reits als jun­ger Mann en­ga­giert sich Ra­jag­o­pal, des­sen Va­ter ein Frei­heits­kämp­fer für die Un­ab­hän­gig­keit In­di­ens war, ge­gen Ge­walt und Ver­bre­chen.

Schwer­ver­bre­cher las­sen sich fried­lich ent­waff­nen

So war Ra­jag­o­pal be­reits in den 1970er-Jah­ren ent­schei­dend an der ge­walt­lo­sen Ent­waff­nung von mehr als 500 Ban­di­ten, so­ge­nann­ten «Da­co­its», be­tei­ligt. Die ge­walt­tä­ti­gen Män­ner über­ga­ben teils an öf­fent­lich in­sze­nier­ten Ze­re­mo­nien frei­wil­lig ih­re Waf­fen der Po­li­zei. Aus­ser­dem er­klär­ten die Ge­setz­lo­sen, sich wie­der fried­lich in die Ge­sell­schaft in­te­grie­ren zu wol­len. Es war das ers­te rea­le und er­folg­rei­che Er­leb­nis von ge­walt­frei­er Kon­flikt­lö­sung im Le­ben Ra­jag­o­pals.

Mohandas Karamchand Gandhi (Mahatma Gandhi 1869–1948): indischer Rechtsanwalt, Publizist, Asket und politischer Aktivist, der sich als Pazifist für die Unabhängigkeitsbewegung einsetzte und zum Vorbild Rajagopals wurde. (Bild: Wikipedia)

Wel­che Be­deu­tung Ge­walt­frei­heit bei der Kon­flikt­lö­sung zu­kommt, hat Ra­jag­o­pal ver­gan­ge­ne Wo­che in Tro­gen in ei­nem ein­wö­chi­gen Se­mi­nar, der Peace Sum­mer School, ver­mit­telt. Das Se­mi­nar wur­de von ei­ner ge­ne­ra­tio­nen­über­grei­fen­den Grup­pe von Men­schen und Ak­ti­vist:in­nen aus dem Raum St.Gal­len or­ga­ni­siert. Mehr als 20 in­ter­es­sier­te Teil­neh­mer:in­nen jeg­li­chen Al­ters leb­ten wäh­rend ei­ner Wo­che ge­mein­sam in ei­nem Haus und be­schäf­tig­ten sich tags­über mit ge­walt­frei­en Pro­test­for­men oder der Fra­ge, wel­che Rol­le De­mo­kra­tien in Eu­ro­pa zur glo­ba­len Frie­dens­bil­dung bei­tra­gen kön­nen. Der 77-jäh­ri­ge be­rich­te­te auch von sei­ner jahr­zehn­te­lan­gen Er­fah­rung als Frie­dens­ak­ti­vist.

Im Ge­spräch mit Sai­ten er­zählt Ra­jag­o­pal, wie er 1991 die Or­ga­ni­sa­ti­on Ek­ta Pa­ris­had (Fo­rum der Ein­heit) ge­grün­det hat­te, die sich für Land­rech­te, so­zia­le Ge­rech­tig­keit und po­li­ti­sche Teil­ha­be der in­di­ge­nen Be­völ­ke­rung In­di­ens ein­setzt. Die Be­we­gung ori­en­tiert sich an den Prin­zi­pi­en von Sa­tyag­ra­ha (Wahr­haf­tig­keit) und Ahim­sa (Ge­walt­lo­sig­keit) – den Grund­pfei­lern Gan­dhis Phi­lo­so­phie.

Mär­sche als Mit­tel des ge­walt­frei­en Pro­tests

Um den An­spruch der Bau­ern und In­di­ge­nen auf ei­ge­nes Land ge­gen­über dem in­di­schen Staat durch­zu­set­zen, be­leb­te Ra­jag­o­pal zu Be­ginn des neu­en Jahr­tau­sends ei­ne Pro­test­form neu, die eben­falls auf Gan­dhi zu­rück­geht. Beim be­rühm­ten Salz­marsch im Jahr 1930 mar­schier­te Gan­dhi mit Men­schen aus al­len Schich­ten – Bau­ern, Stu­den­ten und Frau­en – zu Fuss 240 Ki­lo­me­ter bis an die Küs­te von Dan­di, um dort sym­bo­lisch klei­ne Men­gen Salz her­zu­stel­len. Vor der Un­ab­hän­gig­keit hat­te näm­lich die bri­ti­sche Ko­lo­ni­al­macht das Mo­no­pol auf die Salz­her­stel­lung.

Bei der Neu­auf­la­ge 2006 mar­schier­ten et­wa 500 Men­schen in die Haupt­stadt Neu-De­lhi, um bei der in­di­schen Re­gie­rung ih­re Land­rech­te ein­zu­for­dern. «Wir ha­ben der Re­gie­rung da­mals ge­sagt, ‹wenn ihr nicht han­delt, kom­men wir mit mehr Men­schen zu­rück›», er­in­nert sich Ra­jag­o­pal. Tat­säch­lich woll­te die Re­gie­rung nicht hö­ren: Als Kon­se­quenz mar­schier­ten im fol­gen­den Jahr beim so­ge­nann­ten Ja­na­desh-Marsch 25’000 Men­schen wäh­rend ei­nes gan­zen Mo­nats von Gwa­li­or ei­ne Stre­cke von 350 Ki­lo­me­tern Rich­tung Neu-De­lhi.

Gandhi (Bildmitte, mit gesenktem Haupt und nacktem Oberkörper) während des Salzmarsches im Jahr 1930. (Bild: Wikipedia)

Eine Demonstration in Bhopal der Friedensbewegung Ekta Parishad. (Bild: Wikipedia)

«Die Men­schen schlie­fen, as­sen und tanz­ten auf den Stras­sen und Au­to­bah­nen. Es war ein po­li­ti­sches Fes­ti­val, es wur­de ge­fei­ert und ge­tanzt.» Als Fol­ge des fried­li­chen Mas­sen­pro­tests setz­te die Re­gie­rung den Fo­rest Rights Act um, mit dem über ei­ne hal­be Mil­li­on Fa­mi­li­en Land­rech­te er­hiel­ten. In den dar­auf fol­gen­den Jah­ren or­ga­ni­sier­te Ra­jag­o­pals Be­we­gung Ek­ta Pa­ris­had wei­te­re Mär­sche für an­de­re po­li­ti­sche An­lie­gen, an de­nen noch mehr Men­schen teil­nah­men.

Eu­ro­pas Rol­le und die Ver­ant­wor­tung durch Neu­tra­li­tät

Für Ra­jag­o­pal ist Ge­walt­frei­heit kei­ne Theo­rie, son­dern ei­ne er­lern­ba­re Pra­xis. In Ge­sprä­chen mit Po­li­zis­ten bei Mär­schen er­leb­te er, dass vie­le nicht wüss­ten, wie sie auf ge­walt­freie Pro­tes­te re­agie­ren soll­ten. «Staa­ten und die Po­li­zei, ins­be­son­de­re au­to­ri­tä­re Re­gime, sind auf ge­walt­sa­me Pro­tes­te vor­be­rei­tet, nicht aber auf ge­walt­freie», er­klärt er. In Tro­gen zeig­te er, wie die ge­walt­freie Me­tho­de Men­schen hel­fen kann, Kon­flik­te zu ver­ste­hen und zu lö­sen – in ei­ner Welt vol­ler Ge­walt: von Ga­za über die Ukrai­ne bis My­an­mar.

Staa­ten wür­den Mil­li­ar­den in Mi­li­tär und Po­li­zei in­ves­tie­ren, aber we­nig bis nichts in Frie­den. «War­um ha­ben wir ein Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um, aber kein Frie­dens­mi­nis­te­ri­um?», fragt er ver­ständ­nis­los. Welt­weit sei in den Köp­fen der Men­schen die Hal­tung ver­an­kert, Po­li­zei und Ar­mee bräch­ten Frie­den. Das sei ein Trug­schluss.

Ra­jag­o­pal sieht Eu­ro­pa in ei­ner be­son­de­ren Ver­ant­wor­tung – vor al­lem die Schweiz. Ih­re Neu­tra­li­tät bie­te ei­nen wert­vol­len Rah­men für Dia­log und Di­plo­ma­tie. Aber Neu­tra­li­tät be­deu­tet auch, kei­ne Pro­fi­te mit Rüs­tung zu ma­chen. An die Adres­se der Schwei­zer Re­gie­rung zi­tiert Ra­jag­o­pal Gan­dhi: «Man kann nicht neu­tral sein, wenn man in Waf­fen in­ves­tiert.» Er for­dert von Län­dern wie der Schweiz, nicht nur Gast­ge­be­rin für Frie­dens­ge­sprä­che zu sein, son­dern auch ak­tiv ei­ne Frie­dens­kul­tur zu för­dern. «Wir brau­chen kei­ne Rüs­tungs­in­dus­trie, wir brau­chen viel­mehr ei­ne Frie­dens­in­dus­trie.» Auch die Me­di­en und die Film­in­dus­trie nimmt er in die Pflicht, für die Ge­walt le­dig­lich ein Kon­sum­gut sei. «Je­des Me­di­en­un­ter­neh­men hat ei­nen Kriegs­re­por­ter oder ei­ne Kriegs­re­por­te­rin, aber kei­ne Frie­dens­re­por­ter:in­nen.»

Ge­walt ge­gen Men­schen und Ge­walt ge­gen die Na­tur

Ge­walt­frei­heit be­trifft für Ra­jag­o­pal nicht nur Krie­ge, son­dern auch das Ver­hält­nis zur Na­tur. Die Kli­ma­kri­se sei ei­ne Fol­ge der sys­te­ma­ti­schen Ge­walt an der Er­de. Rüs­tungs­in­dus­trie, Öl­kon­zer­ne, Mi­nen­ge­sell­schaf­ten – sie al­le hät­ten mit un­glaub­li­cher Gier ge­han­delt und wür­den un­se­ren Le­bens­raum zer­stö­ren. Frie­den heis­se auch: Frie­den mit dem Pla­ne­ten. Es ge­be kei­nen Pla­net B. «Elon Musk hat mit dem Mars viel­leicht ei­nen Pla­net B ge­fun­den, aber al­le an­de­ren müs­sen auf der Er­de le­ben», so der Ak­ti­vist und So­zi­al­ar­bei­ter. Die öko­lo­gi­sche Kri­se sei Teil der Frie­dens­be­we­gung.

Rajagopal sieht die Schweiz in besonderer Verantwortung. (Bild: Philipp Bürkler)

Auf die Fra­ge, ob ei­ne ge­walt­freie Welt ei­ne Uto­pie sei und über­haupt je­mals Rea­li­tät wer­de, ant­wor­tet er: «Es wird im­mer Kon­flik­te ge­ben, in der Fa­mi­lie oder in der Ge­sell­schaft, aber die es­ka­lie­ren­de Ge­walt muss ein En­de ha­ben.» Den Schlüs­sel für ei­ne fried­li­che­re Welt sieht er in ei­ner neu­en glo­ba­len Be­wusst­seins­ebe­ne. Die Mensch­heit müs­se er­ken­nen, dass Ge­walt ge­gen Men­schen und Ge­walt ge­gen den Pla­ne­ten nicht ziel­füh­rend sei­en. Wenn ei­ne sol­che Be­wusst­seins­ebe­ne er­reicht sei, wer­de die Welt auch nicht mehr von Ver­rück­ten wie Pu­tin oder Trump re­giert. «Viel­leicht er­le­ben wir das so­gar noch in den nächs­ten Jahr­zehn­ten, al­so noch zu un­se­ren Leb­zei­ten», gibt er sich op­ti­mis­tisch und hoff­nungs­voll.

Sein Ap­pell: Die Men­schen in rei­chen und de­mo­kra­ti­schen Län­dern müs­sen den är­me­ren und un­ter­drück­ten Men­schen hel­fen. Wäh­rend Men­schen in Län­dern wie Ban­gla­desch oder Ko­lum­bi­en mit dem Über­le­ben und der täg­li­chen Nah­rungs­be­schaf­fung be­schäf­tigt sei­en, hät­ten Schwei­zer:in­nen Bil­dung, Zeit und fi­nan­zi­el­le Res­sour­cen – und da­mit auch die Pflicht, sich für glo­ba­le Ge­rech­tig­keit ein­zu­set­zen.

Die Gleich­gül­tig­keit des Nor­dens ge­gen­über Mensch und Na­tur müs­se auf­hö­ren. Gleich­gül­tig­keit sei der Nähr­bo­den für Un­ge­rech­tig­keit und Ge­walt. Nur wer sich en­ga­gie­re und nicht gleich­gül­tig sei, kön­ne die Welt ver­än­dern.

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